KK 1182 2004-03-10
Ausschreibung zum OKR-Erzählerwettbewerb
Ulla Lachauer: Über Unwissen, Vorurteile und mögliche
Annäherungen
Eberhard Günter Schulz: Immanuel Kant als Naturforscher
Herbert Hupka: Franz Landsberger, ein glühender
Patriot
Roswitha Wisniewski: Deutsch-polnisches Seminar zu Pommern in
der Literatur
Dietmar Stutzer: Der Schwarzenbergische Schwemmkanal und sein
Erbauer
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Pavel Liska: Kafkas Prag in der Sicht von Jiri
Georg Dokoupil
Peter Mast: Peter Demetz über das Kino zur Zeit des
Protektorats
Jochen Hoffbauer: Ilse Tielsch zum 75. Geburtstag
Günther Ott: Die Kölner Galerie Boisserée holt Ost nach
West
Edith Ottschofski: Der Berliner Bär für Kurzfilme an
Cristi Puia
KK-Notizbuch
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Leben nach dem Überleben
Die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat schreibt einen Erzählerwettbewerb zu Not und
Armut als Folgen von Flucht und Vertreibung aus
Zeitzeugen ein Wort, wie geschaffen für eine Mediengesellschaft, in der
Unverbindlichkeit das Wort führt. Weder braucht man dabei genau zu bestimmen, wofür oder
wogegen sie zu zeugen haben, es ist die Zeit. Noch erwartet man eine Wertung
der Ereignisse von ihnen. Zeitzeugen sollen schlicht aussagen, aus ganz eigener Sicht und
eigener Erfahrung, uns damit aber nicht allzu nahe treten. Am besten, sie erscheinen im
Fernsehen, das man jederzeit abschalten kann.
Ein Weg aus dieser Beliebigkeit sprachlicher Äußerungen ist die literarische Gestaltung.
Durch sie können sich auch Menschen, die nicht direkt betroffen sind, diese
ungewöhnlichen Erfahrungen zu eigen machen. Erleben wird erst nachvollziehbar, neu
erlebbar, wenn es in eine mitreißende sprachliche Form gebracht worden ist.
Die Ereignisse des Krieges und der Nachkriegszeit, Zerstörung, Flucht und Vertreibung,
Entwurzelung und Neubeginn unter schwierigen Bedingungen dieser Stoff hat ein
existentielles Gewicht, dem die Verarbeitung in den elektronischen Medien kaum Rechnung
trägt. Das kann sie schon aus ökonomischen Gründen nicht, weil dafür strenge Zeit- und
Raumvorgaben bestehen und man immer eine fiktive Zielgruppe im Auge hat, die
als Zuschauer gewonnen werden soll.
Ob also dieser Stoff nun unmittelbar eigenem Erleben entspringt oder vermittelt ist: Erst
jemand, der mit ihm und seinen Gedanken und Empfindungen auf sich selbst gestellt ist,
wird sich um seiner selbst willen um Klärung bemühen, Satz für Satz, Wort für Wort.
Damit wird zugleich dem Gedanken der Versöhnung zwischen den Nachbarvölkern ein ebenso
nachhaltiger wie wahrhaftiger Dienst geleistet.
Ergebnisse solcher Selbstbefragungen in Prosa bis zu zehn Seiten à 1800 Anschläge
erwartet die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat bis zum 30. Juni 2004 in siebenfacher
Ausfertigung. Die Zusendung erfolgt anonym, die Personalien des Einsenders bitten wir in
einem verschlossenen Umschlag beizulegen. Bereits veröffentlichte Texte sind leider vom
Wettbewerb ausgeschlossen.
Eine unabhängige Jury vergibt drei Preise in Höhe von 1500, 1000 und 500 Euro, die am
23. Oktober 2004 im Rahmen einer Festveranstaltung im Haus der Geschichte, Bonn,
überreicht werden. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt.
Es wird vorausgesetzt, daß die Teilnehmer mit einer Veröffentlichung ihres Namens
einverstanden sind, ebenso mit einer unentgeltlichen Veröffentlichung der preisgekrönten
Beiträge in einer Sonderausgabe der Kulturpolitischen Korrespondenz. Der
Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Schicken Sie Ihr Manuskript bitte an die
Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Kaiserstraße 113, D-53113 Bonn (Telefon 02 28 / 21 37
66)
(KK)
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Fremdheit ist anstrengend
Über Unwissen, Vorurteile und mögliche Annäherungen
Jedesmal wenn ich Maria Pauls, Ritas Großmutter, in Kehl am Rhein besuchte, hatte ich
nach ein paar Stunden das unwiderstehliche Bedürfnis: Ich wollte fort. Anfangs besonders,
als ich um ihr Vertrauen kämpfte. Aber auch später, in den Gesprächen über die
Deportation nach Kasachstan, die Verhaftung ihres Mannes, die ganze elende Stalinzeit, und
ich glaubte, selbst auf Höllenfahrt zu gehen. Sogar in den Augenblicken, wenn die alte
Frau sich an ihre Kindheit in Lysanderhöh erinnerte, an das untergegangene Dorf in der
Wolgasteppe, wo sie vor der Deportation bis zum Alter von 14 Jahren glücklich und
geborgen war. Und wir zusammen sangen Guter Mond, du gehst so stille oder
eines jener mennonitischen Trostlieder, die sie mir, der gelernten Katholikin, beibrachte.
Unsere Begegnungen waren interessant, zuweilen innig, und trotzdem zog es mich nach einer
Weile fort mit Macht. Ich flüchtete meist auf die andere Rheinseite, von Kehl nach
Straßburg ist es ein Katzensprung. Für ein, zwei Stunden, mal eben einen Blick ins
Münster werfen, in den erhabenen gotischen Raum, einen Riesling trinken im
Strissel, und ich war wieder in meiner Welt. Maria Pauls, auch das ist Teil
unserer Fremdheit, könnte ich davon niemals erzählen. Straßburg ist ein
Steinhaufen, sagte sie einmal das Urteil einer Bauerntochter und
Kolchosarbeiterin, einer Landpomeranze eben.
Fremdheit ist anstrengend. In den vier Jahren, während ich versucht habe, die
Familiengeschichte der Pauls, eine wahre Odyssee, über anderthalb Jahrhunderte und drei
Kontinente, zu verstehen, fühlte ich mich notorisch überanstrengt, an manchen Tagen
verzweifelt. Welcher Teufel hat mich geritten, dachte ich, gibt es nicht nettere oder
wenigstens kleinere Themen, lukrativere allemal? Warum läßt du es nicht,
hörte ich oft von Menschen, die mich gern haben. Vergebliche Liebesmüh,
sagte ein geschätzter Kollege, Leid ist nicht kommunizierbar, dieser Satz
traf mich tief.
Einer der Gründe, warum ich das Buch in der Ich-Form geschrieben habe: Ich wollte die
Leser teilhaben lassen an den Herausforderungen der Fremdheit, dem Versuch, eigene
Vorurteile zu überwinden. Es gibt die Rußlanddeutschen nicht, mußte ich
lernen, noch viel weniger als die Ostpreußen, die Schlesier, die
Bayern. Rußlanddeutsche wanderten einst aus Schwaben, Hessen, Westpreußen aus, sie
gründeten Kolonien in Rußland an Hunderten unterschiedlichen Orten, wurden an Tausende
noch verschiedenere Orte in Asien deportiert. Wo soll da ein gemeinsames
Selbstverständnis herkommen? Wer sind sie überhaupt? Deutsche oder Russen? Eine oft
gestellte, völlig falsche Frage.
Man muß sich klarmachen, daß sie und uns Hiesige mehr als 200 Jahre Geschichte trennen,
schon lange vor Hitler und Stalin lebten wir in ganz verschiedenen Welten. Das ist nicht
ruckzuck zu überwinden, das braucht Zeit, mehr als die Annäherung der Bürger beider
deutscher Staaten, die gerade mal 40 Jahre getrennt waren.
Rußlanddeutsche sind heute die größte Minderheit im Lande, 2,5 Millionen, Tendenz
weiter steigend. In der Euphorie der Wende schienen sie zunächst willkommen, man
idealisierte sie als die besseren Deutschen, jetzt, in der ökonomischen
Krise, werden sie öffentlich vor allem als Kriminelle und Drogensüchtige dargestellt.
Man glaubt sich zu Recht enttäuscht oder getäuscht Medienstimme, Volkesstimme, in
diesem Fall beinahe identisch. Darin kommt vor allem zum Ausdruck, daß man den
Aussiedlern ihre Fremdheit nicht zugesteht. Historisch gehören sie zu uns, und zugleich
haben die meisten ebenso große Integrationsprobleme wie Türken, Portugiesen und andere
Zuwanderer. Ein schwer zu begreifender Widerspruch.
Fast jeder begegnet heute Fremden, in der Straßenbahn, in der Schule, in der Arbeit. Je
multikultureller der Alltag, desto größer wird die Herausforderung. Fremdheit ist ein
ursprüngliches Gefühl, ohne die Unterscheidung: wir und die anderen, gäbe es
keine Gemeinschaft. Aber ohne eine Brücke zwischen uns und den anderen gibt es keine
zivile Gesellschaft. Im Zusammensein mit der Familie Pauls habe ich gelernt, wie wichtig
die unmittelbare Begegnung ist, die nichtmediale, direkte Wahrnehmung. Einander ins
Gesicht schauen, zuhören, wissen wollen, die Vorstellungskraft bemühen. Der
Mensch, sagte Blaise Pascal, Mathematiker und Mystiker im 17. Jahrhundert, über
unsere Spezies, ist das Wesen, das fröhlich und untröstlich ist. Das im
anderen erkennen, SO und das ist, wie es bei mir zu Hause in Westfalen heißt,
himmelhundeschwer.
