KK 1117 vom 10. August 2000 Seite 3

Bahnverbindungen – außerökonomisch betrachtet
Wie sich die Deutsche Bahn AG um Europa verdient machen könnte

Im Augenblick reist man von Berlin in Richtung Osten noch bequem im Zug, vor allem im Interregio IR 328 „Mare Balticum“, der von Berlin-Lichtenberg unter anderem über Stettin, Köslin, Stolp, Danzig, Elbing nach Allenstein fährt. Im vergangenen Jahr fuhr er seit dem 25. Juni 1999, also mit Beginn der Hochsaison, sogar weiter nach Nikolaiken und Lyck. Hinzu kommen zwei Schnellzüge, darunter ein Nachtzug, die in Gdingen enden.

Nach den neuen Bahnplänen soll damit Schluß sein. Die Deutsche Bahn will die Linie einstellen. Die Argumente sind weitgehend bekannt und unter rein ökonomischen Gesichtspunkten zunächst einsichtig: allgemeiner Rationalisierungsdruck, mangelnde Auslastung, zu geringe Einnahmen. Hinzu kommt, daß viele Reisende ihre Fahrkarten nur bis Stettin lösen, um dann auf den günstigeren polnischen Tarif zurückzugreifen. Die Bahn empfiehlt, auf Linienbusse umzusteigen.

Gegen diese Pläne hat sich in Berlin eine „Fahrgast-Initiative Mare Balticum“ gebildet. Sie verweist auf die Schäden für das wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenwachsen von Deutschland und Polen. Betroffen sind polnische Arbeitspendler, deutsche Urlauber, insbesondere Fahrradtouristen, die in Masuren Ferien machen, aber auch Mittelständler, die Kontakte nach Polen und in die Oblast Königsberg geknüpft haben, sowie Tagestouristen. In einem öffentlichen Aufruf verweist die Initiative darauf, daß die empfohlene Bus-Alternative gar nicht besteht. Den zur Zeit etwa 240 Bahnreisenden pro Tag steht ein Angebot von 120 Busplätzen pro Woche gegenüber. Ganz abgesehen davon, daß lange Busreisen unbequem sind und kaum sperriges Gepäck transportiert werden kann. Die meisten würden also auf das Auto umsteigen oder grenzüberschreitende Reisen ganz unterlassen. Hinzu kommt der ökologische Aspekt. Noch kann man auf den hinterpommerschen und ostpreußischen Landstraßen mit dem Fahrrad unterwegs sein, ohne permanent von hupenden Autos behelligt zu werden. Diesen herrlichen Landschaften kann man keine deutschen Verkehrsverhältnisse wünschen!

Die Auslastung der Züge ist nach Aussagen von Zugbegleitern und Kunden unterschiedlich. Als ich Anfang Juni 1999 über Lauenburg in das Ostseebad Leba fuhr, füllte der „Mare Balticum“ sich in der Tat erst ab Stettin; von da an aber standen die Reisenden teilweise auf den Gängen. Auf der Rückfahrt zwei Wochen später war der deutsche Anteil unter den Fahrgästen weitaus größer. Ich kam mit einem Ehepaar aus Westdeutschland, Heimatvertriebenen, ins Gespräch, die mit den polnischen Bewohnern ihres Hauses in der Nähe von Elbing seit Anfang der achtziger Jahre freundschaftlich verbunden sind und sie regelmäßig besuchen. Sie waren sehr dankbar über diese günstige Bahnverbindung. Eine so weite Bus- oder Autoreise würden sie sich nicht zutrauen.

Zugverbindungen haben auch eine wichtige außerökonomische Dimension. Sie schaffen Brücken und Vertrauen. Letzteres wächst langsam, ist aber schnell zerstört. Die Direktverbindungen von Berlin nach Hinterpommern und Ostpreußen sind relativ neu, können jedenfalls erst seit wenigen Jahren frei genutzt werden. Viele potentielle Kunden kennen sie noch gar nicht, und die Bahn tut wenig, um das zu ändern. Der Fahrplan mit den Städteverbindungen ab Berlin beispielsweise, den die Deutsche Bahn herausgibt und auf den die meisten Kunden auch im Internet-Zeitalter zugreifen, gibt keine detaillierte Auskunft, wo die Züge in Polen halten. Das entspricht zwar dem Ordnungsschema der Broschüre, ist aber schlechtes Marketing. Außerdem ist nicht jeder mit den polnischen Namen vertraut, man könnte etwa hinter „Gdynia Glowna“ in Klammern „Gdingen“ hinzufügen, ohne gleich als revanchistischer Kreuzritter zu gelten.

Für viele Deutsche, falls sie nicht gerade zu den grenznahen „Polenmärkten“ wollen, bedeutet eine Individualreise nach Polen immer noch eine psychologische Hürde. Ein Unternehmen wie die Deutsche Bahn, nach wie vor für viele Inbegriff von Solidität, kann diese Hemmschwelle herabsetzen. Angesichts des bevorstehenden EU-Beitritts Polens wäre es provinziell und kontraproduktiv, Berlin von seinem weiteren nordöstlichen Hinterland abzuschneiden. Auch in Polen wird man sich über die Abkopplung von Berlin seine Gedanken machen. Keine Frage: die Bahn wird „dabei mehr Reputation verlieren, als die Zahl derjenigen Reisenden, die für (ihren) Fahrplan anscheinend unerheblich sind“, vermuten läßt. Die Initiative „Mare Balticum“ schlägt die Aufrechterhaltung mindestens einer Tages- und Nachtverbindung bis Danzig vor. Außerdem sollten die Verbindungen von Berlin-Lichtenberg auf die Stadtbahn verlegt werden, um den Umsteigezwang für Fahrgäste über Berlin hinaus zu beseitigen. Aus dem gleichen Grund sollten die Nachtverbindungen nach Gdingen Richtung Allenstein verlängert werden. Auch eine Rückverlängerung des „Mare Balticum“ ab Hamburg wird vorgeschlagen. „Auf diese Weise würden die vielen potentiellen Kunden aus Norddeutschlad, deren Wurzeln in Pommern liegen, die Möglichkeit einer Tagesreise in ihre Heimat erhalten.“ Ob solche außerökonomischen Argumente überhaupt noch zählen, ist allerdings mehr als ungewiß.

Einst eisernes Zeichen des Fortschritts:
Brücke über die Nogat bei Marienburg.
Holzstich aus „Illustrirte Zeitung“, 1899
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Thorsten Hinz (KK)
Quelle: KK 1117 Seite 3, 2000-08-10