Kartenfälscher am Werk
Wohl nahezu alle, die einmal mit Fahrrad- und Wanderkarten zu tun hatten, kennen das Problem: Auch jedes noch so kleinformatige topographische Kartenmaterial hat seine Tücken. Oft sind die scheinbar präzisen Darstellungen gerade an den Stellen lückenhaft, an denen der Nutzer besonders auf sie angewiesen ist, an unbeschilderten oder schlecht markierten Wegkreuzungen. Wer sich in der DDR am Material der dortigen Kartenverlage orientierte, konnte noch weitaus mehr Überraschungen erleben. Auf scheinbar unbebauten Wald- und Wiesenflächen befanden sich Übungsplätze der für die vormilitärische Ausbildung verantwortlichen Gesellschaft für Sport und Technik (GST), Betriebsferienlager oder FDJ-Heime. Der „verfallene Aussichtsturm“ erwies sich gelegentlich als Radarstation, für deren Umrundung sich eine weitläufige Exkursion durch ein Maisfeld als notwendig erwies. Eventuelle Tagesausflüge in die grenznahen Bereiche der „sozialistischen Bruderstaaten“ wurden durch die anstelle von Wegen und Orten abgedruckten kahlen gelben Flächen erschwert, so daß der entsprechende Nutzer nicht ganz zu Unrecht auf den Gedanken kommen konnte, mit der Grenzlinie sei auch das Ende jeglicher menschlicher Zivilisation markiert.

Bereits im März 2001 fand in Berlin eine von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU) initiierte Tagung zum Thema „Kartenverfälschung als Folge übergroßer Geheimhaltung?“ statt, deren Referate nun in gedruckter Form vorliegen. Was bislang bereits als kurze Meldungen in der Öffentlichkeit verbreitet wurde, fand durch ausgewählte Wissenschaftler seine Bestätigung: Seit Anfang der fünfziger Jahre wurde in der DDR topographisches Material in kleineren Maßstäben als „Verschlußsache“ behandelt und die für breitere Teile der Bevölkerung bestimmten Karten nach einer gezielten Systematik „frisiert“, also gefälscht.

In der Historie sind Kartenfälschungen vor allem aus der Phase des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt. Allerdings beschränkten sich diese zumeist auf die Umgebung militärisch besonders wichtiger Objekte. Mit der russischen Revolution und dem Bürgerkrieg kamen im „ersten sozialistischen Staat der Welt“ Fälschungen topographischer Karten wieder in Mode. Die von der dortigen kommunistischen Regierung strikt verordnete Geheimhaltung wurde im Laufe der kommenden Jahrzehnte schließlich bis zu Plänen mit einem Maßstab von 1 : 5 000 000 ausgeweitet. Das System fand nach der Errichtung der „Volksdemokratien“ ab 1945 auch auf diese Staaten Anwendung, in besonderem Maße in der DDR als dem am meisten westlich gelegenen Staat des ehemaligen Ostblocks. Kurios war im Vergleich zu früheren Fälschungen jedoch, daß sich der Staat durch eine weitaus überzogene Geheimhaltung letztlich selbst schwer schädigte. Die eigene Wirtschaft mußte zum größten Teil mit verfälschten Karteninhalten arbeiten und so mit Fehlplanungen bzw. Fehlprojektierungen von Objekten rechnen. Waren die Probleme bereits aus Aufträgen aus der Vergangenheit bekannt, wurde das vorhandene Material daher an Ort und Stelle nochmals überprüft und den tatsächlichen Gegebenheiten angepaßt, teilweise griffen die Verantwortlichen in den Kombinaten zur Umgehung solcher Schwierigkeiten auf Kartenmatenal zurück, welches bereits vor 1945 erstellt worden war. Beides war freilich mit zusätzlichem Zeitaufwand und Kosten verbunden, die letztlich auch nicht im Interesse der staatlichen Stellen liegen konnten.

Der Nachweis des konkreten Vorgehens bei der Erstellung des Kartenmaterials an Hand von Belegen ist allerdings auch heute noch kompliziert, weil es den Protagonisten der Fälschungen, vorzugsweise den zuständigen Abteilungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, in der unmittelbaren Wendephase 1989/90 gelang, ihre Institutionen selbst aufzulösen. Dadurch sind heute nur noch Bruchstücke von Korrespondenzen und Handlungsanweisungen erhalten geblieben. Ferner ist ein konkreter Vergleich der Karten schwer, denn es war auf Grund einer strikten Geheimhaltung üblich, Sätze, die nur einem kleinen Kreis von staatlichen Institutionen zugänglich waren, sofort nach der Erstellung von neuem Material zu vernichten. Selbst die wenigen zum Einblick Berechtigten durften dieses nicht ausleihen, sondern nur an Ort und Stelle nach entsprechender Antragsgenehmigung einsehen. Die Herausgabe der Karten erfolgte durch verschiedene Organe: Die „Staatliche Kartographie“ war dem Ministerium des Inneren untergeordnet, die Verlagskartographie unterstand dem Kulturministerium, die Militärische Kartographie dem Ministerium für Nationale Verteidigung. Während in den ersten Serien, die Anfang der fünfziger Jahre erschienen, lediglich die Sperr- und Grenzgebiete besonders „bearbeitet“ (so die interne Bezeichnung für „verfälscht“) wurden, geriet seit Ende der fünfziger Jahre die Erstellung und Verbreitung aller topographischen Karten von Maßstäben bis zu 1 : 100 000 grundsätzlich zum Staatsgeheimnis.

