Otfried Kotzian: Herkunft und frühe Biographie des
Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler
Renata Schumann: Die Oberschlesier auf der Suche nach
ihrer Identität
Peter Mast: Monika von Hirschheydt steckt den baltischen
Lebenskreis ab
Tagung der AG Heimatstuben NRW in Mettmann
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Julia aus der Wiesche: Ausstellung Der Kreml in
Bonn
Herbert Hupka: Zum 100. Geburtstag des
Arbeiterdichters Gerhart Baron
Günther Ott: RADU Anton Maier zum 70. Geburtstag
Dieter Göllner: Gemälde von Pranas Domaitis in
Düsseldorf
KK-Notizbuch
Zeitgeschichte und deutsche Zeitungen
Herkunft und frühe Biographie Horst Köhlers, des Kandidaten für das Amt des
Bundespräsidenten, geraten den Medien zum Mysterium
Da wurde die Medienwelt in Deutschland kalt erwischt. Ein Kandidat, parteipolitisch
weitgehend unbekannt, weltweit dagegen als Präsident des Internationalen Währungsfonds
angesehen, soll die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft im höchsten Staatsamt
repräsentieren. Dieser Horst Köhler sagt von sich im Spiegel (Nr. 11/8. 3.
2004): Ja, in meiner Biographie spiegelt sich ziemlich viel deutsche Geschichte
wider.
Dies ist wohl bei mehr als einem Drittel der deutschen Bevölkerung der Fall, diese
Spiegelung deutscher Geschichte in der eigenen Biographie, wenn es sich um
Vertriebene, Flüchtlinge, Umsiedler, Deportierte, Aussiedler oder Spätaussiedler
handelt. Die Besonderheit besteht nur darin, daß diese Biographien und diese Abschnitte
der deutschen Geschichte zu wenig reflektiert und oftmals mit den falschen
Begriffen beschrieben werden. Da fragt der Spiegel nach den Rätseln
Ihrer Biographie, konkretisiert: weshalb Sie, ein Kind rumänischer Eltern,
nahe der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze geboren wurden, und verwechselt dabei
wie es bei uns immer wieder geschieht Staatsangehörigkeit und
Volkszugehörigkeit. Natürlich war Horst Köhler kein Kind rumänischer
Eltern, sondern ein Kind deutscher Eltern. Genauer würden wir formulieren:
bessarabiendeutscher Eltern, aber wer weiß heute noch, wo Bessarabien liegt.
Es gibt keinen Staat Bessarabien, dafür einen mit dem Namen Moldawien, und
der liegt zum größten Teil mit Ausnahme der sogenannten völkerrechtlich nicht
anerkannten Dnjestr-Republik auf dem Gebiet Bessarabiens.
Versuchen wir es mit einer möglichst exakten Beschreibung: Unter Bessarabien
versteht man jene, mehrheitlich von Rumänen bewohnte Zwischenstromlandschaft zwischen den
Flüssen Pruth und Dnjestr. Im Norden an der Grenze zur Bukowina, etwa auf der Linie
Hotin-Hertza in der Moldau, erreicht Bessarabien eine Breite von 55,5 Kilometern, im
Süden beträgt die Entfernung zwischen Reni, der Mündung des Pruth in die Donau, und
Akkerman, der Mündung des Dnjestr ins Schwarze Meer, rund 200 Kilometer. Bessarabien
besitzt eine Fläche von 44 422 Quadratkilometern und war zum Zeitpunkt der Besiedlung mit
Deutschen das kleinste Gouvernement im Zarenreich Rußland.
Aus diesem Bessarabien stammen also die Eltern des Kandidaten für das Amt des
Bundespräsidenten, Horst Köhler. Gegenwärtig bildet der größte Teil Bessarabiens das
Staatsgebiet der Moldawischen Republik, der Südteil jedoch, der sogenannte Budschak,
gehört zur Ukraine. Interessanterweise lebte die Familie Köhler bis zur Umsiedlung 1940
nicht in der Südregion Bessarabiens, in der die Mehrheit der Bessarabiendeutschen zu
Hause war, sondern in Nordbessarabien, in Ryschkanowka im Kreis Belz, etwa 40 Kilometer in
nördlicher Richtung von der Kreishauptstadt entfernt. Die Gemeinde Ryschkanowka wurde
erst ab 1860, andere Angaben sprechen von 1865, durch deutsche Siedler aus der Bukowina
und Galizien, die österreichische Staatsangehörige waren, besiedelt. Der größte
Grundbesitzer Nordbessarabiens, George Rischkan (rum. Riºcan), hatte die Deutschen für
seine Güter angeworben und ihnen Pachtland zur Verfügung gestellt. Während des Ersten
Weltkriegs hatte der Ort Ryschkanowka unter den Schikanen der russischen Behörden zu
leiden: Die aus Galizien stammenden deutschen Siedler wurden nach Österreich, also ins
Ausland, abgeschoben, die bereits länger in Bessarabien ansässigen nach Sibirien
verschleppt. Bei ihrer Rückkehr 1920 fanden sie ihre Höfe von Russen besetzt und mußten
um deren Rückgabe schließlich vor den rumänischen Behörden kämpfen. Nach dem
rumänischen Agrarreformgesetz von 1922 erhielt jeder Hof bis zu sechs Hektar Grund. Die
Erträge konnten die kinderreichen Familien kaum ernähren. 1940 beim Erlöschen als
deutsche Ortschaft umfaßte die Gemeinde nur noch 307 Hektar Ackerland und war von 374
Menschen bewohnt, darunter 22 nichtdeutschen Personen.
Nach Angaben von Ingo Rüdiger Isert, dem Vorsitzenden des Heimatmuseums der Deutschen aus
Bessarabien in Stuttgart, kommt Eduard Köhler, der Vater des Präsidentschaftskandidaten,
aus Ryschkanowka. Er war allerdings aus Gudjahs dorthin zugewandert. Die Mutter Elisabeth
Köhler, geborene Bernhard, ist dagegen in Ryschkanowka zur Welt gekommen. Beide
Elternteile sind Jahrgang 1904. Die Siebenbürgische Zeitung verlegte den
Wohnsitz der Familie Köhler in die Nähe von Glückstal (Ryschkanowka bei
Glückstal), was zu weiteren Verwechslungen Anlaß war. Denn die Gemeinde
Glückstal, eine klassische bessarabiendeutsche Tochtersiedlung, entstand erst im 20.
Jahrhundert und existierte nur von 1929 bis zur Umsiedlung. Die Chronik des Lehrers Otto
Krüger endet bereits im Jahre 1939. Glückstal hatte also alles andere als Glück, und es
lag mindestens 40 km von der Kreisstadt Belz und 40 km von Ryschkanowka entfernt.
Da es jedoch ein glücklicheres Glückstaler Gebiet jenseits des Dnjestr im
schwarzmeerdeutschen Siedlungsraum Odessa gab mit den Gemeinden Bergdorf, Neudorf und
Glückstal, war die Verwirrung perfekt. Nun machten sich die Rußlanddeutschen Hoffnungen,
Herrn Köhler als ihren Landsmann reklamieren zu können. Das könnte er nur sein, wenn
man die Bessarabiendeutschen als eine rußlanddeutsche Siedlergruppe begreift, was sie von
1812 bis 1919 wohl auch war, als das Gebiet zu Rußland gehörte. Denn es waren russische
Zaren, vor allem Alexander I., der in einem Manifest vom 29. November 1813 deutsche
Siedler für Bessarabien anwerben ließ.
Wie ist dann die Süddeutsche Zeitung (Nr. 54, 5. 3. 2004) zu verstehen,
welche darüber berichtete, daß Köhler als Kind rumäniendeutscher Eltern 1943 auf
der Flucht in Polen geboren worden war? Die Frankfurter Allgemeine
Zeitung (Nr. 55, 5. 3. 2004) treibt die Verwirrung über die Herkunft noch auf die
Spitze, indem sie berichtet, daß er 1943 in dem polnischen Dorf Skierbieszów
geboren sei, wohin es seine Eltern, Siebenbürgersachsen (in einem Wort
geschrieben!) aus Rumänien, in den Kriegswirren verschlagen hatte. Die
Siebenbürger Sachsen richteten daraufhin in ihrem Internet-Auftritt ein
Diskussionsforum ein mit dem Titel Ist unser nächster Bundespräsident
ein Siebenbürger? Nachdem Horst Köhler im Spiegel auf die Frage
Waren Ihre Eltern als Volksdeutsche umgesiedelt worden? bereits geantwortet
hatte: Meine Eltern waren, wie es damals hieß, Volksdeutsche aus Bessarabien,
kam ein Siebenbürger Sachse als Bundespräsident nicht mehr in Frage, was zu
Enttäuschungen im Internet-Diskussionsforum führte. Es bleibt jedoch zu vermerken, daß
Gerhard Spörl vom Spiegel immerhin etwas von Umsiedlungen gehört
hatte und ihm wie von rumänischen Zeitungen gemeldet und in Rundfunk und Fernsehen
in Deutschland weiterverbreitet eine Flucht aus der Gegend um Kronstadt
in Siebenbürgen in den Jahren 1941-1943 unwahrscheinlich vorkam bzw. unerklärbar war.
Ein kleiner Trost sei den Siebenbürger Sachsen vermittelt. Auf Grund der schlechten
Lebensbedingungen in Ryschnianowka ging Horst Köhlers Vater Eduard Köhler in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Arbeit ins Burzenland nach Siebenbürgen.
Er war dort als Vorarbeiter in einem Sägewerk tätig. So sind zwei Geschwister von Horst
Köhler in den Jahren 1930 und 1933 in Komandu/Comandãu, bei Kronstadt im Penteleugebirge
gelegen, geboren. Die Chance, daß Horst Köhler hätte Siebenbürger Sachse werden
können, bestand zumindest.
Horst Köhler beendete die Antwort seiner Herkunft mit dem Hinweis: Meine Eltern
waren ... Volksdeutsche aus Bessarabien, die vertrieben wurden. Dies trifft
allerdings nicht zu. Die Bessarabiendeutschen wurden aus Bessarabien nicht vertrieben. Die
rechtliche Grundlage der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien war nach der Besetzung
des Gebietes am 26. Juni 1940 durch sowjetische Truppen und die damit verbundene Annexion
dieses Teiles des rumänischen Staatsgebietes die Deutsch-Sowjetrussische
Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von
Bessarabien und der nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich vom 5. September
1940. Den Bessarabiendeutschen blieb wohl keine andere Wahl, als den Wünschen der
Diktatoren Hitler und Stalin nachzukommen, wollten sie nicht erneut wie nach der
russischen Revolution 1917/18 unter kommunistischen und russischen Einfluß geraten.
Insgesamt 93 342 Bessarabiendeutsche wurden heim ins Reich geholt und
zunächst in verschiedenen Regionen des Großdeutschen Reiches in Lagern untergebracht.