In Mannheim, wo ich schon lange lebe, gehe ich oft am Rhein spazieren und sehe die Angler
sitzen. Ältere oder nicht mehr ganz junge Männer, Einheimische und neuerdings auch
Rußlanddeutsche. In gewissem Abstand voneinander, ihre Rücken kann ich aus hundert Meter
Entfernung gut unterscheiden. Eine kritische Situation, zumal es seit einiger Zeit wieder
mehr Fische gibt, sogar Lachse. Es wäre leichter, denke ich, wenn man ein bißchen
voneinander wüßte. Wenn die Mannheimer wüßten, daß die russisch sprechenden
Konkurrenten neben ihnen früher am Ob oder Jenissej gefischt haben, an großen wilden
Flüssen, und unter anderem dasitzen, weil sie ihr Heimweh stillen. Und daß mit gewisser,
ziemlich großer Wahrscheinlichkeit ihre Väter erschossen worden sind, als sie Kinder
waren. Wenn umgekehrt den rußlanddeutschen Anglern bewußt wäre, daß die
Mannemer, die so eifersüchtig über ihre Fische wachen, am Rhein groß
geworden sind. Sie haben darin schwimmen gelernt, als der Strom noch keine Schiffsautobahn
war. Sie lieben ihn, und vermutlich hat der eine oder andere den Bombenkrieg durchlebt,
die vollkommene Zerstörung der Heimatstadt.
Ulla Lachauer (KK)
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Erkenntnis als Quelle der Ehrfurcht
Immanuel Kant als Naturforscher
Das faszinierendste wissenschaftliche Erlebnis des jungen Kant in seiner Studienzeit
war die Newtonsche Mechanik und Gravitationslehre. Als er am Ende seiner Hauslehrerzeit
nach Königsberg zurückkehrte, trat er mit mehreren physikalischen Arbeiten an die
Öffentlichkeit. Geradezu berühmt wurde er mit seiner Kosmogonie Allgemeine
Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem
mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen
abgehandelt, die er 1755, im Jahre seiner Habilitation zum Magister legens in der
Philosophie, veröffentlichte. Den Anstoß zu seiner Lehre empfing er von dem 1750 in
London erschienenen Buch von Thomas Wright aus Durham, An original theory and new
hypothesis of the Universe, das er kennengelernt hatte aus einem 1751 in den
Hamburgischen Freyen Urtheilen und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und
Historie überhaupt erschienenen Bericht.
Kant, der aus dem angenommenen ursprünglichen Chaos der Materie sich die Himmelskörper
nicht durch Zufall, sondern durch Gesetze der Mechanik bilden läßt, tritt gleich in der
Vorrede der Folgerung entgegen, daß seine Naturlehre der Religion als Lehre von Gott als
Schöpfer der Natur Abbruch tun könne. Die Bindung allen Naturgeschehens an
unumstößliche Gesetze sieht er geradezu als Hinweis auf die höchste denkbare Weisheit
an. Noch 1790, in der mit Anmerkung überschriebenen Schlußpartie des § 86
der Kritik der Urteilskraft, sagt Kant von dem in einer schönen Natur das
Leben heiter und ruhig genießenden Menschen, daß er ein Bedürfnis in sich fühle,
irgend jemand dafür dankbar zu sein. Je umfassender die gesicherte
Naturerkenntnis des Menschen, desto größer seine Bewunderung und Ehrfurcht gegenüber
dem bestirnten Himmel über mir.
Da der französische Naturforscher Laplace (1749-1827) eine ähnliche, auf die Newtonsche
Gravitationslehre gegründete Theorie der Entstehung der Himmelskörper entwickelt hat,
spricht man heute von der Kant-Laplace-Theorie der Entstehung des Planetensystems.
1756 veröffentlichte Kant drei Abhandlungen über das Erdbeben von Lissabon gegen Ende
des Jahres 1755. Er geht den natürlichen Ursachen gründlich nach und weist jedes Gerede
von einem Strafgericht Gottes als Anmaßung und sträflichen Vorwitz zurück.
Das gedruckte Programm seiner Vorlesungen im Sommersemester 1756 enthielt Neue
Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde, die Kant ebenfalls als Pionier
der Naturwissenschaft zeigen.
Seine größte allgemeine Wirksamkeit auf dem Felde der Naturkenntnis erzielte Kant mit
seiner Vorlesung über Physische Geographie, die er 1757 zum ersten Mal und
dann über Jahrzehnte alle zwei Semester im Wechsel mit seiner Vorlesung über
pragmatische Anthropologie gehalten hat. Die erste Ankündigung dieses Kollegs war
wiederum von einer meteorologischen Abhandlung begleitet mit dem Titel Ob die
Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer
streichen?. In dieser beliebten Vorlesung hat Kant seine vor allem durch die
Lektüre von Reisebeschreibungen erworbenen Kenntnisse über die Flora, Fauna und die
verschiedenen Menschenrassen und Völker der Erde ausgebreitet und auch dazu beigetragen,
dem Fach Geographie einen Platz an den Universitäten zu verschaffen.
Der Justiz- und Kultusminister Friedrichs des Großen, Karl Abraham Freiherr von Zedlitz,
der Kant nach Halle holen wollte und dem dieser später seine Kritik der reinen
Vernunft gewidmet hat, erbat sich von ihm eine Nachschrift dieser Vorlesung. Kants
Schüler Friedrich Theodor Rink, zunächst Professor für orientalische Sprachen in
Königsberg und seit 1800 Pastor in Danzig, hat die Physische Geographie 1802
aus den ihm dazu von Kant überlassenen Aufzeichnungen herausgegeben.
So muß es nicht verwundern, daß Kant bis 1781 nur als Naturforscher berühmt war. Den
Philosophen Kant hatten vor der Kritik der reinen Vernunft nur eine kleine
Zahl von Fachgelehrten sowie der Minister von Zedlitz und die Königlich-preußische
Akademie der Wissenschaften wahrgenommen.
Auch nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft hat Kant gelegentlich
naturwissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht: 1785 Über die Vulkane im
Monde und 1794 Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung.
Außerdem hat er den Fragen, die sich auf die Erhaltung und Wiederherstellung der
Gesundheit beziehen, ein durch seine etwas schwache Konstitution noch verstärktes
Interesse zugewandt. In seiner Schrift Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen
Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein berichtet er über seine an sich
selbst gemachten Erfahrungen, die er als naturheilkundliche Reflexionen der medizinischen
Wissenschaft an die Seite und auch entgegenstellt. Er hat diese Abhandlung 1798 seiner
letzten eigenen Buchveröffentlichung Der Streit der Facultäten als dritten
Abschnitt unter der Überschrift Der Streit der philosophischen Facultät mit der
medicinischen eingefügt. Gewidmet hat er diese Arbeit dem Arzt Christoph Wilhelm
Hufeland (1762-1836), damals Professor in Jena und später auch Leibarzt Goethes, der am
12. Dezember 1796 sein Buch Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern an
Kant geschickt hatte. Hufeland hatte darin, wie er an den Philosophen schreibt, die
moralische Kultur als unentbehrlich zur physischen Vollendung gezeigt und war damit
bei ihm auf Zustimmung gestoßen. So kam es zu Kants Abfassung seiner einschlägigen
Erfahrungen und Gedanken.
Eberhard Günter Schulz (KK)
KK1182 Seite 6
Brief von Karl Abraham Freiherr von Zedlitz an Immanuel Kant
Ich stünde mir selbst im Lichte, mein lieber H. Pr. Kant, wenn ich nicht den Verzug
der Übersendung Ihrer physischen Geographie auf alle Weise genehmigen wollte. Die
Ursachen, die Sie anführen, gereichen zu meinem Vorteil. Ich habe vor einiger Zeit
Bergmanns phys. Beschreibung der Erdkugel angefangen, die mich noch etwas aufhalten wird,
so sehr ich mich auch über den Uebersetzer ärgere, der sich nicht einmal die Mühe
gegeben, das unbehülfliche schweizerische Maaß auf unseres zu reduciren, u. der einen so
schländrigen Styl hat und oft unrichtig ist.
Ich werde diesen Winter bey Ihrem ehemaligen Schüler, dem H. Herz, die anthropologiam
rationalem hören. Ich verspreche mir viel Gutes von dem Collegio. Da ich nicht Zeit
übrig habe, bey Stümpern in die Schule zu gehen, so bin ich immer sehr behutsam, ehe ich
so was, ja oft ehe ich die lecture eines Buches anfange; allein Mendelssohn hat für
Herzens Talent gut gesagt, u. auf dessen Bürgschaft unternäme ich wohl wer weiß was,
zumal da ich weiß, daß Sie für Herzen Achtung haben und mit ihm in einer Art von
Briefwechsel sind.
Erstreckt sich Ihr heuristisches Talent so weit, so geben Sie mir doch Mittel an die Hand,
die Studenten auf Universitäten von den Brodt-Collegiis zurückzuhalten und ihnen
begreiflich zu machen, daß das bischen Richterey, ja selbst Theologie u.
Arzney-Gelahrtheit unendlich leichter und in der Anwendung sichrer wird, wenn der Lehrling
mehr philosophische Kenntniß hat, daß man doch nur wenige Stunden des Tages Richter,
Advocat, Prediger, Arzt u. in so vielen Mensch ist, wo man noch andere Wissenschaften
nöthig hat. Kurz dieß alles sollen Sie mich lehren den Studenten begreiflich zu
machen. Gedruckte Anweisungen, Leges, Reglements, das ist alles noch schlimmer, als das
Brodt-Collegium selbst.
Ich wünschte, daß ich Mittel finden könnte, Ihnen zu beweisen, wie sehr ich bin
Ihr Freund und Diener Zedlitz.
Berlin, den 1. August 1778.
Zedlitz hatte mit Schreiben vom 28. Februar 1778 die Berufung Kants nach Halle, der
damaligen preußischen Muster-Universität, ausgesprochen und ihm ein Jahresgehalt von 600
Talern geboten, mehr als das Doppelte des Gehalts in Königsberg. Am 28. März erneuerte
der Minister die Berufung und bot 800 Taler jährlich. Kant lehnte mit Rücksicht auf
seine körperliche Konstitution und den für sein Wohlbefinden wichtigen Königsberger
Freundeskreis ab. Zedlitz erhöhte ihm nicht viel später das Gehalt in Königsberg.
Der obige Brief zeigt, daß der durch Bildung und Liberalität ausgezeichnete
Minister mehr von dem wahren Wert akademischer Studien verstand als die meisten
einschlägig Verantwortlichen nach ihm und besonders in unseren Tagen.