Für die Uberwachung des topographischen Kartenmaterials war zunächst das MdI zuständig, das auch die Zugangsvoraussetzungen regelte. 1959 wurde diese Rolle dem MfS übertragen. Seit 1963 hatten die topographischen Karten die Bezeichnung „Nur für den Dienstgebrauch“ zu tragen. „Gesamtpläne, Karten, Zeichnungen, technische Unterlagen und ähnliches von volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben und Einrichtungen“ mußten als „Verschlußsachen“ geführt werden. Bei Mißbrauch dieses Materials war eine Verurteilung nach § 14 Spionage, § 15 Sammlung von Nachrichten sowie § 367 Urkundenfälschung möglich.

Während der Zugang zu dem Material im Laufe der Zeit immer weiter erschwert wurde, wuchsen zugleich die Bedürfnisse der Volkswirtschaft nach detaillierten topographischen Karten. Um diese Ansprüche einigermaßen befriedigen zu können, wurde seit Mitte der sechziger Jahre neben der als „Vertrauliche Verschlußsache“ geheimgehaltenen „staatlichen“ Kartenserie (AS) eine speziell für die Volkswirtschaft vorgesehene Kartenserie (AV) produziert. Vor allem die ersten AV-Serien zeichneten sich jedoch gegenüber den AS-Karten durch Veränderungen aus, die berechtigterweise als „Kartenfälschungen“ bezeichnet werden können. So stimmten schon die Koordinaten beider Karten im Vergleich nicht überein, wodurch Verzerrungen entstanden. Gegenüber der AS-Karte war das AV-Material auch hinsichtlich der quantitativen Angaben z. B. zur Tragfähigkeit von Brücken, Straßenbreiten, Steigungen und Wassermengen von Talsperren gravierend reduziert. Ferner wurden die Bebauungsstrukturen, z. B. durch „Zerlegung“ größerer Gebäudekomplexe oder Ausradierung von Bahnanschlüssen vielfach geändert, so daß Rückschlüsse auf die Art der Objekte (Betriebe, militärische Objekte) nahezu unmöglich waren. Andere Gebäude wurden in den Karten entgegen ihrer tatsächlichen Lage gewendet, verschoben oder gelöscht. Größere Gebäude wurden in Einzelhaussiedlungen verwandelt, Fernverkehrs- und Landstraßen in Feld- und Waldwege. Eine besondere „Bearbeitung“ erfuhr natürlich auch der Grenzraum zur Bundesrepublik. Hier wurden teilweise die letzten Kilometer vor der unmittelbaren Grenzlinie überhaupt nicht dargestellt, Wege verändert oder gelöscht und andere – in der Realität nicht existierende – Verbindungen eingetragen, um potentielle Fluchtwillige zu irritieren.

Natürlich mußten, schon um das mögliche Aufdecken der Fälschungen zu erschweren, die Bearbeitungen nach konkreten, festgelegten Mustern erfolgen, die bei der Erarbeitung bzw. dem Druck der nächsten Serie ebenso berücksichtigt wurden. Die zunächst vorgenommene Einzelbearbeitung erfolgte daher bei späteren Bearbeitungen mit Hilfe von Folien, die auf die AS-Karten aufgelegt wurden und die bisherigen Standardisierungen ergänzten.

Erst in den achtziger Jahren wurden aufgrund der vielfachen Kritik der zivilen Kartennutzer die gröbsten Veränderungen in der Darstellungsweise im Vergleich zu den AS-Karten beseitigt. Dies war freilich in zweierlei Hinsicht viel zu spät: Weder der enorme Vertrauensverlust in das DDR-Kartenwesen, noch die heute nur grob zu schätzenden Schäden der eigenen Wirtschaft konnten durch eine solche Maßnahme auch nur annähernd ausgeglichen werden.

Dagmar Unverhau (Hrsg.): „Karten-Verfälschung als Folge übergroßer Geheimhaltung? EineAnnäherung an das Thema Einflußnahme der Staatssicherheit auf das Kartenwesen der DDR“, Lit-Verlag Münster 2002, ISBN 3-8258-5964-9, 304 Seiten, 19,90 €uro

Ekkehard Schultz

Entnommen dem „Stacheldraht 2003/1“ – Mitteilungsblatt des Bundes der Stalinistisch Verfolgten eV.

Wer weiß etwas über ähnliche Bestrebungen in westlichen Ländern? Zum Beispiel über den Versuch der Geheimhaltung des UTM-Meldegitters, das in Schleswig-Holsteinischen Karten nicht veröffentlicht wurde, über Reduzierung der infrastrukturellen Einträge wie Wasserbehälter und ähnlicher Objekte???
Beitrag hierüber wäre willkommen!