Da der größte Teil der Bessarabiendeutschen auf dem Lande lebte und 83 Prozent als
selbständige Landwirte tätig waren, wollten sie auch in der in Aussicht gestellten
neuen Heimat ihre Felder bestellen und arbeiten. Nun setzten jene Maßnahmen
ein, die Heinrich Himmler als Reichsführer SS und Kommissar für die Festigung
deutschen Volkstums im Osten von seinen Stabsstellen erarbeiten ließ: Der
Generalplan Ost, mit dem die besetzten und ins Großdeutsche Reich
eingegliederten Ostgebiete germanisiert werden sollten, wurde zum
Generalsiedlungsplan erweitert und durch Grundsätze, Anordnungen und
Richtlinien mit dem Titel Der Menscheneinsatz im Dezember 1940 ergänzt.
Diese Politik war es, die Horst Köhler so charakterisierte: Nazi-Deutschland hat
sie (die Volksdeutschen aus Bessarabien) veranlaßt, sich in Polen anzusiedeln.
(Der Spiegel, Nr. 11/8. 3. 2004) Am 1. Juni 1944 lebten von den 93 342
registrierten Umsiedlern aus Bessarabien 42 901 in Danzig-Westpreußen und 41 603 im Gau
Wartheland. Die Ansiedlung erfolgte jedoch im wesentlichen im Jahre 1941. Im Vermerk
von Alexander Dolezalek, Planungsabteilung des SS-Ansiedlungsstabes Litzmannstadt (Lodz),
über den Generalsiedlungsplan für die eingegliederten Ostgebiete vom 19. August
1941 ist von der in ungeheuer überstürztem Tempo durchgeführten Ansiedlung der
Galizien- und Wolhyniendeutschen die Rede, welche es unmöglich gemacht hat,
Grobplan und Generalsiedlungsplan laufend zu vervollständigen. Am 18. Oktober
1941 forderte die Planungsabteilung der SS- Ansiedlungsstäbe Litzmannstadt und Posen eine
Neuauflage der Wer-Wohin-Statistik für die Bessarabien- und
Buchenlanddeutschen.
Nun nähern wir uns langsam, aber noch längst nicht sicher, dem Geburtsort
unseres Kandidaten für das Bundespräsidentenamt Horst Köhler: Skierbieszów. Wie kann
es sein, daß er im damaligen Generalgouvernement im Osten des heutigen Polen
geboren wurde, wenn die wichtigsten Ansiedlungsgebiete der Bessarabiendeutschen in
Danzig-Westpreußen und im Wartheland lagen? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu
können, ist eine genaue Lokalisierung des Ortes Skierbieszów notwendig. Er liegt im sog.
Cholmer und Lubliner Land im Kreis Samosch (poln. Zamosc). Bei der polnischen
Volkszählung 1931 waren 15 865 Deutsche in der Woiwodschaft Lublin belegt. Der
Wolhynische Volkskalender für das Jahr 1938 berichtet über die
wirtschaftliche Lage der Lubliner und der Cholmer Deutschen: Wirtschaftlich geht es
den Cholmer Deutschen heute leidlich, Wohn- und Wirtschaftsgebäude sind wieder aufgebaut
(nach der Deportation der Deutschen durch die russischen Behörden während des Ersten
Weltkrieges), auch das Land ist wieder in Ordnung. Obwohl sich dort deutsches
Brauchtum bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten konnte, wurde die deutsche Sprache in der
Schule des Cholmer Landes von den polnischen Regierungen der Zwischenkriegszeit massiv
diskriminiert, Deutsch als Unterrichtssprache abgeschafft. Von Mai bis Oktober 1940
verfügten die NS-Behörden die Umsiedlung von etwa 31 000 Cholmer Deutschen. 25 000
wurden im westliche Gau Wartheland angesiedelt, etwa 1000 in Danzig-Westpreußen und 6000
verblieben im Generalgouvernement. Mit diesen Deutschen des Cholmer und Lubliner Landes
hat Horst Köhler nichts zu tun.
Im Generalgouvernement sollte es nach Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion noch zu
einer kuriosen Situation kommen und diesem Kuriosum hat Horst Köhler seinen
Geburtsort zu verdanken. Die NS-Dienststellen dachten mittlerweile anders über die
Zukunft des Lubliner Landstrichs, aus dem Aussiedlungsgebiet sollte ein Ansiedlungsgebiet
werden. Der Grund hierfür ist in der außerordentlichen Fruchtbarkeit des dortigen
Gebietes mit Schwarzerdeböden bester Qualität zu sehen. Man begann mit der zwangsweisen
Konzentration der verbliebenen deutschen Bevölkerung des Distrikts Lublin im Kreis
Samosch, der zum ersten deutschen Siedlungsbereich im Generalgouvernement erklärt wurde.
Dabei handelte es sich um eine allgemeine Anordnung des Reichsführers SS
Heinrich Himmler vom 12. November 1942. Bis zum Sommer 1943 sollten die polnischen
Bewohner der Stadt und des Kreises Samosch vertrieben und das Gebiet deutsch besiedelt
werden. Dies erklärt die Aussage Köhlers, warum er im ersten Jahr der deutschen
Besiedlung (Der Spiegel, Nr. 11/8. 3. 2004, S. 43) dort geboren wurde,
denn die Ansiedlung der Mehrheit der Bessarabiendeutschen lag schon zwei Jahre zurück.
Im Juli 1943, also wenige Monate nach dem Geburtsdatum Köhlers am 22. 2. 1943, befanden
sich im Kreis Samosch des Distrikts Lublin 7669 neu angesiedelte Deutsche. Davon stammten
3885 aus Bessarabien, 1994 aus Bosnien, 585 aus Rußland, 430 aus (Alt-)Rumänien, 330 aus
Serbien, 211 aus Bulgarien, 92 aus der Dobrudscha, 52 aus Estland und Lettland, 41 aus der
Nordbukowina, 27 aus der Südbukowina und 22 aus Wolhynien.
Der Geburtsort von Horst Köhler hatte von den NS-Behörden einen deutschen Namen
erhalten. Skierbieszów hieß nun Heidenstein. Der Gouverneur des Distrikts Warschau, Dr.
Ludwig Fischer, berichtet von einer Inspektionsreise im Kreis Samosch am 9./10. Mai 1943,
daß in einem der neuen Hauptdörfer mit Namen Heidenstein (poln. Skierbieszów) 31
Bessarabiendeutsche angesiedelt wurden. Darunter muß die Familie Köhler gewesen sein.
Wichtig erscheint ihm für die Bessarabiendeutschen, daß sie vor der Umsiedlung ins
Generalgouvernement bereits in Bessarabien und anderswo im Volkstumskampf gestanden haben
und daß ihnen nun erneut die Aufgabe zufalle, Pioniere des Deutschtums zu sein in einem
Raum, der einstweilen noch zum größten Teil von fremdem Volkstum besetzt sei, der aber
deutsch würde... An diesem Bericht zeigt sich deutlich, wie die Umsiedlerfamilien
durch die NS-Dienststellen manipuliert und instrumentalisiert wurden. Auch die
Bessarabiendeutschen dienten dem höheren Ziel der nationalsozialistischen
Siedlungspolitik im Osten.
Die Cholmer und Lubliner Deutschen, die im Kreis Samosch konzentriert und durch Neusiedler
im Distrikt Lublin darunter die Familie Köhler ergänzt worden waren,
mußten das Gebiet am 18. März 1944 verlassen, weil die Front näherrückte. Die Regelung
galt nur für Frauen, Kinder und alte Leute. Die wehrfähigen Männer blieben im Lubliner
Bezirk zurück und wurden von dort erst am 19./20. Juli 1944 abgezogen. Das erklärt,
warum die Mutter von Horst Köhler allein mit fünf Kindern geflohen ist. Denn
am 22. Juli 1944 konnte in Cholm das Juli-Manifest des Polnischen Komitees der
Nationalen Befreiung veröffentlicht werden, das in Richtung einer kommunistischen
Herrschaft im neuen polnischen Staat deutete. Immerhin war dieser Tag bis 1989 offizieller
Nationalfeiertag in Polen. Die Familie Köhler dürfte bis Januar 1945, als sie zum
zweiten Male auf die Flucht gehen mußte, im Lager Litzmannstadt (Lodz) im Warthegau
aufgefangen worden sein. Belegt ist jedenfalls, daß das Gebiet um den Geburtsort von
Horst Köhler, Skierbieszów, bereits im Juli 1944 von sowjetischen Truppen eingenommen
worden war und im Januar 1945 als Bereitstellungsraum für den am 12. Januar 1945 über
die Weichsel vorgetragenen Vorstoß der sowjetischen Truppen diente.
Im Januar 1945 ist meine Mutter mit fünf Kindern wir waren insgesamt acht
in den Westen geflohen, bis nach Markkleeberg im Leipziger Land. Dort haben wir
meine Eltern waren Bauern bis Ostern 1953 gelebt. Da sind wir wieder
geflohen, sagt Horst Köhler im Spiegel-Interview. Er sagt es so, als
sei sein Flüchtlingsschicksal zum prägenden Moment seines Lebens geworden. Ein
Schicksal, über das sein weiteres Leben weit hinausgegriffen hat, aber diese aktuelle
Geschichte wird von der deutschen und internationalen Medienwelt erzählt!
Ortfried Kotzian (KK)
Nachdruck nur mit Genehmigung des Verfassers.
Dr. Ortfried Kotzian, Direktor des Münchner Hauses des Deutschen Ostens, ist der Autor
des Buches Die Umsiedler. Die Deutschen aus Westwolhynien, Galizien, der Bukowina,
Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine. Dieser letzte Band der
von Wilfried Schlau herausgegebenen OKR-Studienbuchreihe Vertreibungsgebiete und
vertriebene Deutsche wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres bei Langen Müller
erscheinen.
Dankwart Reißenberger gestorben
Am 21. März 2004 verstarb in Euskirchen der Ehrenvorsitzende der
Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Träger des
Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, Dankwart Reißenberger. Der in Hermannstadt am 4.
November 1921 geborene Journalist war schon in den ersten Jahren des Bestehens der
Landsmannschaft in deren Bundesvorstand aktiv und hat seine vielfältigen Kontakte zu
Politik und Medien immer wieder genutzt, die Anliegen der Siebenbürger Sachsen bekannt zu
machen und für deren Unterstützung zu werben. Keine menschliche oder Sachfrage war ihm
fremd, und nicht nur die Siebenbürger Sachsen verdanken ihm viel. (KK)
Zäher Dunst der Ideologien
Mühsam arbeiten sich die Oberschlesier aus den Propagandalügen der
Vergangenheit heraus und suchen nach ihrer Identität
Seit der Wende macht sich die Autonomiebewegung der Schlonsaken in Oberschlesien
zunehmend bemerkbar. Nachdem die totalitären Verbote gefallen waren, begann man
öffentlich Stellung zu nehmen gegen die Verwahrlosung und Verwüstung des Landes. Die
Einheimischen, die sich noch immer ihrem Land verbunden fühlten und nicht ausreisen
wollten, beklagten den bisherigen Egoismus des zentralistisch ausgerichteten polnischen
Staates, der die ökonomischen Verheerungen der gesamten Industrielandschaft, die
gigantische, weltweit einmalige ökologische Katastrophe zu verantworten hat.