E. G. Sch. (KK)
KK1182 Seite 7
Bilder, von Jahr zu Jahr lebhafter werdend
Franz Landsberger, ein glühender Patriot und begeisterter Schlesier
Das Zitat im Untertitel ist einem Antwortbrief seiner Witwe auf meine Beileidschreiben
nach dem Tode von Professor Dr. Franz Landsberger, gestorben am 17. März 1964 im 81.
Lebensjahr in Cincinnati im Staate Ohio, entnommen. Auch Professor Ernst Scheyer, gleich
ihm Kunsthistoriker und zuvor sein Schüler, als Emigrant nunmehr in Detroit ansässig,
wiederholt in seinem Nachruf, veröffentlicht in der Vierteljahresschrift
Schlesien, diese Charakterisierung. Ich hatte mit Professor Landsberger zum
Ende des Jahres 1961 eine Korrespondenz begonnen, um ihn zur Mitarbeit für den Band
Leben in Schlesien zu gewinnen. Mit seinem Beitrag Bilder stiegen in mir
auf eröffnete ich den zweiten Band. Als das Buch 1964 erschien, hatte uns auch die
Todesnachricht aus Cincinnati erreicht.
Drei Jahrzehnte war Landsberger mit Breslau eng verbunden. Am 14. Juni 1883 wurde er in
Kattowitz als Sohn eines Bankiers geboren, aber sein Abitur legte er 1903 in Breslau ab
und begann hier sein Studium, das ihn auch nach Berlin, Genf und München führte. In
Breslau promovierte er, und das Ergebnis seiner Promotion fand 1908 seinen Niederschlag in
seinem Buch über Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, allgemein der Goethe-Tischbein
genannt (Goethe in der Campagna). Dann habilitierte er sich in Breslau zu
einer mittelalterlichen Handschrift aus St. Gallen. Mit 30 Jahren war er bereits Professor
der Kunstgeschichte an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität. Vielen, die
seit 1913 jung und an den Künsten interessiert waren, ist er zum Helfer und Lehrer
geworden, wie Ernst Scheyer zu berichten weiß. Noch einmal erscheint der Name
Goethe in einem grundlegenden Werk von Landsberger: Die Kunst der Goethezeit,
rechtzeitig zum Goethejahr 1932 im Leipziger Insel-Verlag ediert. Gleichzeitig wurde er
weit über Schlesien hinaus durch die Breslauer Monatshefte, eine geistig
hervorragend geleitete Publikation, zunächst als Redakteur, dann bis 1933 als
Chefredakteur bekannt.
Zwischen den Redaktionen der Schlesischen Monatshefte unter seiner Leitung und
Unser Oberschlesien unter Schulrat Karl Schodrok gab es das beste Einvernehmen
und eine beispielgebende Zusammenarbeit. Ernst Scheyer schreibt aus Anlaß des
75. Geburtstages von Landsberger: Er, der Gerhart Hauptmann, Hermann Stehr, Ricarda
Huch und viele andere als Mitarbeiter an die ,Schlesischen Monatshefte gebracht, der
durch seine zahlreichen werbenden Preisausschreiben und Ausstellungen im Interesse des
,jungen Schlesiens der Dichter, Musiker und Künstler gewirkt, mußte sein Werk,
seine Heimat und Habe aufgeben. Landsberger, Max Liebermann in Berlin seit langem
verbunden, ging zunächst nach Berlin als ,freier Schriftsteller, Redner,
Ausstellungsorganisator jüdischen Kulturlebens, und diese Tätigkeit führte schließlich
zur Leitung des Jüdischen Museums.
Jedoch im Zusammenhang mit der Reichskristallnacht wurde er im November 1938
im Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen inhaftiert. Aufgrund seiner Einwilligung
zu emigrieren kam er wieder frei. Der Weg führte dann über London in die USA, wo er noch
vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Cincinnati gelangte. Hier lehrte er als
Professor der Jüdischen Geschichte und war zehn Jahre bis zu seiner Emeritierung Kurator
des Jüdischen Museums.
Während der Jahrzehnte in Breslau gab er 1926 in der Reihe Berühmte
Kunststätten einen Band über die Stadt heraus. Er ist der Verfasser des Büchleins
Impressionismus und Expressionismus, das zu einer Auflagenhöhe von 30 000
emporschnellte. Man muß in den schon erwähnten Erinnerungen nachlesen, um sich ein Bild
von der Lebendigkeit der in ganz Deutschland berühmt gewordenen Kunstakademie in den
ersten mehr als zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machen zu können.
Mit Stolz blickt Landesberger in seinen Erinnerungen zurück, indem er das neue
Interesse für Breslau, ja für ganz Schlesien als Grund für die Herausgabe der
Zeitschrift Schlesische Monatshefte nennt. Hier hatte er den künstlerischen
Teil übernommen, seit 1926 redigierte ich aber die ganze Zeitschrift,
gleichzeitig schrieb er Kunstkritiken in der in ganz Schlesien als überregionales Blatt
angesehenen Schlesischen Zeitung.
Zu den jungen Autoren, die in den Schlesischen Monatsheften zur Mitarbeit
eingeladen wurden, gehörten Friedrich Kayßler, Jochen Klepper, August Scholtis, Oda
Schäfer. Gleichzeitig benutzte Landsberger auch das neue Medium Rundfunk, die
Schlesische Funkstunde unter dem Intendanten Fritz Walter Bischoff (später
nur noch Friedrich Bischoff) zu Vorträgen über das Neue und Großartige in der
Kulturlandschaft Schlesien.
Noch in seinem Rückblick übt Landsberger heftige Kritik an der Regierung Preußens und
seinem Kultusministerium: Der Preußische Staat ließ das kunstliebende Breslau im
Stich. Man ließ eine so wichtige Kulturstätte wie die Breslauer Kunstakademie (1931
geschehen) eingehen und zwang so bedeutende Künstler wie Moll, Kanoldt, Schlemmer und
Molzahn, die Stadt zu verlassen. Am Schluß seiner 1961 niedergeschriebenen
Erinnerungen an die Jahrzehnte in Breslau zählt er die Verluste durch den Zweiten
Weltkrieg voller Betroffenheit und Trauer auf, nennt Dom- und Sandinsel, Kreuzkirche, die
Gemäldegalerie, das Kunstgewerbemuseum: der Süden der Stadt Breslau ein
Trümmerhaufen. Nicht einmal der Name Breslau wurde beibehalten; heute heißt es Wroclaw
und steht unter polnischer Herrschaft. Da stiegen in mir, von Jahr zu Jahr lebhafter
werdend, die Bilder auf, die mir Breslau einst so lieb gemacht hatten.
Gleichsam als Anmerkung unter dem Strich: Als Themen für Magister- und Doktorarbeiten
bieten sich Themen wie das Wirken von Professor Dr. Franz Landsberger oder die
Schlesischen Monatshefte an, wo aber sind heute Professoren und Studenten, die
diese Themen aufgreifen und behandeln?
Herbert Hupka (KK)
KK1182 Seite 9
Pommern, wie es schreibt und lebt
Deutsch-polnisches Seminar zu Pommern in der Literatur nach 1945 an der
Europäischen Akademie in Külz/Kulice
Im Tagungszentrum der Europäischen Akademie Külz/Kulice auf dem östlich von Stettin
gelegenen ehemaligen Anwesen der Familie von Bismarck fand im Herbst 2003 ein Seminar
Pommern in der Literatur nach 1945 statt, das in mehrfacher Hinsicht
bemerkenswert ist. Besonders beeindruckend waren die von deutschen und polnischen
Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf hohem Niveau und in gegenseitigem
Verständnis geführte Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Thematik sowie die
Vorstellung der die deutsche Literatur in den früheren deutschen Ostgebieten betreffenden
Arbeitsvorhaben an verschiedenen deutschen und polnischen Universitäten. Die Beiträge
werden in den Külzer Heften in deutscher und polnischer Sprache
veröffentlicht, so daß es sich erübrigt, ihren Inhalt hier zu referieren.
Herausgegriffen sei nur der Beitrag der polnischen Journalistin Jolanta Nitkowska-Weglarz
aus Stolp/Slupsk, der besonders bemerkenswert ist, weil er die geistige Situation der in
den ehemals deutschen Gebieten neu angesiedelten Menschen betrifft. Jolanta
Nitkowska-Weglarz schilderte ihre Erfahrungen mit Büchern zur Regionalerziehung, die
trotz ihrer sozialistischen Tendenzen mangels neuerer Literatur in polnischen Schulen
immer noch verwendet werden. Sie setzt die Welt der pommerschen Märchen
dagegen, wie sie in deutschen Märchensammlungen vorliegt, und erzählt sie in polnischer
Sprache nach. Sie erfindet auch eigene Märchen, wobei sie aber, wie sie hervorhob, die
alten Werte Liebe zur Familie, Bescheidenheit, Strebsamkeit, Liebe zur Heimat,
Verbundenheit mit der Natur zu bewahren sucht. Diese Werte seien für die alten
pommerschen Märchen typisch, für polnische aber nicht (womit sie übrigens die
wissenschaftliche These von einer übereinstimmenden Märchentradition entlang der
Küstenregionen von Holland bis ins Baltikum bestätigte). So sind Märchen der
Slupsker/Stolper Region entstanden, die in vielen Schulen in den Lektürekanon
aufgenommen worden sind und neben anderen Werken Jolanta Nitkowskas dazu beitragen, daß
den Kindern ihre pommersche Heimat nahegebracht wird.
An die Tagung angeschlossen war eine von Deutschen und Polen begeistert aufgenommene
Exkursion in die Landschaften der Erinnerung im nordwestlichen Teil
Hinterpommerns. Lisaweta von Zitzewitz, die Leiterin des Külzer Tagungszentrums,
übernahm souverän die Führung und wußte bei kurzen Besuchen mit prägnanten
Einführungsvorträgen pommersche Geschichte lebendig werden zu lassen: den Kniephof,
berühmt als Aufenthaltsort des jungen Otto von Bismarck, Trieglaff, bekannt als
Ursprungsort der Erweckungsbewegung, Treptow, eine typische Stadt der deutschen
Besiedlungszeit und bekannt durch die mit ihr verbundene Einführung der Reformation in
Pommern.
