KK 1107 vom 5. April 2000/ 9

Die Buchbesprechung
Woher sind die Vertriebenen gekommen?

Walter Ziegler (Hrsg.):
„Die Vertriebenen vor der Vertreibung.
Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert:
Strukturen, Entwicklungen, Erfahrung“, Redaktion Sabine Rehm.
Teil 1: 1999, Teil 2: 1999, Judicium-Verlag, München, 1073 S., DM 230,--

Das Forschungsprojekt der Bayerischen Staatsregierung lautet: „Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge“. An diesem Projekt sind sechs bayerische Universitäten beteiligt: Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Erlangen, München und Regensburg. Gleichsam die Ouvertüre zu diesem verdienstvollen Vorhaben sind die zum Jahresende 1999 vorgelegten beiden Bände über „die zeitgeschichtlichen Erfahrungen, von denen die Vertriebenen in ihren Heimatländern geprägt worden waren. Zwar gibt es über die Geschichte der Deutschen im Osten nicht wenige Gesamt- und Überblicksdarstellungen, es erschien aber nötig, der künftigen Integrationsforschung spezielle und konkrete historische Informationen zu geben über die politische und gesellschaftliche Lage der Menschen in den Ländern, aus denen sie durch die Vertreibung gerissen worden sind.“ So liest man es im Vorwort von Prof. Dr. Walter Ziegler.

Selbstverständlich gibt es niemanden, der sich über alle diese Vertreibungsgebiete so gut auskennen könnte, um als einzelner wissenschaftlich fundiert zu berichten, ob über Schlesier oder die Baltendeutschen, ob über Siebenbürger, die Sudetendeutschen und die Rußlanddeutschen. In diesen beiden Bänden ist jedoch kein Herkunftsgebiet der aus der Heimat Vertriebenen ausgegrenzt worden. Es ist daher nur zu gut zu verstehen, daß erst einmal „ein Team junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ zu gewinnen war, „die sowohl das Konzept für das Gesamtwerk zu entwickeln als auch wissenschaftlich gegründete Sachinformation im Detail zu geben hatten“. Zusammen mit dem Herausgeber Walter Ziegler, der zum Kapitel „Tschechoslowakei: Die Sudetendeutschen“ zwei Beiträge beigesteuert hat, sind es zwölf junge Wissenschaftler, wobei sich Frauen und Männer die Waage halten. Die auf der Titelseite und im Vorwort besonders herausgestellte Koordinatorin war Dr. Sabine Rehm, und auch die 100 Seiten des Abschnittes über Schlesien sowie die 80 Seiten der Einführung in die preußische Geschichte einschließlich der späteren Freien Stadt Danzig tragen ihre Handschrift.

Sowohl als Dokumentation wie auch als Nachschlagewerk werden die beiden Bände vorgestellt und zugleich auch wegen ihrer „Benutzbarkeit“ offeriert. Allerdings muß dann gleich bedauernd zum Ausdruck gebracht werden, daß ein derartiges Sammelwerk eigentlich – aber spät ist keineswegs zu spät wohl schon zum Ende der 50er, im Laufe der 60er Jahre hätte vorliegen müssen. Nicht nur von der allgemeinen Bevölkerung, sondern auch von den behördlichen Dienststellen konnte niemand annehmen oder erwarten, daß man mit dem Herkommen der Vertriebenen aus Ostpreußen oder Wolhynien, aus einer sudetendeutschen Sprachinsel oder der Dobrudscha genaues oder auch nur oberflächliches Wissen verbunden hat. Das wird jetzt in erfreulicher Weise nachgeholt.

Einige zum allgemeinen Verständnis beitragende Definitionen sind vorausgeschickt. So wird der Begriff „Vertriebene“ nicht aufgegliedert in „Vertriebene und Flüchtlinge“, wobei richtig angemerkt wird, daß umgangssprachlich vielfach nur von den „Flüchtlingen“ die Rede war und ist, obwohl die Vertriebenen gemeint sind. Auch sind in dem zeitgeschichtlichen Ablauf bis zur millionenfachen Vertreibung der Deutschen nicht die während der nationalsozialistischen Diktatur ausgehandelten „Umsiedlungen“ der Deutschen aus dem Baltikum, aus Bessarabien und der Dobrudscha gesondert behandelt worden. Zeitlich hat man als Ausgangspunkt der Einzeldarstellungen die Mitte des 19. Jahrhunderts und als Endpunkt das Jahr 1937 für die Grenzen des Deutschen Reiches gesetzt. Schließlich wurde auch Wert darauf gelegt, sich nicht ausschließlich mit den Herkunftsgebieten der im Freistaat Bayern ansässig gewordenen Vertriebenen zu befassen, sondern flächendeckend, wie es neudeutsch gern heißt, zu berichten und zu informieren.