Oberschlesien war fast unbewohnbar geworden .
Die Oberschlesier selbst besannen sich auf Autonomieversprechungen des polnischen Staates
in den zwanziger Jahren, als der Kernteil der oberschlesischen Industrieregion aufgrund
des Versailler Vertrags unter polnische Oberherrschaft gestellt wurde und Wojciech
Korfanty noch ihr Tribun war. Man war bestrebt, die Verantwortung für das Land zu
übernehmen. Eine oberschlesische Identität wurde postuliert. Doch die ist schwer zu
definieren. Denn jetzt wirken sich die durch das totalitäre Regime verordneten
Geschichtsfälschungen aus. Unkenntnis der eigenen Geschichte kommt zum Vorschein. Die
Oberschlesier, die sich Schlonsaken nennen, wissen nicht recht, wer sie eigentlich sind.
Oft reden auch populäre Wortführer an der Wahrheit vorbei, weil sich alle mühsam aus
dem Dunst der Propagandalügen herausarbeiten müssen.
Dennoch oder eben deshalb wandten sich die Schlonsaken an die Warschauer Regierung,
um die Zulassung einer oberschlesischen Nationalität zu bewirken. Man postulierte, eine
nationale Minderheit innerhalb Polens zu sein. Das Gesuch wurde abgelehnt. Danach
scheiterten die Schlonsaken auch mit ihrer Klage vor der Großen Kammer des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Dazwischen lag eine allgemeine
Volksabstimmung in Polen, die den Schlonsaken eine große Stimmenzahl einbrachte. Dennoch
scheint das Nein für die Schlonsaken begründet. Eine Nation sind sie auf keinen Fall.
Sie sind eine tragische ethnische Mischgruppe, deren Identitätsbewußtsein durch das
widrige Zeitgeschehen zerstört, die in ihrer Selbstwahrnehmung beschädigt worden ist.
Insofern sind sie mit Sicherheit ein Problem für ein europäisches Forum. Doch zunächst
müßte diese ethnische Gruppe mit sich selbst klarkommen und sich um den Wiedergewinn
ihrer Identität bemühen, das heißt vor allem um den Rückgewinn eines adäquaten
Geschichtsbewußtseins.
Wer also sind die Schlonsaken? Die einheimischen Oberschlesier, die nach 1945 aus
verschiedenen Gründen in der Heimat geblieben sind, etwa dreißig Prozent der vorherigen
Bevölkerung, deren Gros als Deutsche vertrieben und ausgesiedelt wurde, bekennen sich
heute zum Teil als deutsche Minderheit, während der andere Teil nach einer eigenen
oberschlesischen Identität sucht. Das Zusammengehörigkeitsbewußtsein dieser in
Wirklichkeit zusammengehörenden Gruppe ist schwach und voller Widersprüche.
Diese Situation ist durch die nationalen Ideologisierungen des 19. und durch den Terror
beider Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verursacht worden. Besonders während des
sowjetischen Totalitarismus wurde fast ein halbes Jahrhundert Geschichte gefälscht
dargebracht, vor allem die siebenhundertjährige Anwesenheit und Aufbauarbeit der
Deutschen im Lande verleugnet. Inzwischen setzen sich auch in Oberschlesien allmählich
die historischen Fakten durch. Man fängt an, sich mit der Besiedlung des Landes durch
Deutsche zu befassen, darüber nachzudenken, daß die Schlesier zwar Slawen, aber keine
Polen sind. Es wird allmählich bekannt, daß die polnischen Aufstände während der
Plebiszitzeit von Polen aus initiiert und organisiert worden sind.
Doch für die Existenz und Anerkennung einer ethnischen Gruppe als Nationalität wären
vor allem die Sprache und literarische Zeugnisse von Bedeutung. Diese aber sind bei
den Schlonsaken nur in Rudimenten vorhanden. Die Chance, eine eigene Sprache zu erwerben,
haben die einheimischen Oberschlesier viel früher verpaßt, im 18. und insbesondere im
19. Jahrhundert, als auch kleine ethnische Gruppen sich auf ihre Volkssprache besannen und
bestrebt waren, sie zu kodifizieren und literaturfähig zu gestalten.
Den Oberschlesiern wurde statt dessen vom preußischen Staat die polnische
Sprache verordnet. Diese Entwicklung begann mit der zweiten großen
Besiedlungswelle des Landes durch Friedrich den Großen, der bekanntlich bestrebt, war die
Bevölkerung im Geiste der Aufklärung Bildung beizubringen. Schulen wurden in dem
Land gegründet, wo eine vorwiegend ihren slawischen Dialekt sprechende Bevölkerung ihr
karges, aber geruhsames Dasein fristete. Deutsche Siedler kamen dazu. Es fehlte aber an
Lehrern. Der Alte Fritz, ein genialer Ressourcenverwerter, setzte ausgediente Feldwebel in
den Schuldienst ein. Unterrichtssprache war das Deutsche. Das ging dort einigermaßen gut,
wo eine vorwiegend deutschsprachige Bevölkerung saß, nicht aber in den slawischen
Dörfern. So wurde die Bildungspolitik in Oberschlesien zum Problem in Berlin.
1822 gab die preußische Regierung einen Erlaß für das Posener Gebiet heraus, das nach
den Teilungen Polens von Preußen annektiert worden war. Die polnische Sprache sollte dort
nach dem Wunsch der Bevölkerung in den Schulen eingesetzt werden und mit der deutschen
gleichberechtigt sein. In diesem Gebiet lebte ebenfalls eine Mischbevölkerung, allerdings
waren es Polen und Deutsche, die Deutschen in der Minderheit. Die ethnischen Verhältnisse
waren also fast ähnlich, doch im Posener Land lebten patriotisch gesonnene Polen,
während die Oberschlesier eine national indifferente Gruppe waren. Dennoch setzte man
in Berlin Oberschlesien und das Posener Land gleich. Mit preußischem Elan
begann man die polnische Sprache auch in den Schulen in Oberschlesien einzuführen. Das
benachteiligte naturgemäß die deutschen Kinder und weckte wiederum Proteste.
Ein besonderes Verdienst bei der Einführung des Polnischen im Schulwesen Oberschlesiens
erwarb sich Bischof Bernhard Bogedain, ein Schlesier aus Glogau, der bei seinen Verwandten
in Posen aufgewachsen und dort mit dem Freiheitsbestreben der Polen in Berührung gekommen
war. Bischof Bogedain, der nach den damaligen Geflogenheiten für die Seelsorge sowie für
das Schulwesen zuständig war, verpflichtete alle Priester und Lehrer, sich die polnische
Sprache anzueignen. Dazu stellte er vor allem Lehrer und Priester aus dem Posener
Gebiet ein, zum Teil überzeugte polnische Patrioten. Die Weichen waren gestellt. Es ist
bezeichnend, daß die Polen bis heute dem für das Polentum in Oberschlesien so
verdienstvollen deutschen Bischof Bernhard Bogedain keinen Dank wissen, denn seine
Tätigkeit steht im Widerspruch zu den gängigen polnischen Legenden vom Ur-Polentum der
Schlonsaken.
Als Bismarck nach 1871 mit dem Kulturkampf das Polnische aus dem Schulwesen energisch zu
verdrängen begann, kam es natürlich zu erbittertem Widerstand, zumal der Eiserne Kanzler
nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den Protestantismus favorisierte und somit
den in Oberschlesien einflussreichen katholischen Klerus herausforderte. Fortan wurde die
Sprache, bislang ausschließlich als Bildungsvermittler betrachtet, in die
politischen Auseindersetzungen zwischen Deutschen und Polen einbezogen. Für die Deutschen
gab es nur noch Deutsche in Oberschlesien und folgerichtig nur die deutsche Sprache,
für die Polen nur noch Polen, also das Polnische. Daß dabei eine spezifische Gemengelage
nicht berücksichtigt wurde, schien wenig zu stören.
Die polnischen Aufstände in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg waren das weitere und
weitaus dramatischere Kapitel seiner Geschichte, die Einführung der Volkslisten durch die
Nazis aufgrund sprachlicher Kriterien das nächste. Die finale Tragödie aber erfolgte
nach 1945, als der größte Teil der Bevölkerung vertrieben oder später ausgesiedelt,
der restliche aber rigoros polonisiert wurde.
So kam es, daß die Schlonsaken erst nach 1989 nach sich selbst zu fragen begannen.
Dennoch bleibt den heutigen Bewohnern Oberschlesiens, sowohl den Einheimischen wie den
zugewanderten Polen, nichts anderes übrig, als gemeinsam nach einer adäquaten
modernen Identität zu suchen. Dies allerdings könnte eine einmalige europäische Chance
für die vom Zeitgeschehen zerrüttete Region sein.
Renata Schumann (KK)
Der Nationalismus als Schlag ins (Hanse-)Kontor
Monika von Hirschheydt steckt den baltischen Lebenskreis ab
700 Jahre lang bestimmten Deutsche das Geschick der am Rigaer und am Finnischen
Meerbusen zwischen den Flüssen Heilige Aa und Narwe (Narowa) gelegenen Ostseelande. Die
dort lebenden Völker der Liven, Esten und Letten waren am Anfang des 13. Jahrhunderts von
Bischof Albert von Riga, der einem bremischen Ministerialengeschlecht entstammte, und vom
Schwertbrüderorden, der 1237 im Deutschen Orden aufging, unterworfen und christianisiert
worden. Im Laufe des Spätmittelalters hatte sich auf dieser Grundlage mit einer deutschen
Oberschicht, bestehend aus Bürgertum und adligen Grundbesitzern, das alte Livland
entwickelt. Freilich setzten sich in der so zunehmend deutsch geprägten Ostseeregion im
Laufe der Neuzeit verschiedene fremde Mächte fest. Doch gaben die Deutschen stets den
Ausschlag bei der Gestaltung der inneren Verhältnisse der deutschen
Ostseeprovinzen, wie man im 19. Jahrhundert sagte, als die baltischen Lande
Bestandteil des Russischen Reiches waren. Wie Monika von Hirschheydt, selbst Trägerin
eines deutschbaltischen Namens, in einem Vortrag im Münchner Haus des Deutschen Ostens
feststellte, blieben dabei die inneren Strukturen bis zum Ersten Weltkrieg relativ stabil.