Eine überraschende Einladung des Bürgermeisters und des Schulleiters führte die
Exkursionsteilnehmer in einen Ort in der Nähe von Kolberg. Polnische Schüler und Lehrer
haben dort eine Heimatstube mit vielen Exponaten aus der deutschen Zeit Pommerns
eingerichtet und führten ihr Werk stolz vor. Plötzlich erstand das Leben der Zeit vor
1945 in liebevoll zusammengetragenen Alltagsgegenständen vor den Augen der staunenden
Besucher.
Die Fahrt ging weiter nach Kolberg, dessen Zerstörung durch die Belagerung bei Kriegsende
zwar noch vielfach gegenwärtig ist, das aber auch ein imponierendes Stadtbild aufzuweisen
hat, mit dem wiedererrichteten Dom als Zentrum und moderner Architektur, die dem zugrunde
gegangenen mittelalterlichen Stadtkern nachempfunden wurde. Nach kurzem Besuch der immer
noch am Rand der Steilküste ausharrenden Kirchenruine von Hoff/Trzesacz ging es weiter
nach Cammin/Kamien Pomorski, das für die Christianisierung Pommerns von so grundlegender
Bedeutung ist. Der zauberhafte Blick auf den Dievenower Bodden lud zu einem Abstecher auf
die Insel Wollin ein. Ziel war das Dorf Darsekow/Darzowice. Dort verbrachte Uwe Johnson,
der oft als bedeutendster deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit gewertet wird, auf
dem großelterlichen Bauernhof seine frühe Kindheit, was offenbar für sein gesamtes
Leben und literarisches Schaffen prägend wurde.
Die Exkursion kann in den Rahmen der von der Külzer Akademie angebotenen Seminare
Kulturlandschaft Hinterpommern/Westpommern gestellt werden, die für Deutsche
und Polen mit Vorträgen zu Kultur und Geschichte Pommerns, durch Lesungen entsprechender
literarischer Texte, durch Exkursionen und Begegnungen vor Ort dazu beitragen, daß
Pommern, das von vielen so geliebte Land, nicht aus den Augen verloren, sondern
hineingenommen wird in den Aufbruch nach Europa .
Roswitha Wisniewski (KK)
KK1182 Seite 11
Transportschwierigkeiten mit Wasser überbrückt
Der Erbauer des Schwarzenbergischen Schwemmkanals in Böhmen
Der 10. März 2004 ist der 200. Todestag von Josef Rosenauer, dem seit 1790
Fürstlich Schwarzenbergischen Hofingenieur und Schwemmdirektor, seit 1779
Vereidigten Landvermesser für das Königreich Böhmen, seit 1750 Angehöriger
der Forstverwaltung der Fürsten Schwarzenberg im südböhmischen Krumau. Er ist der
Projektingenieur und Erbauer des Schwarzenbergischen Schwemmkanals (Schwarzenbersky
plavebnis kanal), der zu den größten technischen Innovationen des südlichen Böhmen und
des nordwestlichen Österreich im ausgehenden 18. Jahrhundert und vor allem zu den
bedeutendsten Zeugnissen der Ingenieurbaukunst im alten Europa gehört. Seine Reste sind
noch heute ein einzigartiges Denkmal der vorindustriellen technischen Kultur
Ostmitteleuropas. Über etwa 75 Jahre, bis zur Massenerschließung fossiler
Energiequellen, wurden durch diesen Kanal etwa sieben Millionen Raummeter Holz nach
Österreich geschwemmt, hauptsächlich zur Brennstoffversorgung von Wien.
Überlegungen, die gewaltigen Waldareale um das obere Tal der Moldau mit Krumau, der
Residenz der Fürsten Schwarzenberg, durch einen Wasserweg zur Holzschwemme zu
erschließen, gab es seit etwa 1750, doch erst der auf Kosten des Fürsten bis 1771 auf
der Ingenieurakademie in Wien ausgebildete Forstmann Rosenauer fand eine Lösung. Seine
Idee, den steilen Anstieg des Böhmerwaldes aus dem Moldautal bei Krumau zum Grenzkamm des
Dreisesselberges in 790 Metern Seehöhe so zu umgehen, daß durch Kanalgrabungen die
Wasserscheide zwischen Nord- und Ostsee und Schwarzem Meer überwunden wurde,
beschäftigte ihn seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts. In zehnjährigen Vorarbeiten
als Geometer konnte er ein technisch durchführbares Projekt eines Wasserweges entwickeln,
der die 28 zur Moldau führenden Bäche mit dem Zwettlbach auf der österreichischen Seite
des Böhmerwaldkammes verband und damit über die Wasserscheide hinweg einen Abfluß in
die Große Mühl und über sie zur Donau und nach Wien herstellte. 1789 wurde mit dem Bau
begonnen,1821, also 17 Jahre nach dem Tode Rosenauers, waren die Arbeiten endgültig
abgeschlossen. In dem Kanal legte das Holz etwa 90 km zurück.
Der Kanal beginnt in einer Seehöhe von 925 Meter in der Nähe der bayerischen Grenze
nördlich vom Dreisesselberg am sogenannten Lichtwasserbach und erstreckt sich entlang der
Nordhänge des Plöckensteins und der umliegenden Berge.
Das Bett des Kanals ist 0,96 Meter tief, am Boden 1,90 Meter und in der Krone 3,80 m
breit. Der Kanal hat ein trapezförmiges Profil.
Zum Teil wurde er in den Felsen geschlagen, zum Teil an den Wänden mit behauenen
Granitsteinen und am Boden mit Steinplatten ausgelegt. Das Gefälle des Hauptkanals
beträgt 2 bis 7,5 Prozent.
Nicht nur die Projektierung, auch die Baudurchführung stellt eine Technikinnovation von
gesamteuropäischem Rang dar. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, wie man mit den
damaligen Mitteln der Tiefbautechnik, des Transportes und der Materialbearbeitung ein
derart einzigartiges Großprojekt überhaupt bewältigt hat. Obwohl er in Stifters Jugend
gebaut und fertiggestellt wurde, hat Adalbert Stifter den Kanal nie erwähnt.
Rosenauer stammte aus Klasching/Chvasiny in der Nähe von Krumau und war einer der für
seine Zeit charakteristischen technischen Autodidakten. Sein soziales Herkommen ist dem
von Adalbert Stifter ähnlich, sein Vater war Hausweber und Kleinhäusler, der Dienst in
der Schwarzenbergischen Forstverwaltung führte ihn in die Vermessungstechnik und zur
angewandten Geometrie. Seine Fächer waren die Kartographie, die geometrische Mathematik
und die Mechanik. Seine Sonderkarriere nahm einen für die ständisch-höfische
Gesellschaft charakteristischen Verlauf, nämlich über die Planung und Ausführung von
Ingenieurbauten für die höfische Kultur der an Schönbrunn orientierten fürstlichen
Residenz mit Schloßtheater, Maskenballsaal, Winterreitschule und Schloßkapelle und
mehreren großen Wasserkünsten. An den Planungen und der Baudurchführung war er durch
Jahrzehnte beteiligt. Seine Bedeutung für die technische Kultur Europas erschöpft sich
darin aber nicht. Zusammen mit wenigen anderen Geometern ist es ihm zu verdanken, daß
Böhmen das erste europäische Territorium ist, das noch vor dem Ende des 18. Jahrhunderts
über eine vollständige Landesvermessung mit einem geodätischen Landesnetz verfügte,
das in seinen Grundzügen bis heute nutzbar ist.
Dietmar Stutzer (KK)
KK1182 Seite 12
Wegweisende Wegweiser: historische Schlesien-Karten
Die Frühjahrsausstellung Wechselnde Identitäten. Das nördliche Schlesien und
die angrenzenden Lausitzen im historischen Kartenbild des Museums für schlesische
Landeskunde im Haus Schlesien, Königswinter-Heisterbacherrott, präsentiert bis zum 9.
Mai seltene Landkarten aus fünf Jahrhunderten. Schwerpunkt der regionalen Darstellung ist
das nördliche Niederschlesien.
Der für die deutsche und internationale Kartographie bedeutende Kartenverlag Carl
Flemming aus Glogau wird besonders gewürdigt. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die
Landkarten von Jonas Scultetus aus Sprottau, ein Karten-Typus, der über ein Jahrhundert
das Erscheinungsbild prägte und lange wegweisend für die Kartographie war.
Die Ausstellung zeigt Exponate aus den Sammlungen Manfred Spata (Bonn), der
Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften (Görlitz) und von Haus Schlesien.
Sie wird durch das Sächsische Staatsministerium des Innern, Dresden, gefördert und wird
anschließend im Museum des Lebuser Landes/Muzeum Ziemi Lubuskiej in Hirschberg/Zielona
Góra (19. Mai bis 25. Juli) sowie in der Fürst-Pückler-Park-Stiftung in Bad Muskau (8.
August bis 17. Oktober) gezeigt werden.
(KK)
KK1182 Seite 12
Im Auftrag der Heimat und der Gesellschaft
Heimatpflege ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag lautet der Titel
der Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben und
Sammlungen in Nordrhein-Westfalen, die am 17. März im Stadtgeschichtehaus von Mettmann
stattfindet.
Am Vormittag referiert die Leiterin des Niederbergischen Museums in Wülfrath, Dr. Jutta
de Jong, über die Präsentation der Heimatgeschichte und museumspädagogische Angebote im
Regionalmuseum.
Anschließend gibt es Führungen durch die Angerapper Heimatstube und durch das
Stadtgeschichtehaus.
Im zweiten Teil der Tagung hält die Kulturreferentin für Südosteuropa beim
Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm, Dr. Swantje Volkmann, einen Vortrag über die
Darstellung der Kultur und Geschichte der Ungarndeutschen im Ulmer Museum.
Initiativen zur Förderung der Öffentlichkeitsarbeit stellt der Geschäftsführer der
Arbeitsgemeinschaft, Mattias Lask, vor.
