KK 1729 vom 10. April 2001 Seite 7

Begriffe erst begreifen, dann verwenden
Geschichte und Kultur sind nicht exterritorial, auch wenn sie deutsch sind

In der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ ist im Laufe der letzten Jahre oftmals und mit bedauerndem Unterton auf den seit einem Jahrzehnt fast allgemeinen Sprachgebrauch hingewiesen worden, gemäß dem das Gebiet der vormaligen DDR als „Ostdeutschland“ bezeichnet wird. Dies geschieht in den meisten Fällen aufgrund von Nichtwissen, Gedankenlosigkeit, Nachsprechen von durch Medien – und Politiker – Vorgedachtem. Ernster zu nehmen ist es, wenn auch in Kreisen der im Bereich der ostdeutschen Geschichte und Kultur Arbeitenden Überlegungen angestellt werden, die auf eine Neubesetzung des Begriffs „Ostdeutschland“ abzielen, wobei Fläche und Außengrenzen der heutigen Bundesrepublik zugrunde gelegt werden. Wir hoffen deshalb, mit dieser Stellungnahme eine möglichst breite Diskussion eröffnen zu können.

„Deutschland“ – als das Land der Deutschen – kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten gliedern: nach Himmelsrichtungen, nach Sprachlandschaften (Oberdeutschland, Mitteldeutschland, Niederdeutschland), nach Konfessionsgrenzen, nach Substraten (Germania Romana bzw. Limes-Deutschland, Germania Slavica usw.), nach Sozialstrukturen („Ostelbien“ bzw. Bereich der überwiegenden Gutsherrschaft gegen die südlichen und die westlichen Gebiete des Landes). Nicht bei jeder der Gliederungsmöglichkeiten stehen alle komplementären Begriffe zur Verfügung (so steht dem ohnehin unglücklichen Begriff „Ostelbien“ kein „Westelbien“ gegenüber). Jede dieser Gliederungen bezieht sich auf Räume, keine der genannten Einteilungsmöglichkeiten richtet sich aber nach den jeweiligen Außengrenzen des Römisch-Deutschen Reiches, des Deutschen Bundes oder des Deutschen Reiches. Historiker und Sprachwissenschaftler haben – bis jetzt wenigstens – in den Begriff „Oberdeutschland“ immer die deutsche Schweiz einbezogen, auch wenn sie die Zeit nach 1648 im Auge hatten. „Niederdeutschland“ umfaßt auch die Gebiete, die östlich der Grenzen des 1806 tatsächlich von der Landkarte verschwundenen Römisch-Deutschen Reiches lagen, soweit sie deutsch besiedelt waren. Auch vor 1945 ist man also nicht von der geographischen Lage innerhalb eines deutschen Staates – es hat aber niemals nur einen deutschen Staat gegeben -ausgegangen.

Wird der Begriff „Ostdeutschland“ unter Bezugnahme auf die jetzige Bundesrepublik neu besetzt, kann das für die Bedeutung des Eigenschaftswortes „ostdeutsch“ nicht ohne Folgen bleiben. Die beiden Wörter beziehen sich aufeinander. Ist Kants Heimat nicht mehr Ostdeutschland, wird der Philosoph über kurz oder lang ebenfalls kein „Ostdeutscher“ mehr sein. Es dürfte nicht möglich sein, ihn auf Dauer als „Bewohner der historischen deutschen Ostprovinzen“ zu führen. Östlich von „Ostdeutschland“ kann es nicht noch „historische deutsche Ostprovinzen“ geben, sondern nur noch – Polen. Wer sich vergegenwärtigt, in welch kurzer Zeit es den Kräften, denen daran gelegen war, gelungen ist, das Bewußtsein und das Wissen um ein Viertel von Deutschland aus den Köpfen der Mehrheit der Deutschen zu verdrängen, der wird die Befürchtung, daß eines Tages die Grenzziehung rückwirkend auch in Hinblick auf die ostdeutsche Kultur und deren Träger voll angewendet wird, nicht für an den Haaren herbeigezogen hälten. Bei Persönlichkeiten, die vorderen Ranges sind und uns Heutigen auch zeitlich noch nahestehen, insbesondere bei solchen, deren künstlerisches Ausdrucksmittel, deren Instrument in erster Linie die Sprache – die deutsche Sprache – war, wie Immanuel Kant oder Gerhart Hauptmann, wird dies so rasch nicht gelingen. Sehr viel leichter ist es schon, die Zuordnung von bildenden Künstlern und Musikern zu verunklären. Steine reden entgegen bekannten anderslautenden Bekundungen keine Sprache, zumindest keine für jedermann auf Anhieb verständliche. Auch bei Künstlern und Wissenschaftlern minderer, doch nicht geringer Bedeutung wird diese Wirkung sehr bald eintreten, erste Anzeichen dafür sind schon jetzt unverkennbar. Ein Kunsthistoriker (Hans Josef Böker), der vor mehr als zehn Jahren in einem bekannten, sehr rührigen Verlag ein Buch über die „Mittelalterliche Backsteinarchitektur Norddeutschlands“ herausgab, hat bereits damals an der Oder haltgemacht mit der Begründung, daß Polen die Backsteinbauten in seinem Staatsgebiet „in demselben Maße wie die beiden heutigen deutschen Staaten“ zu einem Bestandteil seiner Identität gemacht habe, „so daß ein Versuch ihrer wissenschaftlichen Annexion als Teil der norddeutschen Backsteinarchitektur unstatthaft wäre“. Wie lange wird es dauern, bis jede Beschäftigung mit der Kultur dessen, was östlich eines innerhalb der bundesdeutschen Grenzen neudefinierten „Ostdeutschlands“ liegt, als „wissenschaftliche Annexion“ gebrandmarkt wird?