Alt-Livland war ein zum Deutschen Reich gehörender Staatenbund, der aus dem Gebiet des
Deutschen Ordens sowie dem der Bistümer Riga, Dorpat, Ösel und Kurland bestand, bis er
um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein Opfer der Begehrlichkeit seiner Nachbarn wurde. 1561
fiel der Teil nördlich der Düna, das sogenannte Überdünische Livland, das
hinfort allein noch die Bezeichnung Livland trug, einschließlich des
Erzstifts Riga an Polen, während der Gebietsteil südlich der Düna als Polen
lehnspflichtiges Herzogtum Kurland dem letzten Ordensmeister Wilhelm von Kettler
übertragen wurde. Der Norden, Estland mit Reval (seit 1584 mit den Landschaften Harrien,
Wierland, Jerwen und Wiek) fiel an Schweden. Dessen König Gustav Adolf konnte Polen 1629
zudem Livland entreißen, während Rußland erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts im
Nordischen Krieg zum Zuge kam, als es dem geschlagenen Schweden Livland und Estland
abgewann (Frieden von Nystad 1721 ). Mit dem Untergang Polens 1795 fiel auch Kurland an
Rußland.
Den Ständen Livlands und Estlands, dem grundbesitzenden Adel und den Städten, gelang es,
von den jeweiligen Herren das letzte Mal von Zar Alexander II. im Jahre 1855
ihre Privilegien vertraglich bestätigt zu bekommen, die Freiheit des evangelischen
Bekenntnisses und der deutschen Sprache, deutsches Recht und Selbstverwaltung. Monika von
Hirschheydt verwies auf die Bedeutung der Reformation und der Aufklärung in den
Ostseelanden, nicht zuletzt für die geistige und materielle Hebung der
Bauernbevölkerung, so die in den Jahren 1816 bis 1819, also wesentlich früher als im
übrigen Rußland erlassenen Gesetze zur Bauernbefreiung und Agrarreform. Sie erinnerte an
die bedeutende Rolle, die die Deutschbalten in den russischen Führungsschichten spielten,
befördert durch die 1632 von König Gustav Adolf von Schweden gestiftete und 1802
neugegründete deutschsprachige Universität Dorpat, das geistige Zentrum der
Deutschbalten.
Diese zählten um 1900 insgesamt etwa 200 000 Köpfe, während die Letten auf 1,2
Millionen und die Esten auf 900 000 kamen. Gegenüber dem Städtewesen in hansischer und
nachhansischer Zeit wie der Adelskultur konnten diese baltischen Kleinvölker von jeher
keine handelnde Rolle spielen. Freilich, so schrieb Reinhard Wittram 1943 im
Vorwort zur ersten Fassung seiner Baltischen Geschichte, hat man sich
die bäuerliche Grundschicht, die diese Völker bildeten, mit ihrer Arbeitskraft und ihrem
Volksgut stets gegenwärtig zu denken.
Insofern bedeutete das Aufkommen des Nationalismus seit etwa 1860 eine scharfe Zäsur. Der
wirtschaftlichen Expansion vor allem in den Städten Reval, Riga und Libau trat eine
Vergrößerung der nationalen und sozialen Gegensätze an die Seite. Das habe, so die
Referentin, die Deutschbalten in die Klemme gebracht. Sie hätten ihr
Deutschtum erbittert gegen die fortschreitende Russifizierung verteidigt und seien vom
Aufkommen des Mißtrauens von Letten und Esten ihnen gegenüber schockiert gewesen. Die
Stunde des Abschieds vom alten baltischen Lebenskreis und einer ersten Emigration habe
geschlagen. Was folgte, Erster Weltkrieg, Revolution, die Gründung der baltischen Staaten
1920 und die Aussiedlung von zwei Dritteln der verbliebenen Deutschbalten 1939/40, brachte
den vollständigen Verlust der deutschen Stellung in den Ostseelanden.
Die politische Landkarte war entsprechend der Sprachgrenze zwischen dem finnisch-ugrischen
Estnisch und dem (ebenso wie das Litauische) indogermanischen Lettisch gestaltet worden.
Demgemäß hatte man Estland mit der nördlichen Hälfte Livlands zur Estnischen und
Kurland mit der südlichen Hälfte Livlands zur Lettischen Republik vereinigt. Was das
Verhältnis der nach dem Ende der sowjetischen Okkupation von 1940 wiedererstandenen
Republiken zu ihrer deutschen Vergangenheit betrifft, so zeichnete Monika von Hirschheydt
ein überaus günstiges Bild. Daß das erstmals 1901 im Domhof von Riga aufgestellte
Denkmal Bischof Alberts von lettischen Künstlern neu geschaffen und 2001 an alter Stelle
aufgestellt werden konnte, nimmt sie als Sinnbild dafür.
Peter Mast (KK)
Heimatstuben nicht heimelig, sondern modern gestalten
Zahlreiche Mitglieder und Freunde der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher
Museen, Heimatstuben und Sammlungen aus Nordrhein-Westfalen sowie Bürgermeister Bodo
Nowodworski von seiten der Gastgeberstadt hatten sich im März zur Frühjahrstagung
im Stadtgeschichtshaus von Mettmann eingefunden. Dr. Walter Engel, Vorstandsvorsitzender
der Arbeitsgemeinschaft, betonte die gute Zusammenarbeit mit regionalen Heimatmuseen, die
wie auch die Heimatstuben bemüht seien, Zeugnisse zur Geschichte und Kultur
eines Ortes zu sammeln, zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzureichen.
Dr. Jutta de Jong, Leiterin des Niederbergischen Museums Wülfrath, präsentierte Aspekte
der lebendigen und bürgernahen Tätigkeit des Heimatmuseums. Auch diese museale
Einrichtung ist bemüht, Zeugnisse zur Geschichte und Kultur eines Ortes zu sammeln und an
die nächste Generation weiterzureichen. Besonders interessant waren die Beispiele der
Mitmach-Aktionen, zu denen sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche
herangezogen wurden. Eva Preuß, Leiterin der im Stadtgeschichtshaus ansässigen
Angerapper Heimatstube, bot einen informativen Überblick zur Entstehungsgeschichte der
über 500 Erinnerungsstücke umfassenden Sammlung. Die weiteren Räume des
Stadtgeschichtshauses wurden von Helmut Kreil von Aule Mettmann vorgestellt.
Mattias Lask, Geschäftsführer der AG Heimatstuben, referierte ferner über die Bedeutung
der Öffentlichkeitsarbeit der Heimatstuben. Vertreter mehrerer Ostdeutscher Museen
und Heimatstuben, so Lorenz Grimoni und Konrad Scherfer, informierten über besondere
Aktivitäten ihrer Häuser.
(KK)
Bücher und Medien
Mutter Ostpreußen und Lehrerin
nicht minder
Marianne Kopp: Agnes Miegel. Leben und Werk. Husum Verlag, Husum 2004, 127 S.,
6,95 Euro
Agnes Miegels bekanntestes Gedicht heißt Die Frauen von Nidden. Noch
vor zwei, drei Jahrzehnten kannte es fast jedes Schulkind in der Bundesrepublik, und seine
Schöpferin war zumindest als bedeutende Balladendichterin in allen Schulbüchern
präsent. Das ist heute anders. Agnes Miegel geriet mehr und mehr in Vergessenheit, unter
dem Namen Mutter Ostpreußen wurde sie weithin als reine Heimatdichterin
abgetan, selbst die Germanistik schenkte ihr kaum noch Beachtung. Von der breiten
Fächerung des Gesamtwerkes der Stimme Ostpreußens, das nicht nur Balladen und Lyrisches,
sondern auch Erzählendes umfaßt, ist einer größeren Öffentlichkeit kaum noch etwas
bekannt.
Das zu ändern hat sich Marianne Kopp mit ihrem zeitgerecht zum 125. Geburtstag der
Dichterin erschienenen Buch zum Ziel gesetzt. Die Augsburger Germanistin und Vorsitzende
der Agnes-Miegel-Gesellschaft kann derzeit als die deutsche Agnes-Miegel-Expertin gelten,
schon ihre Dissertation befaßte sich mit der ostpreußischen Dichterin. Die Idee zu
diesem Band entsprang aus der vielfältigen Vortragstätigkeit der Autorin, die immer
öfter die Anregung hörte, ihre Arbeiten doch größeren Kreisen in einem Buch
vorzustellen. Entstanden ist weit mehr als eine Sammlung von Aufsätzen und
Einzeluntersuchungen, es ist ein Buch aus einem Guß.
Eine umfassende Würdigung des Werkes versprach der Husum Verlag in seiner Ankündigung,
und tatsächlich gelingt es Marianne Kopp, ein Bild der Dichterin zu entwerfen, das
jenseits aller Schlagworte wie Nazidichterin, aber auch über allen Kategorisierungen wie
Heimatdichterin oder Balladendichterin steht. Dabei verläßt die Autorin in ihrer
Darstellung das Format einer reinen Biographie und stellt das Werk Agnes Miegels in
thematischen Kapiteln unter ganz anderen als den bisher üblichen, an der Chronologie des
Schaffens ausgerichteten Gesichtspunkten dar.
Gerade dieser Ansatz bringt dem Leser das Gesamtwerk der Dichterin auf ganz neue Weise
nahe und erschließt auch dem Miegel-Kenner bisher nicht Gekanntes aus deren Leben und
Werk. Fast beiläufig gelingt Marianne Kopp gerade in den Themenkapiteln der Nachweis,
daß die Dichterin sich keineswegs nur mit ostpreußischen Themen befaßte, sondern ihre
Motive vielfach in ganz anderen Bereichen fand. Der Bogen reicht von der Antike bis zu
Stoffen aus dem Orient, wie sie in einigen Märchen vorkommen. Immer wieder führt die
Autorin auch vordergründig ostpreußische Themen Agnes Miegels auf die ihnen zugrunde
liegenden klassischen Motive zurück wie im Kapitel über die Webkunst. Dabei gelingt es
Marianne Kopp ganz nebenbei, dem Leser einen Blick auf Symbole und Motive zu
erschließen, die nicht nur bei Agnes Miegel, sondern in der gesamten Literatur immer
wieder in vielfältigen Abwandlungen verwendet worden sind.
Fast zwangsläufig gelangt der Leser des Buches zu großem Respekt vor dem erstaunlichen,
fast ausschließlich autodidaktisch angeeigneten Wissen Agnes Miegels. Die Palette ihrer
Kenntnisse reicht von der antiken Mythologie bis zur Geschichte, Kultur und Geographie
ihrer Heimat, so daß sie als wandelnde ostpreußische Enzyklopädie galt.
Wer dieses obendrein fesselnd geschriebene Buch liest, erfährt viel über Ostpreußens
große Dichterin, wird auf Agnes Miegel neugierig werden und kann sich ihr Werk auf neuen
Wegen mit neuen Sichtweisen erschließen.
Brigitte Jäger-Dabek (KK)
Gab es das wahre Leben im falschen der DDR?
Peter Böthig (Hg.): Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten.