(KK)
KK1182 Seite 13
Bücher und Medien
Vor lauter Bedeutsamkeit wird das Happy-End unausweichlich
Olaf Müller: Schlesisches Wetter. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2003, 236 S., 18
Euro
Der Titel macht einen neugierig, hat man doch das Wort im Ohr: So schöne Sommer
gab und gibt es nur in Schlesien, und kennt auch den Nachsatz, daß auch die
kältesten Winter zu Schlesien gehören. Zwar schließt der Roman mit einem Wetterbericht
für den ersten Weihnachtsfeiertag in Schlesien, das Schlesische Wetter aber
steht für unser schlesisches Blut, dessen Bedeutsamkeit der Ich-Erzähler
auch gleich herabstuft: Das nicht von besonderem Wert ist. Ein lebenserhaltender
Stoff dennoch, scheint es. Der Begriff existiert nur in meinem Kopf. In der Familie nahm
man ein solch schwerwiegendes Wort nicht in den Mund.
Schon der Name des Romanhelden weist nach Osten. Er heißt Alexander Schynoski. Seine
sprunghaft erzählte Lebensgeschichte führt nach Berlin. Leipzig und die DDR haben ihn
geprägt, er wird Journalist, ausgerechnet für Sport, zu dem er keine Beziehung hat, so
daß er aus der Redaktion ausscheidet und als freier Journalist arbeitet. Das Bild hat
karikaturale Züge: Er ist zu dick, schläft in den Tag hinein, ist zwar hellhörig und
mit dem Rundfunkprogramm bestens vertraut, gleichzeitig aber auf starke Brillengläser
angewiesen. Nach der Wende geht er ebenso wie der Chefredakteur aus DDR-Zeiten
nach Berlin. Als die englische Architektin, die eine Zeitlang für den Unterhalt
des Paares gesorgt hat, nach London zurückkehrt, flattert ihm der Auftrag einer Zeitung
auf den Tisch, zwei polnische Journalisten aus Breslau zu betreuen. Eine Einladung nach
Breslau ist die Folge.
Der 40jährige hat bislang von der alten Heimat der Großmutter, der Mutter
und seiner fünf Tanten nichts wissen wollen, hat allem Schlesischen ablehnend
gegenübergestanden. Plötzlich geht die schlesische Blüte auf: Die Mutter erzählt, was
es mit dem Dorf Fürsten-Altguth und der Bahnstation Bischwitz bei Breslau in der
Geschichte der Familie auf sich hat. Zum Mitreisen nach Breslau aber ist sie nicht bereit,
alles war einmal und ist nur geistiges Eigentum geblieben; allerdings gibt sie dem Sohn,
obwohl sie sich als Näherin in Leipzig durchschlägt, einen Batzen Geld mit auf den Weg.
Wie das Schicksal so spielt, verpaßt der Spurensucher auf dem Land den letzten Bus nach
Breslau und begegnet der hilfreichen Agnieczka, die an den Wochenenden bei ihrem
Großvater übernachtet und auch ihm Quartier anbietet. Dazu kommt die Erfahrung, daß
dieses Haus das von seiner Großmutter und Mutter sein muß! Der Leser ahnt: Jetzt beginnt
die neue große Liebe, ausgerechnet in der alten Heimat, die so alt für die
beiden Partner gar nicht ist. Ein Happy-End voller tendenziös angestrebter
politischer Bedeutsamkeit. Zudem nach der Liebelei der Großstädter jetzt die Liebe in
dörflich-schlesischer Atmosphäre. Man erfährt zwar zum Schluß, daß der
leidenschaftliche Rundfunkhörer bereits die polnische Wettervorhersage versteht, ob aber
diese Auffassungsgabe und das im Breslauer Hotelsafe verwahrte Geld der Mutter für einen
Neubeginn in Fürsten-Altguth reichen, darf bezweifelt werden.
Das Ganze ist flink erzählt, Schauplätze und Handlungsabläufe wechseln unvermittelt, ja
bruchartig, aber die Schicksale und die zeitgeschichtlichen Akzente werden gar zu
absichtsvoll aufeinander bezogen. Ein Zeitungsroman, dem aktuellen Zeitgeist auf der Spur.
Dem Leser wird viel Unglaubwürdiges, auch Banales zugemutet.
Herbert Hupka (KK)
KK1182 Seite 14
Literarischer Widerstand per Diplomatenpost aus Rumänien
Richard Lifka: Letzte Tage. Erzählungen. Brücken Verlag, Wiesbaden 2003, 145 S., 9
Euro
Sieben Erzählungen enthält der Band. Alle handeln von leidgeprüften Menschen, die
durchzuhalten versuchen. Hinter den Wäldern und Neuntöter
hätten nie derart wahrheitsprall geschrieben werden können, wenn der Autor nicht für
den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Rumänien tätig gewesen wäre.
Der Germanist Richard Lifka arbeitete von 1983 bis 1989 an der Universität in Iasi/Jassy
im Nordosten Rumäniens. Noch herrschte Ceausescu. Die Zustände in der damaligen
Brachial-Diktatur bilden den Inhalt beider Erzählungen. Neuntöter ist der
Bericht einer nervenzehrenden Antragsstellung um Ausreisegenehmigung. Hinter den
Wäldern soll für den Leser skizziert sein.
Ono Schücker ist Kulturreferent an der Deutschen Botschaft in Bukarest. Er wird
eingeladen, ein Moldau-Kloster zu besichtigen. In seinem Diplomaten-Mercedes, der ihm
Sicherheit und freie Fahrt garantiert, ist er unterwegs. Sein rumänischer Chauffeur
bespitzelt ihn. Ono weiß es. Im Klosterhof hört er dem Vortrag zu. Dann verzieht sich
die Gruppe ins Gebäude. Ono bleibt zurück. Nach so vielen heimlichen Gesprächen mit
geknechteten Rumänen hat er den Sinn für historische Bauherrlichkeit verloren. Er tritt
in den Schatten einer Mauer. Psst, hört er. Er blickt sich um. Hinter einem
Bretterverschlag steht sie, jung, abgezehrt. Sie drückt ihm ein Manuskript in die Hand:
Nach Deutschland. Schon ist sie verschwunden. Er geht zum Auto. Der Chauffeur
muß bemerken, daß er etwas zu verstecken sucht. Noch heute abend wird die Geheimpolizei
darüber informiert werden. Sei's drum. Er ist geschützter Botschaftsangehöriger ...
Prägnant schlüsselt Lifka die Schicksalsgeschichte auf. Mit der Diplomatenpost gelangt
das Manuskript nach Deutschland. Der Roman wird verlegt, erregt Aufsehen. Auch in
Rumänien. Die Verfasserin ist jene junge, magere Frau: Monika Schuller. Mit Freundeshilfe
und nur auf Schleichwegen können Ono und Monika sich wiedersehen. Verhört ist sie
worden.
Wie das Manuskript in den Westen gekommen sei? Sie schweigt. Man zeigt ihr die Spritze,
die unausweichlich den qualvollen Tod zur Folge hätte. Zwei Wochen gesteht man ihr für
die Aussage zu. Monika reagiert nicht. Nach Ablauf der Frist verunglückt ihr Vater
tödlich. Sie flüchtet in den Untergrund.
Für immer wollten sie zusammenbleiben das haben sie sich in den wenigen Nächten
ihrer von Entdeckung bedrohten Zweisamkeit geschworen. Dazu muß Monika nach Deutschland.
Perfekt plant Ono die Flucht. Er würde offiziell in Urlaub fahren. Wie immer würde sich
die Grenzschranke heben. Den Diplomatenpaß, der ihn der Kontrolle enthebt, hält er
griffbereit. Doch die Schranke hebt sich nicht. Militär! Polizei! Sie öffnen den
Kofferraum, zerren Monika heraus. Weiterfahren! brüllen sie. Die Schranke
klappt hoch. Er fährt ...
Ono wird an die Deutsche Botschaft in New York versetzt. Unmittelbar nach dem Sturz des
Ceausescu-Regimes läßt er Monika suchen. Im Oktober 1990 erhält er von seiner
ehemaligen Bukarester Dienststelle Nachricht. Monika lebt. In einem Gefängnis hat man sie
aufgespürt. Sofort macht er sich auf den Weg. Wie eh und je bedarf es hoher
Bestechungsgelder für die zuständigen Beamten und darüber hinaus zur Sicherheit
vor verzögernden Schikanen eines Respekt gebietenden rumänischen Freundes. Den
gibt es. Im neuen Regime ist er Minister. Nächtelang haben sie seinerzeit gemeinsam
musiziert. Seit damals imponiert dem Freund Onos Cello. Er erhält es als gern
übereignetes Dankeschön.
Ein Melodram aus der jüngsten Vergangenheit, dessen Bitternis auch in der Gegenwart nicht
zu verdrängen ist.
Esther Knorr-Anders (KK)
KK1182 Seite 15
Gerechtigkeit hat nur ein einziges Maß
Herbert Alsheimer: Der Vatikan in Kronberg. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am
Main 2004, 144 S. mit 41 Abb., 14,80 Euro
Unter dem Titel Der Vatikan in Kronberg hat Herbert Alsheimer ein neues
Buch veröffentlicht, in dem er die Geschichte der päpstlichen Mission in Kronberg und
das Wirken des Bischofs Muench, des mutigen Fürsprechers der Heimatvertriebenen, spannend
beschreibt. Alsheimers Ausführungen sind ebenso sorgfältig recherchiert wie klar
formuliert.
In der internationalen Medienwelt der ersten Nachkriegsjahre entsprach es offenbar der
political correctness, die anhaltende Vertreibung von Millionen Deutschen aus
ihrer Heimat nicht jedenfalls nicht angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Auch
die 1945 gegründete UNO übersah diesen Sachverhalt und mit ihm eklatante Verletzungen
der Menschenrechte.
