KK 1117 vom 10. August 2000 Seite 4

Kritik und Unruhe, Wachsen und Werden
Zehn Jahre deutsche Minderheit in Polen zum Beispiel das Oppelner Land

Die deutsche Minderheit im Oppelner Land wo in Polen die meisten Deutschen leben – existiert offiziell seit zehn Jahren.
Am 16. Februar 1990 wurde vom Woiwodschaftsgericht in Oppeln die Erlaubnis erteilt, eine Gesellschaft der Deutschen zu registrieren. Ein rundes Jubiläum, Zeit für eine Bilanz. Die offiziellen Feierlichkeiten zu diesem Anlaß, an der die Prominenz der Woiwodschaft und der deutsche Vizekonsul teilnahmen, zeigte vor allem, daß sich die deutsche Minderheit behauptet hat. Der größte Erfolg – so der Grundtenor der Ansprachen – sei, daß sie sich ihre Existenzberechtigung erkämpft hat. Die größte Errungenschaft der Deutschen im freien Polen sei, so der Woiwode Adam Peziol, daß sie aufgehört haben, Bürger zweiter Kategorie zu sein, und sich heute frei von Benachteiligungen fühlen dürfen.

Dieses im Grunde Selbstverständliche ist, gemessen an der Situation unter dem totalitären Regime in Polen, durchaus bemerkenswert. Es war eine große Anstrengung dieser ethnischen Gruppe, der man jahrzehntelang die Existenzberechtigung abgesprochen hatte, sich zu konsolidieren und sich politisch zu artikulieren. Und es war vor allem das Verdienst des unlängst verstorbenen Johann Kroll aus Gogolin, der dank seiner charismatischen Persönlichkeit die Bestrebungen – deutsch zu sein unter Polen – gebündelt und durch eine Unterschriftenaktion den Beweis erbracht hatte, daß es trotz entgegengesetzter weitverbreiteter Meinungen in Polen und insbesondere im Oppelner Land Deutsche gibt.

Es gehört inzwischen zur Geschichte, daß es Johann Kroll gelungen war, innerhalb weniger Wochen etwa 300.000 Unterschriften unter der Forderung nach einer deutschen sozial-kulturellen Gesellschaft zu sammeln. Der Anfang der deutschen Minderheit in Polen, die sich vor allem im Oppelner Land konzentrierte, war eine Erfolgsgeschichte. Die systematisch ihrer Muttersprache beraubte, entmündigte und ein halbes Jahrhundert als Einwohnerschicht zweiter Klasse behandelte ethnische Gruppe brachte noch genügend Kraft auf, sich wirksam zu organisieren. Man forderte vor allem Deutschunterricht in den Schulen und deutschen Gottesdienst in den Kirchen. Daß während der Wahlen im Oktober 1991 die deutsche Minderheit auch zur politischen Kraft in Polen avancierte, wurde zur großen Überraschung für alle. Die Deutschen erhielten damals sieben Sitze im Sejm und einen Senatssitz. Dieser Erfolgskurs ließ sich allerdings nicht halten. Seit den letzten Wahlen im Herbst 1997 gibt es nur noch zwei Sitze für Vertreter der deutschen Minderheit im polnischen Sejm.

1998 konzentrierte sich die deutsche Minderheit während des Prozesses der verwalterischen Umstrukturierung Polens auf die Stärkung ihrer Position im Oppelner Land. Man kämpfte zusammen mit den Polen um die Eigenständigkeit der Woiwodschaft. Die Minderheit ist zur Zeit eine der drei stärksten politischen Kräfte in dieser Woiwodschaft.

Wir sind aufeinander angewiesen – so auch die Meinung der polnischen Behörden. Die Wahlen zu den Lokalbehörden im Oppelner Land hatten den Deutschen einen großen Erfolg gebracht. Die deutsche Minderheit stellt fünf, also die Hälfte der Landräte, fast die Hälfte aller Bürgermeister der Woiwodschaft, und sie belegt 13 Sitze im Woiwodschaftssejm. (Zum Vergleich: Im Woiwodschaftssejm sitzen außer den 13 Vertretern der deutschen Minderheit 14 der Postkommunisten, elf der Solidarnosc und drei der Freiheitsunion.) Der Zahl der Abgeordneten entspricht leider nicht die Zahl der Ämter, die von Deutschen bekleidet werden. Nur einer der beiden Vizemarschalle – Ryszard Galla – kommt aus der deutschen Minderheit.