Die Deutsche Post AG hat vor einigen Monaten in der von ihr herausgegebenen Loseblattsammlung „Wissenswertes über Briefmarken“ unter dem schon in sich falschen Titel „Deutsches Reich 1815-1871“ eine Deutschland-Karte verbreitet, die im Osten „zufällig“ an Oder und Neiße endet, ferner die zum Deutschen Bund (bis 1866) gehörenden Teile des Kaisertums Österreich wegschneidet und im übrigen auch an der Westgrenze Retuschen im Sinne einer offenbar politisch gewünschten Anpassung an heutige Verhältnisse aufweist. Man sieht, wohin die Entwicklung zu gehen droht und welche Energie von seiten politisch Agierender aufgewandt wird, um auch über die Vergangenheit voll verfügen und sie nach Belieben handhaben zu können. Wichtiger als die Tatsachen sind immer die Vorstellungen, die man erfolgreich davon verbreitet und die danach andere davon haben.

Über das Wesen und die Ausdehnung „Mitteldeutschlands“ ist vor allem in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Plänen, das Reichsgebiet neu zu gliedem, eine lebhafte Diskussion geführt worden. Mecklenburg, Vorpommern und im allgemeinen auch Brandenburg sind damals nicht zu „Mitteldeutschland“ gerechnet worden. Insofern ist der Begriff nach 1945 nach Norden erweitert worden. Ein Rostocker, ein Stralsunder, ein Stettiner, aber auch ein Stargarder oder ein Pyritzer hat sich vor 1945 als Norddeutscher – nicht als Mitteldeutscher und nicht als Ostdeutscher – gefühlt. Die Oder stellte innerhalb Pommems im Laufe der Geschichte des Landes fast niemals eine Grenze dar, die Landesteilungen verliefen im allgemeinen an anderen Stellen. Eine alte, bis 1945 fühlbare Grenze in Pommern liegt am Gollenberg, zwischen dem Kamminer Stiftsland und dem Lande Schlawe. Auch in der brandenburgischen Geschichte ist der Oderlauf nur teilweise eine Grenze von Belang – das Bistum Lebus etwa umschloß wie später der Regierungsbezirk Frankfurt westlich wie östlich der Oder bzw. der Neiße liegende Gebiete –, und die alte Westgrenze Schlesiens verläuft an Bober und Queis, nicht an der Lausitzer Neiße. Dennoch war es nicht unberechtigt, daß man nach 1945 die abgetrennten ostdeutschen Gebiete pauschal unter dem Namen „Ostdeutschland“ zusammenfaßte, einte sie und ihre Bewohner doch das gemeinsame Schicksal, liefen die wahren geschichtlichen und kulturellen innerdeutschen Grenzlinien doch nicht so weit von den durch die Siegermächte als Außengrenzen gedachten Linien entfernt, daß sich die Verschiebung der Bedeutung nicht hätte rechtfertigen lassen.

Wenn nun auf dem Gebiet der sogenannten Neuen Bundesländer nach einem „Ostdeutschland“ gesucht wird, woran wollte man sich da ausrichten? Jede Trennlinie etwa, die durch das Bundesland Brandenburg ginge, wäre ganz unhistorisch. Es würde einer Willkür das Wort geredet, die zu völliger Beliebigkeit der Begriffe und zu heilloser Verwirrung führen müßte.

Gebietsveränderungen hat es in der Geschichte Deutschlands und Europas seit der frühen Neuzeit fast in jedem Jahrzehnt gegeben. Die geographischen Bezeichnungen wurden nicht stets angepaßt. Wie Völker – sofern sie noch eine Identität aufweisen – sich selbst und ihre Geschichte sehen, das deckt sich in vielen Fällen nicht mit den Vorstellungen von Nachbarn oder gar aller Nachbarn. Den Begriff „Oberungarn“ verwenden auch nichtungarische Historiker, wenngleich dieses Oberungarn heute den allergrößten Teil der Slowakischen Republik ausmacht. Der Begriff „Tirol“ hat sich wenigstens im Denken der Deutschen nach 1919 nicht auf Nordtirol verengt.

Gebietsgliederungen werden, da es immer eine Eigensicht und daneben Fremdsichten gibt, niemals einheitlich ausfallen. Sie werden außer dem Raum stets auch geschichtliche und kulturelle Voraussetzungen einbeziehen. „Abusus non tollit usum“, so lautet ein Grundsatz des römischen Rechts: Ein Mißbrauch hebt den (guten) Brauch nicht auf. Die Falschverwendung eines Begriffes durch Politiker, Journalisten usw. braucht die es besser Wissenden nicht zu beeindrucken. Als Deutsche und insbesondere als an der ostdeutschen Geschichte und Kultur Interessierte haben wir m. E. keinen überzeugenden Grund, die durch gewaltsamen Akt zustande gekommenen und konsequent vollzogenen Grenzänderungen auch begrifflich nachzuvollziehen und damit weite Teile der deutschen Geschichte und der deutschen Kultur zu exterritorialem Gebiet zu machen.

Rudolf Benl (KK)
Quelle: KK 1129 Seite 7 2001-04-10