Zu den wenigen, die den Tabubruch wagten, gehörte Alois Muench, Bischof der Diözese
Fargo im US-Bundesstaat North Dakota. Das Gebot der Gerechtigkeit, so schrieb
er in seinem Hirtenbrief zur Fastenzeit 1946, hat keinen doppelten Maßstab für die
Missetaten von Freund und Feind. Und über die deutschen Vertriebenen berichtete er
weiter: Von ihren angestammten Wohnstätten vertrieben, die in machen Fällen
Jahrhunderte zurückreichen, litten und starben diese verelendeten, entwurzelten,
heimatlosen, hungrigen und verzweifelten Menschen, wie wenige vor ihnen in der Geschichte.
Die Geschichte schildert die grausamen Exzesse, die gegen die Arkadier verübt wurden, als
sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Aber nie hat sich eine Tragik von so riesigem
Umfang ereignet wie in diesen Zwangsausweisungen.
Muenchs politisch inopportune Worte fanden Eingang in die nordamerikanische Kirchenpresse,
und auch den Siergermächten blieben sie nicht verborgen. Die französische Regierung
ließ im Vatikan eine Protestnote übergeben, als sie von der Absicht des Papstes Pius
XII. erfuhr, ausgerechnet diesen Bischof als seinen Vertreter nach Deutschland zu
schicken. Dort in dem in der Nähe Frankfurts gelegenen Städtchen Kronberg im Taunus
hatten die Amerikaner dem Kirchenoberhaupt die Stationierung einer Mission zur Seelsorge
an den Displaced Persons erlaubt. Der Papst nutzte sie zur Hilfe für alle notleidenden
Menschen in Deutschland, insbesondere auch für Heimatvertriebene, und allen Einwänden
zum Trotz berief er Muench zu ihrem Leiter.
Neben spirituellen hatte Muenchs Mitgefühl mit den Vertriebenen unbestreitbar auch
landsmannschaftliche Beweggründe. Der Vater des in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin
geborenen amerikanischen Bischofs stammte aus St. Katharina im Sudetenland, seine Mutter
aus Kemnath in der Oberpfalz.
Soweit ersichtlich, sind die beiden für die Heimatvertriebenen wichtigen Hirtenbriefe von
1946 und 1947 letzterer im Angesicht des Elends in Deutschland verfaßt hier
zum ersten Mal in wesentlichen Abschnitten dokumentiert. Insgesamt: Eine für die
Heimatvertriebenen wichtige Veröffentlichung.
Manfred Wollner / Rudolf Friedrich (KK)
KK1182 Seite 15
Die DVD zu Umsiedlung,Vertreibung und Integration der deutschen
Bevölkerung, die der USM Verlag in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Kultusministerium
zusammengestellt hat, präsentiert Dr. Geert Demarest am 17. März, 19 Uhr, im HDO
München. (KK)
KK1182 Seite 16
Literatur und Kunst
Die Goldene Stadt als touristische Chiffre
Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg zeigt Kafkas
Prag in der Sicht von Jiri Georg Dokoupil
Seit 1982 stellt Jiri Georg Dokoupil, geboren 1954 in Bruntal/Krnov, in Europa, den USA
und Japan aus. Dokoupil, in den 80er Jahren einer der Begründer der Künstlergruppe
Mülheimer Freiheit, gehört heute zu den weltweit berühmtesten zeitgenössischen Malern,
seine Werke befinden sich in den wichtigsten öffentlichen und privaten Sammlungen. Er
lebt und arbeitet in Prag, Berlin und Santa Cruz de Tenerife. Die Ausstellung, die unter
der Schirmherrschaft des Botschafters der Tschechischen Republik in der Bundesrepublik
Deutschland, S. E. Boris Lazar steht, ist mit 54 Gemälden die bisher größte
Präsentation von Jiri Georg Dokoupil in Deutschland. Der Prager Hradschin-Zyklus wird
überhaupt zum ersten Male komplett ausgestellt. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog in
deutscher und tschechischer Sprache, der in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kunst der
Stadt Brünn hergestellt wurde.
Jiri Georg Dokoupils Bilder, die unter dem Titel Kafkas Prag gezeigt werden,
sind bis auf vier Ausnahmen zwischen 2002 und 2003 im Prager Atelier des Künstlers
entstanden. Zwei Motivgruppen prägen die Ausstellung: Groß- und mittelformatige
Pigmentbilder mit Schädeln und ein Gemäldezyklus mit dem Prager Hradschin im Querformat.
Das berühmte Panorama der Goldenen Stadt ist mittlerweile zur bekanntesten Chiffre der
mitteleuropäischen Tourismusindustrie geworden. Das Ausmaß der Vermarktung, die dem
Paris des Ostens widerfährt, zeigt sich in der massenhaften Verbreitung des
Panoramabildes. Für die nach Prag pilgernden Menschen unübersehbar, ist diese
Kommerzialisierung zur alltäglichen Wirklichkeit mutiert, die in Wahrheit eine Pseudowelt
ist. Ähnlich wie Campbell's Soup von Andy Warhols die reale Suppendose im
Supermarkt in den Hintergrund gedrängt hat, ersetzt das Postkartenmotiv des Hradschins
irgendwann die Realität.
Diese millionenfach wiederholte Banalität des Hradschinpanoramas auf Postkarten und
touristischen Prospekten brachte Dokoupil dazu, die Massenproduktion nachzuahmen.
Dreißigmal wiederholt er das Motiv und versieht es von zwei Ausnahmen abgesehen
mit dem Namen der Stadt in tschechischer und russischer Schreibweise. Es bleibt dem
Betrachter überlassen, die Verwendung der russischen Sprache als möglichen Hinweis auf
die Besetzungen der Stadt 1968 zu interpretieren.
Im Prag-Zyklus verwendet Jiri Georg Dokoupil Schablonen und trägt dicke Farbschichten auf
grobe Leinwand auf. Die fertigen Bilder schleift er schließlich am Betonboden des
Ateliers, um die Farbschichten zu glätten und zu verkratzen. Damit erreicht er eine
visuelle Qualität, die sein ganzes Ouvre auszeichnet: die absichtsvolle Vernebelung und
Verschmutzung einer optisch genau erfaßten und malerisch perfekt wiedergegebenen
Wirklichkeitsbeobachtung. Eine gezielte Verfremdung.
Dokoupils Pigmentbilder variieren das archetypische Schädelmotiv. Jedoch treten die
Schädel dem Betrachter nicht wie in barocken Stilleben einzeln und ruhig entgegen,
sondern aggressiv und in Gruppen. Auch wenn die Beschädigungen der
Farboberfläche auf die Vergänglichkeit der Materie verweisen mögen, regen die Schädel
in ihrer absurden Kollektiverscheinung und mit den grimassierenden Verfremdungen kaum zum
religiös-philosophischen Nachdenken an. Weit eher vermitteln sie ein Gefühl
alltäglicher Angst und des Unheimlichen. Damit verschiebt sich die ursprüngliche
religiöse Vanitas-Bedeutung des Schädelstillebens ins allgemein Mystische: Aus dem
religiösen Memento mori wird ein kafkaeskes Mysterium eines immer stärker
medienmanipulierten Alltags.
Pavel Liska (KK)
KK1182 Seite 17
Eine der letzten Möglichkeiten, zivil zu leben
Peter Demetz über das Kino des Protektorats Böhmen und Mähren
Im Prag der Kriegszeit gab es 84 Kinotheater, die dreimal täglich spielten und fast
immer ausverkauft waren bis zum 5. Mai 1945, dem Tag des Aufstandes gegen die
deutsche Besatzung. Im gesamten Protektorat Böhmen und Mähren stieg die Zahl der Kinos
von 1100 im Jahre 1939 über 1181 im Jahre 1942 auf 1244 im Jahre 1944. Dabei wuchs die
Zahl der Zuschauer in diesen Jahren von 54 Millionen auf 75 Millionen und schließlich auf
95,5 Millionen. Es gab neben tschechischen und deutschen Filmen italienische,
französische, skandinavische und bis zur deutschen Kriegserklärung an die USA im
Dezember 1941 auch amerikanische Filme zu sehen. Diese Angaben machte Peter Demetz
in einem Vortrag, den er jüngst auf Einladung des Adalbert Stifter Vereins im
Sudetendeutschen Haus in München zu dem Thema Prager Filmproduktion in der Zeit des
Protektorats hielt. Demetz wollte seine Ausführungen auch als Beitrag zu einer, wie
er fand, noch wenig vorangekommenen Aufklärung jener ambivalenten Jahre
verstanden wissen, die sich vom Alltäglichen her erschlössen.
In den deutsch besetzten Ländern Böhmen und Mähren war, wie Demetz sagte, der
Kinobesuch eine der letzten Möglichkeiten, zivil zu leben. Die Grundlage
hierfür habe eine gewisse von den Deutschen gewahrte und tschechischerseits genutzte
Autonomie und Freiheit namentlich in kulturellen Belangen geboten. Hinzugekommen sei, daß
der Nationalsozialismus und das heiße vor allem Minister Goebbels den Film
nicht nur als Propagandainstrument, sondern auch als Mittel verstanden habe, die
Bevölkerung (die nicht zuletzt im Protektorat für die Kriegsrüstung arbeiten mußte)
bei guter Laune zu halten.
Demetz, der 1922 in Prag geboren wurde und bis zu seiner Emigration 1948 dort lebte, somit
also auch aus eigener Erfahrung sprach, konzentrierte sich in seinem Vortrag auf
tschechische Filme der fraglichen Zeit. Diese entstanden in der Gartenstadt Barrandov bei
Prag, wo seit 1933 Filme gedreht wurden. Barrandov war geschäftlich wie organisatorisch
das Werk der Brüder Václav und Milos Havel, des Vaters und des Onkels des
Schriftstellers, Dissidenten und schließlich Staatspräsidenten Václav Havel.