Dabei macht sich wahrscheinlich die Verunsicherung der Vertreter der jahrzehntelang im Schatten vegetierenden Volksgruppe bemerkbar. Man hat es nie gelernt, eigene Rechte anzumahnen. Stillsitzen war seit je die Devise der Oberschlesier. Wie dem auch sei, die Abgeordneten aus den Reihen der deutschen Minderheit konnten sich im Kampf um wichtige Posten nicht gegen die polnischen Vertreter durchsetzen.

Doch wichtiger ist zunächst, daß sich die Deutschen landesweit in den verwalterischen Strukturen positiv bemerkbar machen. Sie bleiben auch in engem Kontakt mit der Organisation der Minderheit. Tatkräftige Männer einer mittleren und jüngeren Generation sind dabei, Hoffnungsträger. Bemerkenswert sind auch die Errungenschaften der Minderheit im Aufbau der Infrastruktur des Landes. Krankenhäuser und Schulen, Straßen und Wasserleitungen wurden mit Unterstützung aus der Bundesrepublik Deutschland gebaut. Mittlere und kleinere Unternehmer erhielten günstige Kredite. Oberschlesier arbeiten legal in Deutschland vor allem auf Baustellen und investieren ihren Verdienst in den Ausbau und die Verschönerung ihrer Häuser und Dörfer. Die Deutschen sind zum wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Region geworden. Das wissen die Polen zu schätzen. Ein Erfolg war die Erhaltung eines deutschen Vizekonsulats in Oppeln, dessen Existenz mehrfach bedroht schien.

Doch eine Bestandsaufnahme zum Dezennium fällt leider nicht nur positiv aus. Die Zahl der zahlenden Mitglieder geht ständig zurück. Innere Querelen haben der Minderheit in der letzten Zeit heftig zu schaffen gemacht. Zwar hat sie in dem Sejmabgeordneten und Vorstandsvorsitzenden der Sozial-kulturellen Gesellschaften im Oppelner Schlesien Heinrich Kroll noch immer eine starke integrative Persönlichkeit, hinter der der Schatten des Gründers Johann Kroll steht, doch der zweite Mann an der Spitze, Professor Gerhard Bartodziej, ehemals Senator, mußte komprommitiert zurücktreten. Mit einer Mehrheit von acht gegen zwei bei einer Enthaltung hat der Vorstand der Sozial-kulturellen Gesellschaft der Deutschen in Polen vor wenigen Monaten den Beschluß gefaßt, den unter dem Vorwurf der jahrelangen Quertreiberei und Aktivitäten gegen die Interessen der Minderheit stehenden Professor vom Vorsitz der Gesellschaft zu entfernen. Zuvor ist sein engster Verbündeter Bernhard Sojka, der einflußreichste Mann in der Stiftung für die Entwicklung Schlesiens, zum Ausscheiden gezwungen worden.

Leider sind die Medien im Oppelner Land – anders als die Behörden – den Deutschen nicht wohlgesonnen. Immer wieder wird die öffentliche Meinung mit Berichten über die deutsche Minderheit beunruhigt, die ganz offensichtlich Gespinste aus Halbwahrheiten, Lügen und Unterstellungen sind und dem Ansehen der Minderheit großen Schaden zufügen.

So wurde zwar in der Oppelner Ausgabe der „Gazeta Wyborcza“ sachlich über die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen berichtet, doch am Vortag wurde gegiftet. Die deutsche Minderheit sei eine Barriere auf dem Weg nach Europa mit der Suggestion, die Deutschen im Oppelner Schlesien störten die deutsch-polnische Verständigung.

Kritik und Unruhe gehören zum Wachsen und Werden. Dennoch wäre es wichtig, Objektivität zu wahren und die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Leider ist die Minderheit so gut wie wehrlos den Presseattacken ausgeliefert, weil ihre eigenen – verbliebenen – Medien zu schwach sind. Man begnügt sich mit Gegendarstellungen. Die einzige Zeitung der Minderheit liegt seit langem in Agonie und wagt es nicht, Stellung zu aktuellen Auseinandersetzungen zu beziehen. Das sieben Jahre erfolgreiche Fernsehprojekt der Minderheit, das sich mutig eingemischt hatte, ist im Vorfeld der Machtkämpfe innerhalb der Führung Intrigen zum Opfer gefallen und eingestellt worden. So sieht sich die deutsche Minderheit heute wehrlos den Attacken der Oppelner Zeitungen ausgeliefert, was für ihre Existenz in Zukunft verheerende Folgen haben könnte. Denn effektiv arbeitende Medien sind eine absolute Voraussetzung für die Selbstbehauptung. Ohne Medien ist es heutzutage unmöglich, sich darzustellen und Stimmen zu gewinnen. Das wissen die Gegner der Minderheit viel besser als sie selbst.