Luchterhand Verlag, München 2004, 224 S., 35 uro
Pünktlich zum 75. Geburtstag von Christa Wolf legt Luchterhand einen von Peter
Böthig sorgfältig aufbereitete Bild- und Textband vor. Die Ehrung gilt der Hausautorin,
und vollmundig ist davon die Rede, daß in dieser Bildbiographie eine Schriftstellerin
präsentiert wird, die sich im Literarischen und Politischen weder in der DDR noch
später in der Bundesrepublik zu Zugeständnissen bereit gefunden hat. Eine Ikone
der Unerschütterlichkeit wird errichtet, die wenig gemein hat mit den komplizierten und
widersprüchlichen Abläufen im geteilten Europa des 20. Jahrhunderts. Es sind die Stimmen
ihrer Verehrer im Feuilleton, die weinerlich bedauern, daß Christa Wolfs Werke nicht
uneingeschränkt aufgrund ihrer literarischen Qualitäten beurteilt würden.
Allein, der moralische Konnex wurde von ihr selbst immer wieder hergestellt: Ich
kann mir nicht vorstellen, daß Schreiben und Leben im Grundsätzlichen
auseinanderklaffen. Ich möchte mir nicht denken, daß man als Autor eine bestimmte Moral
vertritt, ja moralisiert (was ich, zugegeben, tue) und als Mensch dieser Moral absolut
entgegenlebt. Ein Autor, der für sich in derartiger Weise moralische Authentizität
beansprucht, darf sich nicht wundern, wenn Kritiker statt literarischer Kriterien am
verkündeten Anspruch ihre Meßlatte anlegen.
In einem Land wie der DDR eine bestimmte Moral zu vertreten und dennoch als
Schriftsteller wahrgenommen zu werden erforderte gelinde formuliert ein enormes
Fingerspitzengefühl. Geschichtliche Schlüsselereignisse wie der Einmarsch der
Warschauer-Pakt-Truppen zur Niederwerfung von Alexander Dubceks Sozialismus mit
menschlichem Antlitz am 21. August 1968 oder die Ausbürgerung des kritischen
Kommunisten und Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 forderten zur Stellungnahme
heraus, bei denen sich auch Christa Wolf unter den gegebenen Umständen eher der
Sklavensprache, wie es Hans Mayer einst beschrieben hat, bediente. Zum Bau der
Mauer im August 1961 findet sich in der vorliegenden Bildbiographie bezeichnenderweise
nicht einmal das Datum in der Liste der Aufzählung wichtiger Ereignisse.
Nein, aussagekräftiger als der selbstverkündete Anspruch ist der freigegebene Blick auf
ein Geflecht biographischer, psychologischer und geschichtlicher Konstellationen. Christa
Wolf gehört jener Generation an, die nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur vor einer
historischen Null stand. Als wir sechzehn waren, konnten uns mit niemandem
identifizieren, bemerkt sie richtig und liefert somit einen wertvollen Hinweis.
DDR-Schriftsteller wie Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Franz Fühmann erboten sich
gleichsam am eigenen Leib, an der eigenen Biographie den Gegenbeweis anzutreten, um die
Sieger vom guten Willen zum Aufbau eines friedlichen Deutschland zu überzeugen. Es galt,
sich mit aller Deutlichkeit von der Nazizeit abzusetzen.
Ich wollte genau das Gegenteil, schrieb Christa Wolf über ihren Beitritt zur
SED und ihre neue marxistische Weltanschauung. Freilich zeigte sich nach dem Ende der DDR,
daß ein weiteres Mal auf deutschem Boden grundlegende Begriffe wie Deutsch
ideologisch verhunzt und verwüstet worden waren. Diesmal kamen noch Republik
und Demokratisch hinzu. Von Sozialismus ganz zu schweigen. Heute
kann es nicht darum gehen, Noten für damaliges Verhalten zu verteilen. Es ist tragisch
genug, wenn die Aufrichtigkeit junger Menschen von Ideologien mißbraucht wird, im
vorliegenden Fall von marxistisch ausgerichteten.
Um so mehr ist um der intellektuellen wie moralischen Redlichkeit willen Zurückhaltung in
der Selbsteinschätzung angebracht. Ohne Zweifel hat Christa Wolf zu Lebzeiten der DDR
Menschen enttäuscht, was sich auch am Bruch der Freundschaft mit der kritischen Dichterin
Sarah Kirsch zeigen läßt. Und ohne Zweifel war Christa Wolf und ihre Haltung in der DDR
vielen ein wichtiger Halt, nicht wenige konnten sich auf ihre verständige Hilfe
verlassen. Mehr über die Lebenszeit der Christa Wolf erzählen Bilder wie jenes kleine
Schwarzweißfoto von 1936, auf welchem das Elternhaus in Landsberg an der Warthe zu sehen
ist. Im Juli 1971 wird das Haus erneut fotografiert. Es hat sich auf frappierende Weise
nichts geändert, weder das Haus mit seinen Fensterläden noch gar die leicht ausgefranste
Pappel davor. Und doch ist eine völlig neue Umgebung um dieses Haus im heutigen Gorzow
Wielkopolski. Sozialistische Plattenbauten reichen bis in die unmittelbare Nachbarschaft.
Hier berührt Geschichte den Betrachter, nehmen Krieg und Vertreibung, Aufbau und
Parteilichkeit konkrete Formen an. In den besten Passagen in Christa Wolfs Büchern wird
davon erzählt.
Volker Strebel (KK)
Zwei Berliner aus der Provinz im angelsächsischen
Exil
Ist schon doll das Leben. George Grosz / Max Herrmann-Neisse. Der
Briefwechsel. Hg. von Klaus Völker. Transit Buchverlag, Berlin 2003, 160 S., 14,48 uro
120 Buchseiten umfaßt der ausgezeichnet edierte Briefwechsel. Er beginnt mit
einer Briefkarte von George Grosz, datiert 28. November 1917, und endet mit einem Brief
Max Herrmann-Neisses vom 7. Oktober 1938. Warum die Korrespondenz nicht fortgesetzt worden
ist, wird nicht mitgeteilt. Im Impressum wird lediglich dem Sohn von George Grosz
für die freundliche Genehmigung gedankt. Die Briefe des Dichters stammen aus
dem Archiv des Verlags Zweitausendeins in Frankfurt am Main, wo auch die Werkausgabe
erschienen ist.
Die bedeutendesten Briefe sind die aus dem Exil. Der sieben Jahre jüngere Maler und
Zeichner Grosz war bereits wenige Wochen vor der Machtübernahme am 30. Januar 1933 durch
Hitler aus Protest gegen das in seinen Augen immer noch militante, autoritätshörige
Deutschland in die USA gegangen. Der Schriftsteller Herrmann-Neisse war zwei Tage nach dem
Reichstagsbrand vor dem aufziehenden Dritten Reich geflohen.
Die Briefe lesen sich wie eine Sozialgeschichte der Emigration. Über das Leben von George
Grosz ist vieles aus dessen Erinnerungsband Ein kleines Ja und ein großes
Nein, erschienen 1955, zu erfahren, über den Lebensweg von Max Herrmann-Neisse, der
bereits am 8. April 1941 in London zu Ende ging, gibt es Vergleichbares nicht. Durch
diesen Briefwechsel erhalten wir jedoch Einblicke in das Weiterleben fern des wirbligen
Kunstbetriebes in Berlin. Beide waren aus den Provinzen Pommern bzw. Schlesien, aus Stolp
und Neisse, in die Reichshauptstadt gekommen und hatten die Jahre der Weimarer Republik,
später die Goldenen Zwanziger genannt, hier aktiv miterlebt. Diese Zeit, ihre
Persönlichkeiten und gesellschaftlichen Zusammenhänge werden mit subjektiven Akzenten
beschworen.
Der linksorientierte George Grosz wurde in den USA zu einem begeisterten und engagierten
Bürger der Neuen Welt. (Erst später wurde sein Urteil zunehmend skeptisch, und er starb
1959 als Rückkehrer in Berlin.) Freudig bekannte er sich vorerst als Amerikaner. Max
Herrmann-Neisse hingegen war und blieb ein Fremder in der Fremde. In London wollte und
konnte er nicht heimisch werden. Geradezu selig äußerte er sich, wenn es zwischendurch
nach Zürich ging, wenn auch nur für Wochen. In einem Brief vom 4. April 1934 nach New
York heißt es über London: Es ist eine unzugängliche, grausame Stadt, und um nur
von einer natürlich nebensächlichen, kleinen Entspannung zu reden: Cafés zum Ausruhen
oder gemütliche Kneipen gibt es überhaupt nicht ... Ist nichts für einen alten
schlesischen Bierverlegersohn! (Die Eltern hatten in Neisse einen Bierverlag und
eine Trinkstube unterhalten.) Ein halbes Jahr später schwärmt er von Zürich:
Endlich wieder richtige Natur, wie sie einem Feld-, Wald- und Wiesenlyriker das Herz
aufgehen läßt, Berge, Hügel, See. Ihm bleibt die deutsche Sprache als
Lebenselixier, und er rühmt sie geradezu huldigend.
Die Edition zeichnet sich durch ein 25 Seiten umfassendes Lexikon aus, das die
Namen umfaßt, die dem heutigen Leser fremd sein dürften. Hier werden wir auch über den
Juwelier und Diamantenhändler Alphonse Sinsheimer informiert, der sich in London
Sandhurst nennt und in einer Ehe zu dritt dem Dichter und seiner Frau das
Überleben in der Emigration sichert.
Es wundert einen, daß George Grosz in seinen Erinnerungen zwar die meisten
zeitgenössischen Persönlichkeiten aus Berlin und im Exil namentlich aufführt, Max
Herrmann-Neisse aber mit keinem Wort erwähnt. Aus diesem Briefwechsel hingegen spricht
herzliche Freundschaft, Offenheit und gegenseitige Hochachtung. Dabei denkt man auch an
die großartigen Porträts des Dichters, die wir George Grosz zu verdanken haben.
Herbert Hupka (KK)
Der tschechische Blick aufs schwarze Loch Europas: ein
Buch von Martin Dvorák
Anfang 2001 löste der WDR-Film Es begann mit einer Lüge
einen Mediensturm aus: Die Kölner hatten sauber recherchiert, beeindruckend illustriert
und aggressiv formuliert daß die sog. NATO-Mission im Kosovo, die 1999
über 70 Tage lang Bomben auf Serbien warf, auf albanischen Propagandalügen, westlichen
Fehleinschätzungen und bewußten Irreführungen durch Militärs beruhte, also letztlich
ohne Sinn und Ziel war. In Osteuropa wäre derartiges vermutlich nicht möglich gewesen,
weil man dort die balkanischen, speziell serbisch-albanischen Verhältnisse kühler und
realistischer betrachtet: Wenn es zwischen serbischen Warlords und albanischen
UCK-Kämpfern überhaupt einen Unterschied geben sollte, dann könnte der
höchstens in den jeweiligen Muttersprachen liegen.
