mitgeteilt von Walter Mogk im Ostpreußen-Forum:
Institut bestätigt Erkenntnisse des Historikers Gross:
Die Täter in Jedwabne waren Polen
Inspiriert wurde der Massenmord an Juden aber von Deutschen
Von Daniel Brössler
München Der Massenmord an den Juden von Jedwabne im Jahr 1941 war
das Werk ihrer polnischen Nachbarn. Das ist das Ergebnis der Ermittlungen des polnischen
Instituts des nationalen Gedenkens (IPN). Das Institut widergelegte damit die Darstellung,
die Hauptschuld an dem Pogrom vor 61 Jahren treffe die deutschen Besatzer. Täter
des Verbrechens im engeren Sinne waren Bewohner Jedwabnes und der Umgebung, sagte
der ermittelnde Staatsanwalt Radoslaw Ignatiew in Bialystok. Im weiteren Sinne
hätten die Deutschen die Tat aber inspiriert, weil sie zu Ausschreitungen gegen Juden
ermuntert hätten. Eine direkte Tatbeteiligung sei ihnen indes nicht nachzuweisen. Am 10.
Juli 1941 waren die Juden von Jedwabne in einer später angezündeten Scheune
zusammengetrieben und brutal ermordet worden. Begangen wurde die Tat den Ermittlungen
zufolge von einem Mob aus etwa 40 Polen.
Der Streit um die Hintergründe des Massenmordes hatte zu einer hitzigen Debatte in Polen
geführt. Ausgelöst worden war sie vor zwei Jahren von dem aus Polen stammenden New
Yorker Historiker Jan Tomasz Gross. In seinem Buch Nachbarn legte Groß unter
Berufung auf Zeugen dar, daß die jüdischen Einwohner Jedwabnes von ihren polnischen
Mitbürgern ermordet worden seien und widersprach damit der seit kommunistischer
Zeit geltenden Darstellung, es handele sich um ein ausschließlich deutsches Verbrechen.
Hierfür wurde Groß vor allem von Polen aus dem nationalistischen Lager stark
angefeindet.
Polens Staatspräsident Aleksander Kwasniewski hingegen entschuldigte sich vor einem Jahr
bei einer Gedenkfeier in Jedwabne für das Verbrechen und äußerte Schmerz und
Scham über das Böse, das Polen anderen angetan haben. Kwasniewski betonte damals
allerdings auch, daß die Vorgänge am 10. Juli 1941 in Jedwabne noch nicht vollständig
aufgeklärt seien.
Die Ermittlungen des IPN, in deren Verlauf 98 Zeugen gehört wurden, bestätigen nun
weitgehend die Darstellung von Gross. Für deutlich übertrieben hält das Institut aber
die von ihm genannte Zahl von 1600 Opfern. Eine genaue Ziffer könne aber vorläufig nicht
genannt werden. Groß begrüßte das Untersuchungsergebnis. Er hoffe, daß die
Öffentlichkeit dieses nun akzeptiere, sagte er.
Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 11. 7. 2002
Deutsche Mord-Erlaubnis
Polnische Ermittler: Das Pogrom von Jedwabne war eine Tat der Nachbarn
Gabriele Lesser aus Warschau
Jetzt ist es amtlich:
Im ostpolnischen Städtchen Jedwabne haben 1941 nicht die deutschen Nazis, sondern
christliche Polen ihre jüdischen Nachbarn ermordet. Pünktlich zum 61. Jahrestag des
Pogroms vom 10. Juli 1941 stellte das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) das Ergebnis
seiner fast zwei Jahre dauernden Ermittlungen vor. Wörtlich sagte Chefermittler Radoslaw
Ignatiew: Es waren Polen, die die entscheidende Rolle bei der Ermordung der Juden
von Jedwabne spielten.
Das Massaker, bei dem vor mehr als 60 Jahren Hunderte von jüdischen Frauen, Männern und
Kindern erschlagen oder in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt wurden, sei
allerdings von den deutschen Besatzern inspiriert worden. Die deutsche
Feldgendarmerie habe dem Morden tatenlos zugesehen.
Anstiftung
Ohne die deutsche Erlaubnis zum Mord aber wäre es nie zum Pogrom
gekommen, sagte Ignatiew überzeugt. Schuldig im strafrechtlichen Sinne seien daher
in sensu largo die Deutschen, die zum Mord an den Juden anstifteten, und
in sensu strictu die Polen, die den Massenmord am Ende ausführten.
Dennoch wird das IPN keine Anklagen gegen die Täter von einst erheben. Zum einen seien
etliche der polnischen Täter schon einmal vor polnischen Gerichten angeklagt und zum Teil
auch verurteilt worden. Zum anderen sei es nach so vielen Jahren nicht mehr möglich,
zweifelsfrei den genauen Tathergang festzustellen.
Bei den Deutschen wiederum sei es nicht möglich gewesen, die oder den Anstifter auch nur
namentlich zu ermitteln. Die Verdachtsmomente gegen den ehemaligen SS-Hauptsturmführer
Hermann Schaper reichten für einen strafrechtlich relevanten Tatverdacht nicht aus.