Insgesamt muß leider festgestellt werden, daß es besonders im kulturellen Bereich den Deutschen bisher nicht gelungen ist, sich überzeugend darzustellen, um so Vorurteile, deren Wurzeln in der Vergangenheit liegen, abzubauen und bestehendem Mißtrauen entgegenzutreten. Die ethnische Gruppe, die ein halbes Jahrhundert kaum Kontakte mit der deutschen Kultur und den mentalen Entwicklungen in Deutschland hatte, deren humanistische Intelligenz entweder nach Deutschland abgewandert ist oder sich im Polnischen beheimatet hat, scheint aus eigener Kraft nicht imstande zu sein, sich kulturell wirksam zu präsentieren.

Aber es ist eine Frage der Existenz der deutschen Minderheit, ob sie ihr Umfeld für sich umstimmen kann. Das kann nicht nur durch beispielhafte Wirtschaftsleistungen bewirkt werden. Die Kultur ist die Seele einer ethnischen Gruppe. Absolute Priorität kommt dabei dem Deutschunterricht zu. Eine heranwachsende Generation, die sich unbefangen zwischen der deutschen und der polnischen Kultur bewegt, ist die Hoffnung.

Doch gerade aus dem Bereich des Schulwesens sind Katastrophenmeldungen zu vernehmen. Es gibt zwar Deutschunterricht in den Schulen, Deutsch ist nicht mehr verboten. Aber es wird durchaus nicht in allen Schulen Deutsch unterrichtet. Besonders der muttersprachliche Unterricht ist viel zu spärlich, als daß er die wahren Bedürfnisse auch nur im entferntesten abdeckte. Von offizieller Seite wird verlautbart, daß im Oppelner Land nur zehn Prozent der Schüler am Unterricht – Deutsch als Muttersprache – teilnehmen. Im Grunde genommen ein Skandal. Auch von polnischer Seite wird zugegeben, daß besonders in den Schulen erbitterter Widerstand gegen die vermeintliche Germanisierung geleistet wird. Was aber wurde dagegen getan?

Zuständig für das Schulwesen, für Kultur und Jugendarbeit war jahrelang von seiten der deutschen Gesellschaften Peter Baron. Den diplomierten Dirigenten aber interessiert ausschließlich das Musikleben. Was allerdings eine genügende Anzahl guter Lehrer aus Deutschland bewirken könnte, zeigt das Beispiel der Gemeinde Wengern, wo die Lehrerin Johanna Lemke ihre Schüler dazu motiviert hat, an einem renommierten bundesdeutschen Schülerwettbewerb für Geschichte teilzunehmen. Die Kinder aus Wengern erhielten zweimal Preise des Bundespräsidenten, der Schirmherr des Wettbewerbs war.

Vieles wird von polnischer Seite aus tradierten Voreingenommenheiten den Deutschen gegenüber abgeblockt. Aber wie diese Vorurteile durchbrechen? Es wäre dringend notwendig, zuerst das Vertrauen des polnischen Umfelds, auch der polnischen Behörden zu gewinnen. Aber wie, wenn die deutsche Kultur unbekannt bleibt, Deutschland ein nahes und doch fernes Land ist.

Bisher war es so, als hielte eine riesengroße unsichtbare Hand über dem Oppelner Land, insbesondere aber von Oppeln, alles fern, was mit deutscher Kultur zu tun hat. Es ist kaum zu glauben, aber wahr – die Schriftsteller der engsten Region sind kaum bekannt. Hans Niekrawietz, der sein Schaffen fast ausschließlich der Stadt Oppeln gewidmet hat, Hans Lipinsky-Gottersdorf, in Leschnitz am Annaberg geboren, ein sehr heimatbezogener Autor. Von Heinz Piontek, einem ganz Großen der deutschen Literatur, dessen Heimatstadt Kreuzburg ist, oder dem tragischen Dichter Max Herrmann-Neisse, dessen Namenszusatz auf seine Heimatstadt verweist, ganz zu schweigen. Die Werke der Schriftsteller, deren Thema Oberschlesien war, liegen nicht in polnischer Übersetzung vor. Aber Polnisch ist heute die den meisten Oberschlesiern zugängliche Sprache. Auch Eichendorff ist eher nur dem Namen nach bekannt. Eine Kuriosität oder vielmehr eine Tragödie. Es gibt keinen Verleger, der sich dieses Problems annehmen würde.