Da der Rezensent nicht anders als die Mitarbeiter nicht in allen Herkunftsländern zu Hause ist und da überdies das zweibändige Werk mit seinen über 1000 Seiten als Nachschlage-Dokumentation konzipiert ist, seien die Abhandlungen über Schlesien, das Sudetenland und Siebenbürgen besonders herausgegriffen. Allen gemeinsam ist die Gliederung, indem zur jeweiligen Eröffnung der Darstellung die stets mehrseitige enggedruckte Sekundärliteratur ausgebreitet wird. Diese wird dann auch im Text, es sei das Kapitel über Schlesien angeführt, in sehr vielen Verweisen ausführlich zitiert. Das ist gut so, weil auf diese Weise jede Lückenhaftigkeit vermieden wird. Man hat sich eben nicht als bereits kenntnisreicher Spezialist beweisen wollen. (In einer jüngst erschienenen Geschichte Schlesiens haben sogenannte Sach- und Fachkenner sich selbst ein wenig überschätzt.)

Leider gibt es insofern Doubletten, als Sabine Rehm nach der Schilderung der Rahmenbedingungen, die für Preußen geschichtlich zu beachten sind, inhaltlich auf den Seiten über Schlesien das Gleiche nochmals erzählt. Dessen ungeachtet stellt man die Genauigkeit und Zuverlässigkeit, seien es Historie, Wirtschaft, Verwaltung oder Kultur, nur zu gern fest. Dies betrifft gerade auch die vielen Namen, die datengemäß und mit Herkunftsbezeichnung bekanntgemacht werden. Daß auch die in den 90er Jahren neu erschienene Sekundärliteratur miteingearbeitet worden ist, sei anerkennend erwähnt. Eine kleine Korrektur: der „Kreisauer Kreis“ datiert erst seit 1942, nicht bereits seit 1940, Gerhart Hauptmanns erstes großes Bühnenwerk (1889) heißt „Vor Sonnenaufgang“ und nicht „Vor Sonnenuntergang“ (1932), der schlesische Bildhauer Robert Bednorz sollte nicht mit dem Namen des Journalisten Klaus Bednarz erscheinen.

Der Beitrag über die Sudetendeutschen, er umfaßt 150 Seiten, zeichnet sich dadurch aus, daß hier nicht nur ein objektiv berichtender Wissenschaftler zu Worte kommt, sondern in seiner Person zugleich einer, der aus eigener Betroffenheit gleichsam mit Herzblut schreibt. Es ist dies der verantwortliche Herausgeber Walter Ziegler, der sich die Abschnitte „Politische Entwicklungen in der Habsburgermonarchie und in der Tschechoslowakei“ und „Kulturelle Leistungen“ vorgenommen hat. Gerade die Aufarbeitung der Zeitgeschichte in der Tschechoslowakei unter Tomas Masaryk und Edvard Benesch und zugleich die fast zwei Jahrzehnte des politischen Handelns der Sudetendeutschen sind schon deswegen so wichtig, weil allzu schnell die Gleichung kolportiert worden ist: Sudetendeutsche gleich Gefolgsleute von Konrad Henlein und damit wilde Nationalsozialisten, was in dieser falschen Schlagwortartigkeit nicht stimmt und vom Autor, durch Fakten belegt, engagiert und abwägend zurechtgerückt wird. Es wird nichts beschönigend ausgespart, aber jeder tendenziösen Unterstellung beweiskräftig widersprochen.

Nur noch die Anmerkung, daß in dem Bericht über Siebenbürgen unter dem Rubrum Rumänien für Literatur und Kunst der Siebenbürger Sachsen nur acht Druckzeilen zur Verfügung stehen. Hier hat man sich leider die Chance entgehen lassen, über 800 Jahre einer großartigen und erfolgreichen Kultur Zeugnis abzulegen.

Besonders erwähnt zu werden verdienen die eingestreuten ausgezeichneten Karten und Skizzen, denn sie informieren auf einprägsame Weise über Geographie, Statistiken sowie über Wandel und Wechsel in einer Zeit und von Ländern, während der und wo die Vertriebenen Heimat hatten, bevor sie vertrieben worden sind, und geistig immer noch Heimat haben.

Der Herausgeber dankt in seinem Vorwort dem „Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit“, „das die Arbeit des Autorenteams maßgeblich finanziell unterstützt und das Werk zum Druck befördert hat“. Walter Ziegler und der für die Redaktion verantwortlichen Redakteurin Sabine Rehm bestätigt der Leser und Benutzer dieser beiden Bände über „Die Vertriebenen vor der Vertreibung“ anerkennend sehr gern, daß dieses voluminöse Vorhaben, in der Tat ein wissenschaftliches Experiment, großartig gelungen ist. Aus der Einleitung Walter Zieglers sei zitiert: „Nicht also ‚Deutsche aus dem Osten‘ wurden vertrieben, sondern Menschen und Gruppen von Menschen, die in vielfältig prägenden Traditionen von Landschaft, Brauchtum, Erziehung, Beruf und politischem System eingebunden und, obwohl sie sich ihren andersnationalen Mitbürgern gegenüber oft als Einheit verstanden, mit diesen vielfältig verbunden waren. Will man die Bedeutung der Vertreibung ... ernsthaft begreifen, ohne sich durch Pauschalisierungen aufhalten und abbringen zu lassen, so muß man eben diese Traditionen im einzelnen aufsuchen, erfassen und ins Licht stellen.“ Mit dem Blick auf das Werk der Integrationsforschung ist bereits hervorragende Vorarbeit geleistet worden.

Herbert Hupka (KK)
Quelle: KK1107 Seite 9. 2000-04-05