KK 1124 vom 30. Dezember 2000 Seite 6

Der Traum von Preußen
Zum 300. Jubiläum eines untergegangenen Staates
Als Preußen am 25. Februar 1947 von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs exekutiert wurde, war das ein höchst fragwürdiger Akt: die Hinrichtung eines längst Verstorbenen. Denn seine volle Souveränität als Staat hatte Preußen bereits mit der Reichsgründung im Jahr 1871 verloren. Zudem waren die Staaten der Koalition gegen Hitler 1945 nach der administrativen Neugliederung Deutschlands davon ausgegangen, daß Preußen nunmehr zu existieren aufgehört habe. Als politischer Machtfaktor war das Land im übrigen am 30. Januar 1934 mit dem Gesetz über den „Neuaufbau des Reiches“ liquidiert worden.

Schwerer als diese politische Entmachtung aber hatte die moralische Auszehrung Preußens im Dritten Reich gewogen. Diese war traditionsbewußten Offizieren, die sich als Preußen fühlten, Anlaß gewesen, Hitler die Gefolgschaft aufzukündigen. Die Massenmorde der SS-Einsatzgruppen in Polen und in der Sowjetunion empfanden sie als unmenschlich und ehrverletzend, eben als ganz und gar unpreußisch. Verbürgt ist die Szene eines vor Scham weinenden Obersten Henning von Tresckow, der, als er von der Ermordung Tausender von Juden in Borissow erfuhr, Feldmarschall von Bock aufforderte, ein Standgericht einzuberufen und die Mörder unverzüglich füsilieren zu lassen. Dieser Versuch, den Bock zum Helden zu machen, scheiterte allerdings ebenso wie einige Attentatsversuche auf Hitler. Vor diesem Hintergrund ist eine Rede Tresckows zu verstehen, die er im April 1943 zur Konfirmation seiner Söhne in der Potsdamer Garnisonskirche hielt: „Vergeßt niemals, daß ihr auf preußischem Boden aufgewachsen und heute an der heiligen Stätte des alten Preußentums eingesegnet seid. Das birgt eine große Verpflichtung in sich: die Verpflichtung zur Wahrheit, zur innerlichen und äußerlichen Disziplin, zur Pflichterfüllung bis zum letzten.
Vom wahren Preußentum ist der Begriff Freiheit niemals zu trennen.
Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Stolz auf Eigenes und Verständnis für Anderes. Nur in der Synthese liegt die Aufgabe des Preußentums, liegt der preußische Traum.


Diesen Traum von einem Staat, dessen Wesen von bedeutenden ethischen Werten bestimmt wird, hatte der Gründer des Königreiches, Friedrich III., der sich nach der Krönung Friedrich I. nannte, nicht. Er war eitel, prunksüchtig, verkaufte sein kleines Heer immer wieder mal an den Meistbietenden, und er ruinierte die Staatsfinanzen. Daß er zuweilen großzügig gewesen sein soll – einem Jäger, der ihm einen kapitalen Hirsch vor die Flinte getrieben hatte, schenkte er ein Gut im Wert von 40 000 Talern –, kann ganz außer Betracht bleiben. Denn als im Jahre 1711 in Ostpreußen 200 000 Menschen verhungerten, rührte er keinen Finger. Mit diesem Friedrich war kein Staat zu machen.

Mit seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm I. um so mehr. Der hinterließ nach fast 30 Regierungsjahren ein Land mit wohlgeordneten Finanzen, vorbildlicher Verwaltung und einer Armee, die geradezu widerwärtig gut in Form war. Daß sie nicht so schnell schoß, war beabsichtigt. Sie machte Eindruck, und das genügte fast immer. Trotz seiner beträchtlichen Erfolge als Staatsmann war Friedrich Wilhelm I. nicht populär. Er war ein Despot. Auch die Familie liebte ihn nicht, da er gelegentlich zu ziemlich rustikalen Übergriffen neigte. Besonders der Kronprinz bekam das zu spüren, weil er sich auf sein künftiges Amt nicht so vorbereitete, wie es ein sehr pragmatischer Herr Papa wünschte, sondern Flöte spielte, Gedichte kritzelte und mit Vorliebe Bücher humanistischen Inhalts las. Die Bücher wurden verboten –  „Aus Büchern lernt man nicht, sondern die Praxis muß es machen“, sagte der Vater.