Und dabei geht aus Gesprächen immer wieder hervor, daß das Interesse an deutscher Kultur gerade in der kulturell lebendigen Woiwodschaftshauptstadt Oppeln mit ihrer Universität groß ist. Man ist an der deutschen Vergangenheit der Stadt interessiert, bekommt aber keine Information, keine Impulse. Gerade die Literatur könnte viele Blockaden auflockern, geistige Brücken bauen, die dazu beitragen würden, die heutigen polnischen Bewohner für die Kultur der Vergangenheit zu gewinnen. Es wäre dringend notwendig, der Meinung entgegenzutreten, die auch prominente Wissenschaftler in Oppeln äußern, es habe in Oberschlesien nie Kultur gegeben.

In der trüben Situation grenzt schon an ein Wunder, was ein bescheidener stiller geistlicher Herr, Wolfgang Globisch, zustandegebracht hat. Nach jahrelangem zähen Ringen ist es dem Pfarrer aus Kolonowska gelungen, eine Zentralbibliothek der Caritas in Oppeln einzurichten, in der vor allem deutsche, aber auch polnische Bücher und Zeitschriften ausgeliehen werden. Sie ist das Mutterhaus für weitere 34 Leihbüchereien in der ganzen Woiwodschaft und zwei Bibliobusse, die regelmäßig entlegene Ortschaften anfahren. Eigentlich fing alles mit diesen zwei Bibliotheken auf Rädern an, die seit 1992 das Land bereisen. Die Zahl der Leser stieg von Jahr zu Jahr. Heute zählen die Caritasbibliotheken fast zehntausend ständige Leser. 150 Dörfer werden mit den Bussen erreicht. Welchen Segen die Busse insbesondere in den kulturell verarmten Ortschaften bedeuten, läßt sich kaum ermessen. Die Caritasbüchereien tragen erheblich zur allgemeinen Kultur und zur Integration beider Bevölkerungsgruppen bei, weil ihre Bestände zu einem Drittel aus polnischen Büchern bestehen. Man kann in den Bussen auch Lektüre bestellen. Oft warten die Leser lange vor der Ankunft des Busses, um ihn nicht zu verpassen. Keine Rede von Leseverdrossenheit, wie man sie anderswo beklagt. Besonders Literatur über Schlesien ist gefragt.

Der Zentralen Bibliothek in Oppeln, bei deren Eröffnung ihr Schirmherr Erzbischof Alfons Nossol anwesend war, kommen aber noch andere Aufgaben zu. Sie soll ein Treffpunkt insbesondere für Jugendliche sein, die oft stundenlang nach der Schule auf Verbindung in ihre Dörfer warten müssen. Weitere kulturelle Aktivitäten sind geplant, vor allem Lesungen. Man kann der sich ständig in finanziellen Nöten befindenden Bibliothek nur recht viel Unterstützung, recht viele Sponsoren und weiteren Erfolg wünschen.

Es gehört zum Wertekanon des heutigen Europa, Schwächere zu schützen, also vor allem die Minderheiten. Die deutsche Minderheit liegt zwischen den Deutschen und den Polen, die beide die Obhutspflicht gegenüber dieser Menschengruppe haben. Behütet und geschützt von beiden Seiten, könnte die Situation der Deutschen in Polen sogar eine ideale sein und sie könnte die Folgen der Zwangsassimilierung überwinden, der sie unter dem totalitären Regime ausgesetzt waren. Die Chancen sind noch vorhanden. Hoffentlich werden sie genutzt.

Renata Schumann (KK)

Ihm sieht man es an, daß er „viele Blockaden lockern“ könnte:
Hans Lipinsky-Gottersdorf.
Aus: Hans Lipinsky-Gottersdorf, „Der Witz der Preußen“, Würzburg 1997
Das Bild kann hier leider nicht wiedergegeben werden.

Quelle: KK1117 Seite 8, 2000-08-10