Entsprechend dem nationalsozialistischen Verständnis des Films als Massenkunst sah sich
die tschechische Filmwirtschaft und damit Barrandov einem starken deutschen Zugriff
ausgesetzt, zumal die deutsche Filmproduktion infolge des sich verstärkenden
Bombenkrieges immer mehr nach Barrandov verlegt wurde. Freilich vermied man es
deutscherseits, die dortigen Produktionsstätten im offenen Konflikt unter Kontrolle zu
bringen, nachdem ein anfänglicher Versuch, Barrandov als angeblich jüdischen Betrieb zu
enteignen, gescheitert war. Was die Produktionen betraf, so verzichtete man auf
Polizeizensur und setzte statt dessen auf enge Zusammenarbeit. Die Zahl der Filme, die die
Tschechen drehen durften, war freilich aufgrund eines Vertrages, den Milos Havel 1940 mit
dem Filmbeauftragten des Reichsprotektors geschlossen hatte, begrenzt. Immerhin konnten
aber 1939 neununddreißig, 1940 zweiundvierzig, 1941 neunzehn, 1942 zwölf, 1943 acht und
1944 zehn tschechische Filme gedreht werden.
Vom Inhalt her teilte Demetz die tschechische Filmproduktion in der Zeit der deutschen
Okkupation in vier Kategorien ein und illustrierte das mit der Vorführung von
Filmbeispielen. Er unterschied zwischen der patriotisch-historischen Biographie, der
Konversations- oder Salonkomödie, dem Bauernstück und der lyrisch-poetischen
Naturnovelle. Als Beispiel für den patriotischen Film führte er das seinerzeit besonders
beliebte Werk von Vladimir Slavinsky über den Volksmusikanten Kmoch an und für das
Bauernstück das Drama Jan Cimbula von F. Cap aus dem Jahre 1941, das nicht
nur eine deutliche Blut-und-Boden-Tendenz zeigt, sondern auch eine antisemitische
Nebenhandlung mit einer ausgearbeiteten Pogromszene enthält (die im Filmbeispiel der aus
Veit Harlans Jud Süß gegenübergestellt wurde). Die Naturnovellen Krskas
kennzeichnete Demetz einerseits als Flucht in die Jugend und in die Anarchie, andererseits
aber als Arbeiten filmischen Neuerertums.
Demetz, der stellenweise stark ins biographische Detail ging, machte deutlich, daß die
tschechische Filmgeschichte der Jahre 1939 bis 1945 (wie die Protektoratszeit überhaupt)
und die Verfolgungen nach 1945 schwierige Themen seien, an denen man sich die Finger
verbrennen könne. Milos Havel, der manchen vor einer Deportation in das Reich bewahrt
habe und dem in München ein bitteres Exil beschieden gewesen sei, werde in Prag noch
heute schief angesehen.
Peter Mast (KK)
KK1182 Seite 18
Im Rahmen der Bayerisch-Böhmischen Kulturtage organisiert das
Münchner Haus des Deutschen Ostens am 18. März, 20 Uhr, in der Regionalbibliothek Weiden
einen historisch-politischen Abend zum Thema Wanderer und Brückenbauer zwischen Ost
und West Engagement für ein gemeinsames Europa. Die Podiumsdiskussion mit
litauischer, lettischer und slowakischer Beteiligung leitet Dr. Ortfried Kotzian.
(KK)
KK1182 Seite 19
Heimatsuchen
Ilse Tielsch zum 75. Geburtstag
Wollte man ein Leitwort über das gesamte, vielschichtige Werk der Autorin
setzen, würde sich ihr Romantitel Heimatsuchen anbieten. Denn ein Suchen nach
Heimat wie immer man dieses vielgeschmähte, mißbrauchte und doch unverzichtbare
Wort interpretieren mag ist der am 20. März 1929 in Auspitz (Hustopece) in
Südmähren geborenen Schriftstellerin nicht abzusprechen.
Ilse Tielsch (auch Ilse Tielsch-Felzmann) hat sich nie auf dem Markt der literarischen
Eitelkeiten bewegt. Ihre Arbeit geschah im stillen wiewohl die Liste der
Auszeichnungen und Preise an die 20 Titel aufweist. Trotzdem: Sie war und ist eine
Einzelgängerin, ohne daß sie sich künstlerischen Zusammenschlüssen versagen würde. So
bekleidete sie von 1990 bis 1999 des Amt einer Ersten Vizepräsidentin des
österreichischen PEN-Clubs.
Wenn man ihr, wie bei den jährlichen Wangener Gesprächen des schlesisch geprägten
Wangener Kreises, gegenübersitzt, in dieser unversehrten barocken Altstadt im
schwäbischen Kleinod Wangen, dann spürt man im Gespräch sehr rasch, daß es der
Verfasserin von über 20 eigenständigen Werken nicht darum geht, oberflächliche oder
verklärte Heimattexte zu präsentieren. Das wird auch sofort klar, wenn man sich in das
Hauptwerk vertieft, eine Roman-Trilogie mit familiärem, zeitgeschichtlichem Hintergrund.
Schon die Titel sind bezeichnend: Die Ahnenpyramide (1980),
Heimatsuchen (1982), Die Früchte der Tränen (1988).
Auch davon kann nicht die Rede sein, ob die Heimatlandschaften schöner gewesen
seien als jene, in die man sich nun versetzt sah. Nur von der Fremdheit muß gesprochen
werden; vom Neuen, Ungewohnten, vom Ungeliebten. Vom Heimweh muß gesprochen werden, von
der Sehnsucht nach Gegenden, die zu verlassen man sich nicht gewünscht hatte, zu deren
Verlust man gezwungen worden war.
Ilse Tielsch verbindet ihre Prosa gern mit den Erscheinungen und Abläufen der Natur,
exemplarisch in ihrem Erzählband Erinnerung mit Bäumen (1979 wie die meisten
ihrer Bücher im Verlag Styria Graz-Wien-Köln erschienen): Im Mai bieten die Wiesen
einen lieblichen Anblick. Von gelbblühenden Blumen durchwirktes Grün, darüber manchmal
ein blauer Himmel, dazu die weißblühenden Mostbirnbäume. Im gleichen Text dann
der Schlüsselsatz: Die Erinnerungen sind nicht mehr chronologisch zu ordnen.
Aber was immer auch in den Büchern der Ilse Tielsch geschieht, in den Romanen,
Erzählungen und Gedichten: Es handelt sich darin um Menschen, die vieles erfahren haben
und erdulden mußten, die sich in entscheidenden Situationen bewährten oder versagten,
die eingetaucht waren in diesen unaufhaltsamen, grausamen, unentrinnbaren Strom der
Zeitgeschichte des vorigen Jahrhunderts.
Wie die Autorin selbst: Im Südmährischen geboren am 20. März 1929 als Ilse Felzmann, im
April 1945 Flucht vor der Front, Unterkunft in einem oberösterreichischen Bauernhof,
Fortsetzung des unterbrochenen Schulbesuchs in Linz, Matura 1948 in Wien. Studium der
Zeitungswissenschaften und Germanistik an der Wiener Universität, Promotion 1953. Seit
1949 österreichische Staatsbürgerschaft. Heirat 1950, vier Kinder. Nach verschiedenen
Brotberufen lebt Ilse Tielsch seit 1964 als freie Schriftstellerin in Wien.
Auf eine bestimmte literarische Gattung ist sie nicht festzulegen. Ihr Werk besteht aus
Lyrik, Romanen, Erzählungen, Hörspielen, satirischer Prosa, Reiseimpressionen (zuletzt
Eine Winterreise, St. Pölten 1999, Bericht über eine Bulgarienfahrt),
Funkerzählungen und germanistischen Arbeiten. Unzählige Publikationen und Nachdrucke in
Literaturzeitschriften und Anthologien des In- und Auslandes liegen vor, Übersetzungen in
viele Sprachen. Der innere und entscheidende Gewinn für den Leser liegt indessen darin
begründet, daß er teilhaben darf an einer Welt, die versunken ist, die aber kraft des
dichterischen Vermögens der Ilse Tielsch lebendig bleibt im unverlierbaren geistigen
Raum.
Jochen Hoffbauer (KK)
KK1182 Seite 20
Malen, absolut
Die Kölner Galerie Boisserée holt Ost nach West
Die traditionsreiche Galerie Boisserée gehört zu jenen Kölner Institutionen, in
deren europäischem Ausstellungsprogramm eine Brückenfunktion zwischen ost- und
westdeutscher Kunst und Künstlern eine wesentliche Rolle spielt.Gegenwärtig befindet
sich in dieser Galerie am Museum für Angewandte Kunst die Doppelausstellung der Maler
Henning Kürschner (geb. 1941 in Wernigerode) und Volker Lehnert (geb. 1956 in
Saarbrücken). Beide lehren als Professoren an den Hochschulen für Bildende Künste:
Kürschner in Berlin, Lehnert in Stuttgart.
Stilistisch stehen ihre Werke an entgegengesetzten Polen.Während Lehnert seine Stifte in
leichten Schwingungen über den hellen Untergrund gleiten läßt, zeugen Kürschners
Ölgemälde von einer Vitalität, die den Betrachter sogleich gefangennimmt. Er setzt
seine gegenstandsfreien Kompositionen aus Flächen in einer reichen Farbskala zusammen und
füllt seine großformatigen Leinwände damit ganz aus. Seine selteneren Linienführungen
sind ebenfalls voller Dynamik. Bisweilen entfaltet sich vor einem leuchtenden Gelb oder
Orange ein wahrer Farbenzauber. Da gibt es auch Kontraste von Blau und Grün gegen warme
Töne sowie schwarze Flächen gegen Weiß, das als Gestaltungselement, nicht als
Hintergrund dient.
Es überrascht, daß man in den Bildüberschriften seiner sogenannten abstrakten
Kompositionen gegenständliche Begriffe wie Bett, Tisch, Decke, Stilleben entdeckt.
Passender erscheinen für seine wie die Musik absolute Kunst
seine Titel Rhythmisch, Kleines weißes Bild, Mit grünem
Fleck, Verdeckendes Schwarz.
Dies ist Henning Kürschners dritte Kölner Ausstellung. In Ausstellungen sah man seine
Arbeiten außer in Amsterdam, Chicago und Berlin in mehreren westdeutschen Städten.
Ebenso erging es Volker Lehnert. Und beide warten noch auf Einzelausstellungen in Ost- und
Mitteldeutschland. Kürschner, Schüler des bekannten Malers Professor Fred Thieler aus
Ostpreußen, wurde mit dem Rompreis Villa Massimo, dem Premio Città di Garda, dem Preis
der Neuen Darmstädter Secession und dem Will-Grohmann-Preis der Akademie der Künste
Berlin ausgezeichnet.