In Warschau, Moskau, Prag, Bukarest wird viel und klug über den Balkan geschrieben
was der Westen alles nicht zur Kenntnis nimmt. Diese arrogante Ignoranz ist im höchsten
Maße selbstschädigend: Was wir erst heute mühsam zur Kenntnis nehmen, aber nicht
ändern können oder wollen, ist in Osteuropa seit langen Jahren eine Binsenweisheit
daß die angeblich traumatisierten Kosovo-Albaner unfähig zur Politik,
aber höchst begabt für organisierte Kriminalität sind, daß ihre rund 10 000
Quadratkilometer große Region Europas schwarzes Loch ist, in dem Waffen-, Drogen- und
Menschenschmuggler straffrei agieren.
Was hätte im Kosovo vermieden, was für kosovarische Befriedung getan werden können,
wäre im Westen ein tschechisches Buch wie Martin Dvoøáks Kosovo na vlastní
kùzi (K. auf eigener Haut) übersetzt und zur Pflichtlektüre für alle
UNMIK-Administratoren und KFOR-Kommandeure bestimmt worden! Der tschechische Autor,
Jahrgang 1956, hat bis Oktober 2000 im nordkosovarischen Istok als UN-Beauftragter amtiert
und darüber ein Buch verfaßt, für das sich Václav Havel ausdrücklich bedankte. Zu
Recht!
Im Buch spricht Dvoøák von skeptischen tschechischen Augen, denen nichts heilig
ist. So kann man es auch sagen daß die Tschechen zu der europäischen
Minderheit gehören, die der medial üblichen Betrachtungsweise kosovarischer
Gegebenheiten, serbische Täter versus albanische Opfer, zutiefst
mißtrauen. Jiøí Dienstbier, Ex-Außenminister der Tschechoslowakei und später
UN-Menschenrechtsbeauftragter, hat die Lage der Kosovo-Albaner unter Miloseviæ stets mit
den Lebensbedingungen tschechischer Dissidenten im Kommunismus verglichen und albanische
Klagen häufig ironisch abgewiesen. Und für Prager Balkanologen wie Filip Tesár sind
Kosovo-Albaner einfach Falschmünzer, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht der
Völker berufen, um einen Staat zu zerschlagen. In diese Reihe gehört auch
Dvoøák, der sich bei aller Loyalität zu UN und OSZE und allem Einsatz für sie den
kritischen Blick auf die Zustände vor Ort nicht verbieten läßt.
Details sind in seinem facettenreichen Buch ausgebreitet, das durchweg in einem
attraktiven und kolloquialen Tschechisch geschrieben ist. Dadurch entsteht ein Sprachstil,
der die Neigung des Autors zu lakonischer Distanz zu seiner Tätigkeit und seiner Umgebung
unterstützt. Die UNMIK-Bürokratie wird in einer Weise konterfeit, die aus Havels
Bühnenstücken (Die Benachrichtigung) entliehen sein könnte. Selbst
Alltägliches vermag der Autor in einer Art wiederzugeben, die seine Vertrautheit mit den
Realsatiren seines Landsmannes Jaroslav Zák vermuten läßt. So entstand ein in jeder
Hinsicht bemerkenswertes Buch, das in der tschechischen Presse mit verdienter
Aufmerksamkeit registriert wurde und auch anderswo wahrgenommen werden sollte: Das Kosovo
aus der Froschperspektive eines slawischen Autors, der in einer materiell und
mental zerstörten Umgebung Wiederaufbau leistet mit den Erfolgsaussichten eines
Sisyphos!
Daß es im Kosovo seit 1999 nur abwärts geht, liegt an den Albanern selber. Dvoøák sind
sie nie sympathisch, oft sogar unheimlich: Ihr Leben wird bestimmt von
jahrhundertealten Traditionen und Gewohnheiten, die sich deshalb erhalten, weil man
hier bislang ziemlich isoliert und ohne den globalen Einfluß der Zivilisation
lebte. Warum dreht sich bei ihnen der endlose Kreis von Vergeltung, Vendetta
und Rache? Weil es vom mittelalterlichen Kanun so verlangt wird, dessen
Grundforderung Blut für Blut nach wie vor höchst aktuell ist.
Darum fürchtet Dvoøák, daß die internationale Mission noch einige
Generationen hierbleiben muß, bis man vielleicht den Einfluß des Kanun schwächen und
eine wirkliche Rechtsordnung einrichten kann. Sollte es früher dazu kommen, dann
wegen ihrer selbstzerstörerischen Natur, die noch selten jemand so wie Dvoøák beim
Namen nannte: Was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, sind eben die
Vorfälle einer unverständlichen wechselseitigen Gewalt unter verschiedenen Gruppen von
Albanern. Man kann es nicht übersehen, daß Spannungen und Nervosität von Tag zu Tag
steigen. Früher waren die Albaner gegen den gemeinsamen Feind, das
serbische Miloseviæ-Regime, geeint, aber kaum ist der gemeinsame Feind
verschwunden, da sucht man mit Hochdruck einen neuen, und weil man ihn anderswo nicht mehr
finden kann, da findet man ihn unter denen, mit denen man noch unlängst gegen den
ursprünglichen Feind gekämpft hat.
Hauptakteur des intraalbanischen Kriegs ist die ehemalige UCK, die offiziell aufgelöst
und zum kleineren Teil in das Kosovo-Schutzcorps (TMK) umgewandelt worden ist. Realiter
ist sie stärker denn je, wie Dvoøák bezeugt: Das TMK ist keine Armee, keine
Polizei, nicht einmal eine Hilfsbrigade, aber es hat enorme Ansprüche zu den
Bedingungen, unter denen es wohnen, eventuell auch arbeiten soll. Deswegen
konfisziert das TMK, das immer noch dasselbe wie die angeblich demobilisierte UCK
ist, bei Albanern Wohnungen und Einrichtungen, was die UNMIK mühevoll ausgleichen
muß. Nach wie vor erhebt die UÇK bei Albanern Abgaben, und weil im Kosovo
keine Parallel-Strukturen mehr finanziert werden müssen, verfügt sie über
enorme Einnahmen. Ehemalige UCK-Kämpfer berufen sich ständig auf ihre
Kampfverdienste, lassen sich von UCK-Mitkämpfern in bestimmte
Posten lancieren, zahlen keine Steuern und keine Mieten und verdienen
ungeheure Summen. Ein ehemaliger UCK-Kämpfer, mittlerweile mit einer
UN-Bediensteten liiert, eröffnet in Peæ ein Fitneß-Center, das Geld dazu kommt
von einer humanitären Organisation.
Kosovo-Albaner leben gefährlich, noch gefährdeter sind alle, die keine Albaner sind:
Unsere Sicherheitsleute haben mir vertraulich und gar ein bißchen konspirativ eine
Information über erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit mitgeteilt, die insbesondere
Personen von slawischer Herkunft zu widmen sei. Was Dvoøák nicht erwähnt (aber
als bekannt voraussetzt, denn unsere Zeitungen haben gerade darüber
geschrieben), ist die Tatsache, daß in Prishtina ein bulgarischer UN-Mitarbeiter
von Albanern getötet worden ist, nachdem sie ihn als Slawen erkannt haben. Überall
vermehren sich Kriminalität und Gewalt, weil sich bei allen Menschen
hier das Gefühl vertieft, daß eigentlich alles erlaubt ist. Also werden kommunale
Dienstleistungen wie Elektrizität nicht bezahlt, leerstehende Wohnungen ohne Genehmigung
für viel Geld an Verwandte oder für noch mehr Geld an internationale Freunde
vermietet, werden UNHCR-Materialien gestohlen, blühen allenthalben Schwarzhandel
und Schieberei. Ein großes Problem sind Autodiebstähle, obwohl 90 Prozent der
Autos kein Kennzeichen haben und selbstverständlich nirgendwo Verkehrszeichen
stehen.
Die Arbeitslosigkeit in Dvoøáks Amtsbereich lag bei über 60 Prozent, aber
offene Stellen wurden allein nach Klientel-Gesichtspunkten vergeben die
Mitglieder der Auswahlkommission waren in diese mit dem unverkennbaren und vorab erteilten
Auftrag gekommen, ihren Kandidaten durchzudrücken. Entsprechend nahmen sich die
Amtsinhaber aus: Ich habe mir niemals große Illusionen zum Arbeitseifer der lokalen
Beamten gemacht. Einmal hatte Dvoøák in eigener Kompetenz eine hochdotierte Stelle
zu vergeben, und die Schilderung dessen fiel so aus, daß sich die tschechische Presse in
verständlichem Vergnügen darauf förmlich stürzte. Es ging um den Posten eines
Ökonomen, und die meisten Bewerber wiesen ein Hochschuldiplom vor. Die Hälfte von ihnen,
darunter eine Mathematiklehrerin, scheiterte an einer einfachen Aufgabe in
Prozentrechnung, was eine gewisse Vorstellung von der Qualität des lokalen
Bildungswesens vermittelte. Der Rest sollte u. a. die Frage beantworten, wie
viele Symphonien Beethoven komponierte. Die Antworten bewegten sich von drei bis zwölf,
aber auf die neun kam niemand.
Nach internationalen Analysen und heimischen Frühwarnberichten hat das Kosovo
keine Zukunft: Einziger Konsens unter den zerstrittenen albanischen Führern ist die
Option unabhängiges Kosovo, die die internationale Gemeinschaft um keinen
Preis will. Benchmarks (Stolpersteine) hat sie aufgestellt, bevor die Frage
des kosovarischen Status auch nur diskutiert werden soll: Recht, Ordnung, Sicherheit,
Arbeitsplätze etc. sollen zurückkehren, aber davon kann keine Rede sein. Dvoøák hat es
erlebt: Hinter allen hohltönenden Worten sind persönliche und parteiliche
Interessen zu spüren, alle wollen ihren Bürgermeister haben, alle wollen die Finanzen
kontrollieren, und alle Verhandlungsführer haben schon vorher einen Posten für sich
selber ausgeguckt. Zu allem dem muß man noch die Familien- und Clanbeziehungen
hinzunehmen, die zehn Jahre der Kämpfe gegen den gemeinsamen Feind, aber auch unter- und
gegeneinander, und man hat die Gesamtsituation gleichsam in der offenen Hand. Also
wird das Kosovo nicht so, wie es die UN-Resolution 1244 verordnete, eine autonome Provinz
Serbiens, sondern es bleibt, wie es ist, nämlich mit Höchstraten an Arbeitslosigkeit,
Analphabetentum, Aids-Infektionen und Verbrechen.