Aber der junge Mann hatte bereits seine Ideale, und als er 1740 den Thron bestieg, begann er umgehend, an ihrer Verwirklichung zu arbeiten. Neben dem Militär- und Beamtenstaat des Vaters, der unangetastet blieb, entstand der Aufklärungs- und Rechtsstaat Preußen. Die Leibeigenschaft wurde aufgehoben. Das geschah zwar nur auf den Staatsgütern, da der Adel rebellierte, immerhin wurde aber dadurch die Hälfte der preußischen Bauern frei. Das Bildungswesen wurde verbessert, die Zeitungszensur aufgehoben (später allerdings wieder eingeführt). Friedrich bekräftigte die Glaubensfreiheit im Land; in Preußen könne jeder nach seiner Fasson selig werden, hieß es. Für einen Monarchen des 18. Jahrhunderts waren seine ethischen Grundsätze ganz und gar ungewöhnlich, denn er erklärte: „Die Legitimität des Herrschers ist seine unbedingte Sittlichkeit.“ Er reformierte das Justizwesen: Alle Menschen in Preußen waren von nun an vor dem Gesetz gleich. Das machte er mit dem Müller-Arnold-Prozeß kurios, aber wirksam zunächst den Richtern klar, indem er Recht beugte, um die Bürger zu ermuntern, Recht zu fordern.

Er führte Kriege, dieser König, aber er hatte keinen Mordsspaß daran – am Ende fühlte er sich sogar dazu verdammt. Und er gewann sie auch noch, was eigentlich gar nicht möglich war, zog man die Übermacht der Österreicher, Russen, Franzosen und Schweden in Betracht. Das mehrte seinen Ruhm, aber auch die Friedhöfe im Land. Nach dem Siebenjährigen Krieg mußten allein in Schlesien 70 000 Kolonisten angesiedelt werden. In der Mark Brandenburg sollen es 40 000 gewesen sein. Die Kriegsverluste des Landes auszugleichen, gelang trotzdem nicht.

Preußen zu „peuplieren“ hatte bereits Friedrich Wilhelm I. als eine seiner Hauptaufgaben angesehen, denn das Volk, so erklärte er, sei der eigentliche Reichtum eines jeden Landes. Deshalb waren im dünnbesiedelten Preußen Einwanderer stets willkommen. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts kamen die ersten. Die einen, weil sie in ihren Heimatländern wegen ihrer Religion verfolgt wurden, andere, weil sie sich in Preußen bessere Lebensbedingungen erhofften. Um 1700 war in Berlin jeder dritte Einwohner ein Fremder, und sie waren offenbar zufrieden, denn damals kam der Spruch auf: „Niemand wird Preuße denn durch Not; ist er's geworden, dankt er Gott.“ Möglich wurde die Integration durch eine präzise arbeitende und, was nicht unwichtig ist, unbestechliche Staatsverwaltung – es wurden beträchtliche Summen Hilfsgelder zum Neuaufbau der Dörfer verteilt – und durch die Toleranz und den Gemeinsinn der Alteingesessenen.

Friedrichs Preußen, von Kriterien getragen, die einander eigentlich ausschlossen, nämlich Disziplin und penibelste Ordnung einerseits sowie Freiheit und Großzügigkeit andererseits, war erfolgreich und im 18. Jahrhundert der modernste Staat in Europa, zu dem erst mit der Französischen Revolution eine Alternative entstand.

Im scharfen Kontrast zum friderizianischen Preußen stand der Bourgeoisie-Staat des 19. Jahrhunderts. Er habe zuviel Hülle und keinen Kern gehabt, schreibt Herbert Blank. Und Theodor Fontane klagt über wuchernde Gier und Dünkel, über das Hohle, Phrasenhafte und Hochmütige der Gesellschaft. Der „Simplicissimus“ amüsiert sich über unersättliche Bankiers und über den dümmlich-arroganten Leutnant im Schnürkorsett. Ihren grotesken Höhepunkt fand diese Zeit in der Besetzung des Köpenicker Rathauses durch einen Schuster in Hauptmannsuniform. Europa lachte sich scheckig über Preußen. Aber dann wurde es ernst. Hatte sich Friedrichs Preußen unter den europäischen Großmächten einen Platz als Gleiches unter Gleichen erkämpft und es klugerweise dabei belassen, wollte der wilhelminische Staat einen „Platz an der Sonne“. Europa war herausgefordert, und es war nicht gerade friedfertig. Die Gelegenheit, den Konkurrenten auszuschalten, wollte man sich nicht entgehen lassen. Das unrühmliche Ende des zum alleinigen Bösewicht erklärten Preußen/Deutschland hieß Versailles, und als Bösewicht prägte es dann auch das Preußenbild des 20. Jahrhunderts. Das alte Preußen, auf dessen Werte sich die Patrioten um Henning von Tresckow berufen hatten, ist fast vergessen.

An diesen fast vergessenen Staat erinnerte Richard von Weizsäcker in einer Rückschau auf Person und Lebenswerk Friedrichs II. Dieser König habe ein unsentimentales, charakterstarkes und reformbereites Gemeinwesen hinterlassen. Es sei unsere Aufgabe, sorgfältig mit dem Erbe umzugehen.

Einen Knauf in jeder Hand wird man von allen anerkannt:
Friedrich der Große auf der Treppe.
Illustration Adolph von Menzels zu Kuglers
“Geschichte Friedrichs des Großen“
Bild: Katalog „Große Deutsche aus dem Osten“

(Das Bild kann hier leider nicht wiedergegeben werden.)

Text von Siegfried Schütt
KK 1124 Seite 6. 2000-12-30