Günther Ott (KK)
KK1182 Seite 21
Der Mensch hat dem Tier voraus, daß er es malen kann
Gerhard Löbenberg im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg
Gerhard Löbenberg (1891-1967) gehört zu den bekanntesten Natur- und Jagdmalern des
20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Er wuchs in einem Forsthaus im Harz auf und
wurde dort nachhaltig geprägt. Seine Ausbildung erfuhr er an den Kunstakademien in Berlin
und Königsberg.
Seine erste Jagdwild-Zeichnung wurde 1909 in Wild und Hund veröffentlicht. Im
Ersten Weltkrieg arbeitete er als Illustrator, in den folgenden Jahren verdiente er seinen
Lebensunterhalt als Porträtmaler. Jagd- und Naturgemälde bestimmten danach sein Schaffen
bis zu seinem Lebensende.
Rothirsche zur Brunftzeit stellen die häufigste von ihm gemalte Wildart dar. Er verstand
es wie kein anderer, die individuelle Physiognomie der Hirsche herauszuarbeiten.
Zahlreiche Darstellungen weiterer Tierarten vermitteln einen Eindruck von seiner großen
Detailgenauigkeit und Beobachtungsgabe. Seine Motive suchte er im Harz und in der Rominter
Heide in Ostpreußen, in den Karpaten, der Colbitz-Letzlinger Heide, im Soonwald und im
Hunsrück.
Löbenberg gehört zu den wenigen Künstlern, die jagdliches Verständnis und
künstlerische Begabung zu gleich hohen Anteilen besaßen. Er verkörpert in der deutschen
Jagdmalerei die auf dem Impressionismus basierende künstlerische Richtung in einer
Vollendung wie kaum ein zweiter Künstler seiner Generation.
Die Ausstellung zeigt einen breiten Überblick über Gerhard Löbenbergs vielseitiges
künstlerisches Werk.
Dazu gibt es ein Buch von Christoph Hinkelmann, Jörn Barfod und Hartmut M. F. Syskowski:
Natur und Jagd in der Malerei von Gerhard Löbenberg, erschienen im Verlag J.
Neumann-Neudamm AG, Melsungen 2004.
(KK)
KK1182 Seite 22
Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee
Der etwas verlorene Gewinner des Goldenen Bären für Kurzfilme auf der
diesjährigen Berlinale, Cristi Puiu aus Rumänien
Etwas müde und leicht verbittert klingt der Filmemacher Cristi Puiu bei der
diesjährigen Berlinale im Talent-Campus im Haus der Kulturen der Welt. Müde
vom Fliegen gerade erst ist er aus Rumänien eingetroffen und verbittert,
als er über die Finanzierung seines Spielfilms Die Ware und das Geld und
dessen Resonanz in Rumänien erzählt.
Obwohl er im Ausland etliche Preise gewonnen hat (von Cottbus bis Triest, Saloniki und
Angers), wurde daheim vor allem die derbe Sprache des Streifens kritisiert. Doch der
Roadmovie handelt nun mal von zwei jungen Männern aus der Vorstadt, so der Regisseur in
einem früheren Interview, von jungen Männern am Rande der Gesellschaft, die keine
Chance haben, und wenn sie eine bekommen, dann müssen sie dafür Kompromisse eingehen.
Selbst ich mußte, um diesen Film machen zu können, Kompromisse eingehen.
Puiu, 1967 geboren, hat einen ungewöhnlichen Werdegang. Er begann als Maler mit einer
Ausstellung in Lausanne, um dann in Genf ein Kunststudium anzufangen, das er 1995 als
Filmemacher beendete. Dann drehte er Dokumentar- und Kurzfilme.
In seinem Berlinale-Kurzfilm: Un cartus de Kent si un pachet de cafea/
Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee, dessen Titel jedem Rumänen als
Inbegriff der Bakschisch-Währung in den Ohren klingt, ist wieder von Kompromissen die
Rede. Ein mittelalter Mann trifft sich in einem Restaurant mit seinem vielbeschäftigten
Sohn, hat besagte Stange Zigaretten und (leider den falschen) Kaffee in seinem Beutel
verstaut und versucht diesem zu erklären, daß ihm nach dreißig Jahren einfach so
gekündigt worden ist. Doch der nacheinander zwei Apfelstrudel verzehrende Sohn bittet
ihn, sich kurzzufassen. Er hätte eine Stelle als Nachtwächter für ihn. Schließlich
reiche das Mitgebrachte ja auch nicht für viel mehr.
In fast statischen Einstellungen mit sparsamsten Mitteln gefilmt, wirkt diese Begegnung
zweier Generationen sacht ironisch, und der Schluß, es habe sich nichts geändert, es sei
alles so wie früher, ist kein bißchen pathetisch. Ein abgeklärter
Realismus, der unaufdringlich daherkommt, kaum anklagt, eher nur aufzeigt. Das Milieu
wirkt nicht luxuriös und nicht schäbig, weder pittoresk noch unbedingt armselig. So war
es, so ist es fehlt nur noch: Es ist gut so.
Nun bekommt der Film mit dem kleinen Budget für effektives Erzählen und
phantastische Dialoge, so die Jury, neben dem Goldenen Bären auch noch den
UIP-Preis, der gleichzeitig die Nominierung zum Europäischen Filmpreis darstellt. Es ist
das erste Mal, daß es ein rumänischer Film so weit gebracht hat, bei der Berlinale
doch leider gingen die Kurzfilmpreise im Medienrummel um die richtigen
Bären unter.
Zu Unrecht, denn der Kurzfilm gab sich diesem Jahr gesellschaftskritisch und
experimentell, aber vor allem gut. Er ragte über sein kurzlebiges Dasein
geradezu hinaus und krallte sich in der Aktualität fest, obwohl er sich zuweilen mit fast
aktenstaubigen Themen befaßte, sei es nun der Zweite Weltkrieg oder der Vietnamkrieg.
Beide waren so gegenwärtig wie die Parodie der modernen Kriegsmaschinerie.
Im Talent-Campus der Berlinale das bereits letztes Jahr ins Leben
gerufen wurde konnte man auch einem anderen jungen rumänischen Regisseur, Cristian
Mungiu begegnen, der ebenfalls zur Talentschmiede geladen war. Zusammen mit Cristi Puiu
wird auch er im Zusammenhang mit seinem Film Okzident genannt, wenn es um die
Wiederbelebung des rumänischen Films geht, von der auch er nur in
Anführungszeichen spricht.
Hoffen wir also das Beste, wenngleich Abwarten und Kaffetrinken selten etwas gebracht hat,
vom Rauchen ganz zu schweigen.
Edith Ottschofski (KK)
KK1182 Seite 23
KK-Notizbuch
Die Sendung Alte und neue Heimat des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, beschäftigt sich am 21. März mit den Vertreibungen auf dem Balkan. Unter dem Titel Angst um die junge Generation widmet sich Florian Kellermann am 28. März den Rücksiedlern in der Ukraine. Am 4. April berichtet Thomas Frahm über Minderheiten in Bulgarien.
Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig zeigt in der Reihe Deutschland und seine Nachbarn vom 18. März bis zum 22. August die Ausstellung Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken, in der Berührungspunkte der mitteleuropäischen Völker jenseits aller Klischees dargestellt werden.
Das Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg lädt zu einer Studienreise nach Mähren unter der Leitung von Professor Dr. Rudolf Grulich ein, die den Lebenswelten von Tschechen, Deutschen und Juden gilt. Am 27. April 19 Uhr hält er einen Einführungsvortrag im Haus der Heimat. Zu der Fahrt vom 31. Mai bis zum 7. Juni zu 620 Euro kann man sich beim Haus der Heimat, Schloßstraße 92, 70176 Stuttgart, Fax 07 11 / 66 95 149, eichenberger@hdhbw.bwl.de, anmelden.
Das Donauschwäbische Zentralmuseum Ulm veranstaltet vom 29. April bis zum 1. Mai eine Tagung über Frauenprojekte im Dialog an der Evangelischen Akademie im siebenbürgischen Hermannstadt. In Vorträgen, Workshops und Exkursionen sollen Frauenprojekte im sozialen und ökonomischen Bereich vorgestellt und der Ost-West-Dialog bereichert werden.
Die Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus präsentiert bis zum 31. März eine Dokumentation zu 110 Jahren Die Weber auf polnischen und deutschen Bühnen. Im Mittelpunkt der zweisprachigen Ausstellung steht die Theaterrezeption des skandalumwitterten Stücks. Sie beleuchtet auch den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Weberaufstandes im Juni 1844 und die über Gerhart Hauptmanns Drama hinausgehende literarische und künstlerische Verarbeitung des Stoffes.
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam vergibt im Herbst 2004 zum ersten Mal den Georg-Dehio-Buchpreis an Autoren, die sich in ihren Werken fundiert und differenziert mit den Traditionen und Interferenzen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa auseinandergesetzt haben Der Buchpreis wird in jährlichem Wechsel mit dem gleichnamigen Kulturpreis vergeben. Der mit 12000 Euro dotierte Hauptpreis würdigt ein publizistisches Gesamtwerk, den Ehrenpreis von 8000 Euro erhält der Autor einer herausragenden Publikation. Kandidatenvorschläge werden bis zum 29. März angenommen, Einsendebedingungen unter www.kulturforum-ome.de.
Die Ostseegesellschaft veranstaltet vom 28. bis zum 30. April an der Germanistischen Fakultät in Riga ein deutsch-baltisches Literaturseminar und widmet sich vom 16. bis zum 18. April in der Ostsee-Akademie Travemünde den Menschenrechten und Minderheiten in den Anrainerstaaten der Ostsee. Anmeldung unter Telefon 0 45 02 / 80 32 03.
Vom 19. bis zum 20. März organisiert die Academia Baltica in Malente eine deutsch-polnische
Begegnung unter dem Titel
,Das Vergangene ist nicht tot. Lokale und regionale Initiativen zur
deutsch-polnischen Aussöhnung.
(KK)