Wolf Oschlies (KK)
Literatur und Kunst
Festung für Gott und den Zaren
Der Kreml Gottesruhm und Zarenpracht in der Kunst- und
Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn
Das um 1904 gefertigte Fabergé-Ei Moskauer Kreml war ein
Ostergeschenk des Zaren Nikolaus II. an seine Frau Alexandra Fjodorowna. Zusammen mit fast
300 anderen hochkarätigen Exponaten ist dieses Schmuckstück aus der Werkstatt der
weltberühmten Goldschmiedefamilie Carl Fabergé in der Ausstellung Der Kreml
Gottesruhm und Zarenpracht bis zum 31. Mai in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn
zu sehen. Den Besucher erwarten dort acht Jahrhunderte Kulturgeschichte rund um den
Moskauer Kreml, der sich in seiner wechselvollen Geschichte zum Symbol des russischen
Staatswesens und des orthodoxen Glaubens entwickelte.
Vor sieben Jahren feierten die Moskauer das 850jährige Bestehen ihrer Stadt. Damals
begann eine lebhafte Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der russischen Metropole,
die bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen: Unter der Bezeichnung Moskow wird
die damals noch bescheidene Holzfestung 1147 erstmals urkundlich erwähnt. Lange Zeit
stand das mittelalterliche Moskau im Schatten anderer Städte wie Kiew und Wladimir, bevor
es zum machtbewußten Zentrum der ganzen Rus' aufstieg. Allerdings brachten es die
Moskauer schon früh zu einem beträchtlichen Wohlstand. Juwelen und Geschmeide aus dem
sog. Großen Kreml-Schatz, den die Bewohner vor dem Mongolenangriff 1237/38 vergraben
hatten, zeugen von der hohen Kunstfertigkeit russischer Silberschmiede in der
vormongolischen Zeit. Neben wohlfeiler Massenware fertigten sie kostbaren Gold- und
Silberschmuck für weltliche und geistliche Würdenträger. Einige dieser filigranen
Kostbarkeiten aus dem Kreml-Schatz, der erst 1988 wieder geborgen wurde, sind in der
Bonner Ausstellung und damit erstmals außerhalb Rußlands zu sehen. Die
durch den Mongolensturm unterbrochenen Traditionen des Kunsthandwerks lebten nach
200jähriger Unterbrechung im 15. Jahrhundert wieder auf und fanden ihren Ausdruck in
herrlich geschmücktem Kirchengerät, edelsteinbesetzten Ikonen und kostbar bestickten
Gewändern. Für das in enger Kooperation mit dem Staatlichen kulturhistorischen Museum
Moskauer Kreml entstandene Ausstellungsprojekt hat Elena Gagarina,
Tochter des Kosmonauten Jurij Gagarin und heutige Kreml-Schatzhüterin, zahlreiche dieser
glanzvollen Zeugnisse der russischen Kultur preisgegeben.
Von der Pracht vergangener Zeiten lebt der Mythos Kreml bis heute. Festung für Gott und
Zar, stellt der goldüberkuppelte Moskauer Kreml seit Jahrhunderten das Herz Rußlands
dar. In seiner Entwicklung spiegelt sich die Geschichte dieses Landes und seiner Herrscher
wieder, eine Geschichte, die geprägt ist durch die Dualität der weltlichen und
geistlichen Macht. Über Moskau geht nur der Kreml, und über dem Kreml ist nur noch
Gott, wußte der Volksmund früher zu berichten. Vor dem Hintergrund markanter
Ereignisse der russischen Geschichte werden den Besuchern der Bonner Ausstellung
wechselweise sakrale und profane Denkmäler präsentiert, die interessante Einblicke in
die kulturelle und historische Entwicklung des Landes geben. Die enge Verflechtung der
politischen und religiösen Macht kann der Besucher in der Ikonenmalerei studieren, etwa
in der Anbetung des Kreuzes durch Herrscher und Patriarchen. Als Symbole der
weltlichen bzw. geistlichen Macht werden die Mitra des Metropoliten Iow und der Zarenhut
Iwans des Schrecklichen gegenübergestellt. Unter Iwan IV., dem Schrecklichen, rückte
Moskau zunehmend in das Blickfeld der internationalen Politik. Wertvolle Geschenke
ausländischer Gesandtschaften an die Zaren, darunter erlesenes Kunsthandwerk aus
Augsburg, Hamburg und Nürnberg, werden in der Ausstellung wirkungsvoll in Szene gesetzt.
Besonders eindrucksvoll präsentiert sich ein vierstöckiger Konfektbaum, den
die schwedische Königin Zar Alexej Michajlowitsch als Krönungsgeschenk überbringen
ließ.
Neben diesen effektvollen Prunkobjekten, die das Auge des Betrachters magisch anziehen,
sind es einige eher unscheinbare Exponate, aus denen sich tiefere Einblicke in die
russische Geschichte gewinnen lassen: Da ist der Reisebericht des Gesandten Sigismund von
Herberstein, der im Auftrag der Habsburger Krone zweimal nach Polen und in das Moskauer
Reich reiste (1516-1518 und 1526/27). Mit seinem Handbuch, dem der erste bekannte
Stadtplan Moskaus beigefügt ist, hat Sigismund von Herberstein das europäische
Rußlandbild nachhaltig geprägt. Ähnliches gilt für den Reisebericht des Gelehrten Adam
Olearius, der ein Jahrhundert später die Gesandtschaft des Herzogs von Holstein über
Moskau nach Persien begleitete. Neben dem Herberstein wurde auch der
Olearius zum Standardwerk der europäischen Rußlandkunde. In der Ausstellung werden
mehrere Originaldrucke gezeigt. Ein schmuckloses, für den Kenner aber hochinteressantes
Ausstellungsobjekt stammt aus der Zeit Iwans III. (1462-1505), unter dessen Herrschaft der
Kreml zu einer modernen Residenz ausgebaut wurde. Es handelt sich um den Grundstein der
Uspenskij-Kathedrale, in den die Namen der italienischen Baumeister in lateinischen
Schriftzeichen eingemeißelt sind. Iwan III. hatte für die Errichtung der orthodoxen
Kirchen im Kreml neben einheimischen auch italienische (d. h. andersgläubige) Baumeister
verpflichtet. Obwohl sich die Moskauer Kirchenführung rigoros gegen Einflüsse aus dem
lateinischen Westen abschottete und eifrig über die Reinheit des orthodoxen Glaubens
wachte, wurde die kulturelle Wiedergeburt des Alten Rußland nach der Abschüttelung des
Tatarenjochs von einer gleichzeitigen Hinwendung nach Europa begleitet.
Die Kreml-Ausstellung bildet den Schlußpunkt der deutsch-russischen Kulturbegegnung
2003/2004. Im kommenden Jahr wird sich die Bundesrepublik Deutschland in Moskau und St.
Petersburg präsentieren.
Julia aus der Wiesche (KK)
Fröhlich einsam bleibe ich
Zum 100. Geburtstag des schlesischen Arbeiterdichters Gerhart Baron
Im Bildungskurier, Jahrgang 1964, herausgegeben von der SPÖ in
Oberösterreich, lesen wir: Bundespräsident Dr. Schärf verlieh am 15. Februar 1964
dem Archivar der Arbeitskammer für Oberösterreich (in Linz) Gerhart Baron den
Berufstitel Professor, vornehmlich für seine Verdienste um die Bibliographie der
deutschen Arbeiterdichtung. Diese Auszeichnung ist ein Symbol für den geistigen Aufstieg
der Arbeiterklasse. Der Begriff des Arbeiterdichters, einer Arbeiterliteratur ist
heute kaum noch üblich, aber wie diese Ehrung von Gerhart Baron zeigt, war er bis in die
60er Jahre des 20. Jahrhunderts sowohl geläufig als auch besonders hoch gewertet.
Gerhart Baron wurde in Kandrzin im Kreise Cosel, einem bekannten oberschlesischen
Eisenbahn-Knotenpunkt, als Sohn eines Oberpostschaffners am 7. Mai 1904 geboren. Die
nächste Station hieß Hindenburg, es folgten bis zur Einziehung in den Kriegsdienst 1941
Neisse und Oppeln. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft wurde Oberösterreich
sein neues Zuhause, nachdem seine Bemühungen, in Bayern Fuß zu fassen, mißlungen waren.
In einem Rückblick heißt es: Neun Jahre Fabrikarbeiter, sechs davon nach der
Vertreibung, zuletzt Schichtarbeiter in der Zellwolle AG Lenzig in Oberösterreich, zehn
Jahre arbeitslos.
In Oberschlesien hatte er bereits im Büchereiwesen gearbeitet, wurde dann aber Opfer der
nationalsozialistischen Diktatur in Hindenburg, bis ihn seine Freunde, darunter auch der
oberschlesische Schulrat Karl Schodrok, nach 1936 wieder in Büchereien in Neisse und
Oppeln unterbringen konnten. Zwölf Jahre seines Lebensweges gehörten der Arbeit in
Bibliotheken.
In der Besprechung seines ersten Gedichtbandes Ankunft (1944 bei Rütten und
Loening in Potsdam) vom 28. November 1944 in der Schlesischen Zeitung in
Breslau heißt es: Storm und Lenau stehen als Schatten hinter diesen Gedichten, doch
ist es eine innere Verwandtschaft, keine literarische Verschwisterung oder gar
Abhängigkeit. ,Mein Auge, zernächtet und traurig, weiß längst um den uralten Schmerz.
/ Doch ,Ankunft' heißt meine Fahne, meine Seele durchströmt ein März'. Gerhart Baron
ist tief im oberschlesischen Glauben und Aberglauben verwurzelt, im Reich des Wassermannes
und der Mora ist er zu Hause. Im ,Altoberschlesischen Flößerlied' ist die Pschiponza,
der Gestalt gewordene Hitzeschlag, angesprochen: ,Aufglänzt das Korn, die Grillenwiese
singt. / Pschiponza grinst, die uns Verderben bringt'.
Das erste Lebenszeichen nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte den Schreiber dieses
Aufsatzes unter dem 4. Januar 1947 aus Ort im Innkreis, wo Gerhart Baron Zuflucht gefunden
hatte; er bangte zu dieser Zeit um seine Frau, die nicht mehr aus Hindenburg hatte fliehen
können, von Beruf Pianistin und Musikwissenschaftlerin war, jetzt aber als
Kokereiarbeiterin ihr Lebensminimum bestreiten mußte. Die Familienzusammenführung gelang
erst 1950. Mit erkennbarem Stolz erwähnt Gerhart Baron in diesem noch mit dem Stempel
Military Censorship versehenen Brief, daß Studienrat Günter Bialas, ein
später zu Recht berühmt gewordener Professor und Komponist, sieben Lieder von ihm
vertont habe, die auch in der Breslauer Aula Leopoldina vorgetragen wurden.
Das dichterische Werk ist nicht umfangreich, leider aber auch schwer zugänglich. Nach den
48 Gedichten unter dem Titel Ankunft erschien 1964 im Verlag Josef Habbel in
Regensburg eine Sammlung von 80 Gedichten unter dem Titel Die Wiedergeburt.
Verstreut findet man Gedichte abgedruckt, so etwa Jauernig-Johannesberg
(Sommersitz der Breslauer Bischöfe), das mit den Versen beginnt: Stumme Blumen
pflücke ich, / Keine, die sich wehren könnte. / Kleine Stadt beglückte mich, / Traulich
alte, besonnte. / Nichtigkeiten treibe ich, / Fröhlich einsam bleibe ich / In den Gassen,
wo das Volk sich staut. / Wie zur Hochzeit einer schönen Braut.
Gerhart Baron liebte den Reim und rang um das treffende Wort für das innere Bekenntnis.
Das Gedicht Ein Schlesier im Innviertel sei mit der ersten Strophe zitiert
(obschon die Mehrzahl der Gedichte nicht der Heimat gelten): Schwermutschwer Geduld
zu üben, / Wem Vollendung gilt Gewinn. / Hinter Gärten zieht mit trüben / Wassern
dieser Bach zum Inn. / Hinter Wiesen schwingt mit milden / Linien sich der Berg empor. /
Alles mahnt mich, den Gefilden / Treu zu sein, die ich verlor.
Kurz vor seinem 74. Geburtstag ist Gerhart Baron am 7. März 1978 in Linz gestorben. Seine
Wurzeln lagen an der Oder in Oberschlesien, im oberösterreichischen Linz an der Donau
endete der Weg des Arbeiterdichters, der beides gleichermaßen war: Arbeiter
und Dichter. Die hohe Auszeichnung mit dem Titel eines Professors wurde bereits zitiert,
aber es bleibt zu wünschen, daß Gerhart Baron als Dichter zur Kenntnis genommen und auch
gelesen wird.
Herbert Hupka (KK)
Ohne Etikett, aber mit Qualitätssiegel
Dem siebenbürgischen Künstler RADU Anton Maier zum Siebzigsten
Der Maler, Grafiker und Buchillustrator RADU Anton Maier ist auf dem Gebiet der
Malerei ein Einzelgänger. Bekannt wurde sein OEuvre unter dem Namen RADU, mit dem er
seine Arbeiten signiert. Am 2. April 1934 in Kölns heutiger Patenstadt Klausenburg in
Siebenbürgen (rumänisch Cluj, ungarisch Kolozsvár) geboren, studierte er an der
dortigen Kunstakademie, wurde Assistent seines Professors Aurel Ciupe und hatte bereits
mit 26 Jahren seine erste Einzelausstellung.
Es überrascht, daß nach der Klausenbuger Ausstellung weitere in Bukarest, Jassy,
Miercurea Ciuc,Temesvar und Arad folgten, obwohl er dem sozialistischen Stil im
kommunistischen Rumänien nicht folgte, sondern seinen eigenen künstlerischen Weg ging.
1956 durfte er sogar in Kiew, 1958 in Leningrad ausstellen. Dennoch verließ er 1967 seine
Heimat, nachdem er kurz davor mit einer Einzelausstellung in seiner Vaterstadt gewürdigt
worden war. Nach wiederholtem Ortswechsel lebt er nun in Fürstenfeldbruck.
Die Qualität seiner Malerei und seine künstlerische Sonderstellung haben ihm auch in der
Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen eingebracht. In
seinen Gemälden begegnet man seiner Phantasie, Traum und Wirklichkeit sowie
handwerklichem Können. Nicht zu übersehen, daß seine Tätigkeit als Grafiker, die
technische Perfektion erfordert, auch seiner Malerei geholfen hat. Voraussetzung war die
gediegene Ausbildung an der Klausenburger Akademie und in den 60er Jahren seine Arbeit im
Atelier des Professors Corneliu Baba zu Bukarest. In gegenstandsfreie Gefilde hat er sich
nie begeben, machte sich aber die Erkenntnisse seiner abstrakten Kollegen
zunutze. Seine Ausstellungserfolge legen dafür Zeugnis ab.
Vergessen hat der Klausenburger Künstler seine alte Heimat nicht. Zu ihr nahm er nach den
positiven politischen Wandlungen in Rumänien wieder engen Kontakt auf. 1991 fand in
Klasuenburg eine Einzelausstellung statt, 2001 im Brukenthal-Museum zu Hermannstadt. In
Klausenburg bereitet das dortige Nationalmuseum eine Monographie vor, und ebenfalls in
diesem Jahr findet anläßlich des 70. Geburtstags des Künstlers in Bukarest eine
repräsentative Retrospektive statt. Ausstellungen in München und Regensburg sind
ebenfalls in Vorbereitung. Die so wichtige kulturelle Ost-West-Brücke wird also auch vom
Siebenbürger in Bayern geschlagen. Amüsant, wie man RADU Anton Maier in Hermannstadt
anläßlich seiner Ausstellung im Brukenthal-Museum eingeordnet hat:
Musemsdirektor Alexandru Lungu nannte ihn einen rumänischen Maler deutscher
Herkunft, der deutsche Kulturattaché Harald Gerlich einen deutschen Künstler
rumänischer Herkunft.
Es fällt nicht leicht, RADUs Kunst mit herkömmlichen Stilbegriffen zu etikettieren. Er
ist schwer, wenn überhaupt, in die europäische Kunstszene von heute einzuordnen,
ein Umstand, welcher der Notwendigkeit obendrein entbehrt, meint Erich
Pfeiffer-Belli.
RADU geht von der Wirklichkeit aus, die er stets phantasievoll umgestaltet mittels seiner
perfekten Technik. Seine Motive und Themen sind das Porträt, die Landschaft, das
Stilleben. Und im Rückblick auf seine porträtreiche Zeit daheim äußert sich der Maler:
Beim Porträtieren ging es mir weniger um die Herstellung einer Ähnlichkeit im
naturalistischen Sinne als um das Herausarbeiten psychologischer oder charakteristischer
Züge. Seine Landschaften wurzeln in seiner naturverbundenen siebenbürgischen
Heimat, sind aber keinesweg fotografische Wiedergaben. Da wird man mit Pflanzen aller Art
konfrontiert: Blumen, Früchten, Zweigen, abgestorbenem Geäst, phantastischen Gestalten,
bisweilen menschlichen Gliedern vergleichbar. In seine Landschaften stellt er bisweilen
Ruinen, Säulen, Steine wie aus der Antike Symbole der Vergänglichkeit.
Seine nicht selten surrealistisch anmutenden Gemälde laden den Betrachter zum Mittun ein.
Da gibt es auch Landschaften, die die Blicke in weite Horizonte lenken und dabei
romantische Gefühle hervorrufen. Eine Sonne als intensiv roter Kreis steht am Himmel,
oder sie leuchtet auf einem anderen Acryl-Gemälde in einem hellen Gelb. Die Kompositionen
bieten Form- und Farbelemente an, wie sie von den sogenannten abstrakten Malern erfunden
wurden. Die Errungenschaften der modernen gegenstandsfreien Künstler gingen an RADU nicht
spurlos vorüber. Aber er blieb der Wirklichkeit treu.
Kein Wunder, daß er den Romantiker Capsar David Friedrich und den Surrealisten Salvadore
Dali schätzt. Diese Künstler aus Pommern und Spanien und RADU Anton Maier aus
Siebenbürgen gehen ja von der Realität und dem Traum aus, verbinden sie jedoch
phantasievoll in ganz persönlicher Weise. Ein Jahnhundert der abstrakten
Kunst geht zu Ende.Die Suche nach neuen Wegen hat längst begonne, mit nicht allzu großem
Erfolg. Das Werk des Siebenbürgers RADU aber ist optimistisch und stimmt ebenso.
Günther Ott (KK)
Baltische Impressionen
Pranas Domaitis im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus
Das Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus und das Lietuvos Dailés Muziejus in
Memel/ Klaipeda zeigen eine gemeinsame Ausstellung mit Gemälden von Pranas Domaitis
(geboren 1880 in Cropiens/Bezirk Königsberg gestorben 1965 in
Kapstadt/Südafrika). Der aus Preußisch-Litauen stammende Maler zählte in der Weimarer
Republik zu den bedeutendsten Künstlern und war als herausragender Schöpfer von
Landschaftsbildern und religiösen Kompositionen bekannt. Er nahm gemeinsam mit deutschen
Expressionisten an Ausstellungen in Berlin, Stettin und Königsberg teil. Im Dritten
Reich erhielt der litauische Maler in dessen Geburtsurkunde übrigens die
deutsche Form seines Namens, Franz Domscheit, verzeichnet ist Ausstellungsverbot
und übersiedelte 1949 nach Südafrika.
Einige der in Düsseldorf ausgestellten Bilder erinnern an die baltische Heimat Domaitis',
während sich andere wie Verkündigung (Öl/Karton, 1952) auf
Aspekte des neuen Lebens beziehen.
Im Jahre 2001 ist in Klaipeda die Pranas-Domaitis-Galerie eingerichtet worden, in
der ein Großteil des Nachlasses zu sehen ist. Darüber hinaus beschäftigt sich das
Pranas-Domaitis-Kulturzentrum mit dem Leben und Werk des Künstlers.
Dieter Göllner (KK)
Die Sendung Alte und neue Heimat des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, befaßt sich am 2. Mai mit der EU-Osterweiterung, und am 9. Mai leistet Franz Heinz seinen Beitrag zur Diskussion Mitteleuropa.
Hans-Günther Parplies, stellvertretender Vorsitzender des OKR-Stiftungsrates, ist mit überzeugender Mehrheit zum Landesvorsitzenden NRW des BdV wiedergewählt worden.
Das Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf zeigt bis zum 20. Juli die Ausstellung Die Albertina. 450 Jahre Universität in Königsberg. Dazu gibt es einen zweisprachigen Katalog, der 1994 im Westkreuz-Verlag erschienen ist.
Die Galerie Schlichtenmaier auf Schloß Dätzingen, Grafenau, veranstaltet bis zum 8. Mai eine umfangreiche Ausstellung mit Klassischer Moderne, darunter zahlreichen Werken ostdeutscher Künstler von Käthe Kollwitz über Alfred Kubin bis zu George Grosz und Ludwig Meidner.
Der Maler Hans Laabs, 1915 in Hinterpommern geboren, Schüler von Oskar Moll in Berlin, Altmeister und Schöpfer farbkräftiger, ausdrucksstarker Gemälde, ist in Berlin gestorben.
Grafiken von Kaspar Teutsch, dem 1931 in Kronstadt geborenen Künstler, zeigt die Rathausgalerie Ebersberg unter dem Titel Begegnungen.
Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath, in Leipzig geboren, 1938 mit den
Eltern nach Rumänien geflüchtet, wo er ins Getto deportiert wurde, nach der Befreiung
über die Stationen Palästina, Frankreich und USA schließlich 1975 nach Berlin gelangt,
hat an seinem 78. Geburtstag sein literarisches Archiv der Berliner Akademie der Künste
geschenkt. Darunter sind zahlreiche Briefe, Werkmanuskripte sowie Tagebuchaufzeichnungen
aus dem Getto.
(KK)