Das Ende der Ermittlungen scheint aber nicht die Debatte zu beenden. Zwar mußte die
konservative Zeitung Rzeczpospolita kleinlaut Abschied von ihrer These nehmen, daß
Schaper der Hauptverantwortliche war. Es waren doch die Nachbarn, titelt sie.
Doch der katholische Nasz Dziennik bleibt trotzig beim Vorwurf der Lüge, die
der antipolnische Autor Gross verbreite. Jan Tomasz Groß, Historiker und
Soziologe, hatte vor zwei Jahren mit seinem Buch Nachbarn die bisher größte
öffentliche Debatte über den Mythos einer Opfernation Polen ausgelöst.
Quelle: Der Standard (Wien) vom 11. 7. 2002
Kein Zweifel an polnischer Täterschaft, doch zugleich Rolle der
Deutschen betont
Von Gerhard Gnauck
Warschau Den jungen, kahlköpfigen Staatsanwalt Radoslaw Ignatiew hat die
Aufklärung des Judenpogroms von Jedwabne verändert und mit ihm ganz Polen. Der schwerste
Augenblick war für ihn, als er bei der Exhumierung der Leichen, die auf jüdische
Forderungen hin nur oberflächlich durchgeführt werden konnte, auf die Zahnansätze von
Säuglingen stieß. Das hinterläßt Spuren in der Psyche, sagt Ignatiew. Erst
habe er einen inneren Widerstand dagegen verspürt, zu glauben, daß in
Jedwabne im Nordosten Polens Juden grundlos von ihren Nachbarn umgebracht wurden.
Aber ein Staatsanwalt darf sich nicht nach seinen Überzeugungen richten.
61 Jahre nach dem Pogrom vom 10. Juli 1941 hat Ignatiew und mit ihm das Institut des
Nationalen Gedenkens (IPN), die polnische Entsprechung der deutschen Gauck-Behörde,
das Ergebnis der Ermittlungen im Fall Jedwabne vorgelegt. Der Ort war 1939 von den Sowjets
besetzt worden. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 war es in Jedwabne und mehreren
Nachbardörfern zu Pogromen an Juden gekommen. In Jedwabne hatten polnische Täter ihre
jüdischen Nachbarn auf dem Marktplatz zusammengetrieben, verhöhnt und dann in eine
Scheune am Ortsrand gejagt und bei lebendigem Leibe verbrannt.
Zwar waren kurz nach dem Kriege mehrere Männer deswegen verurteilt worden. Doch dann
wuchs Gras über die Sache - so gründlich, daß fortan die offizielle Version lautete,
deutsche Soldaten hätten die Juden ermordet. Vor zwei Jahren jedoch leiteten das Buch
Sasiedzi (Nachbarn) des polnisch-amerikanischen Historikers Jan T. Groß und
ein gleichnamiger Fernsehfilm, die katholischen Polen die Schuld am Pogrom gaben, eine der
heftigsten Debatten seit 1989 ein. Auf ihrem Höhepunkt kam am 60. Jahrestag des
Verbrechens Präsident Aleksander Kwasniewski nach Jedwabne, um im Namen derjenigen Polen,
deren Gewissen dieses Verbrechen bewegt hat, um Entschuldigung zu bitten.
Das Verbrechen hat die Gewissen vieler Polen bewegt, auch wenn nationalistische Kreise die
Schuld den damals mit der Anstachelung zu Pogromen beauftragten deutschen Sondereinheiten
in der Gegend zuzuschieben versuchten. Die katholische Kirche feierte einen zentralen
Gedenkgottesdienst für die Opfer, die führenden Zeitungen dokumentierten und
diskutierten dieses und andere Verbrechen an Juden über Monate hinweg. Das IPN, das weit
größere Befugnisse hat als die Gauck-Behörde, leitete staatsanwaltschaftliche
Ermittlungen ein. Als das IPN die Ergebnisse vorstellte, war das Thema noch einmal die
Spitzenmeldung in allen Nachrichtensendungen.
Dabei boten die Ergebnisse, die Ignatiew und der IPN-Mitarbeiter Professor Witold Kulesza
vorstellten, keineswegs Antwort auf alle Fragen. Zwar wurden in mehreren Ländern 98
Zeugen vernommen, darunter der frühere SS-Hauptsturmführer Hermann Schaper, auf den
Recherchen der Süddeutschen Zeitung aufmerksam gemacht hatten. Seine Einheit
war 1941 in der Gegend gewesen, doch konnte er aus gesundheitlichen Gründen nur kurz
verhört werden. Da außer den bereits bestraften keine neuen Tatverdächtigen ermittelt
wurden, muß das Verfahren demnächst eingestellt werden.
Zum Tathergang hält das IPN demnach fest, daß die Beteiligung der polnischen
Bevölkerung für die Verwirklichung des verbrecherischen Plans entscheidend war.
Mindestens 40 Männer hätten 300 oder mehr jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet.
Sensu largo (im weiten Sinne) seien deutsche Uniformierte verantwortlich, die
durch ihre Duldung und möglicherweise durch vage Anstiftung das Verbrechen angeregt
hätten; sensu stricto dagegen die Polen als Ausführende. Damit wurde die
Rolle der Deutschen stärker als bisher hervorgehoben. Auch IPN-Vorsitzender Leon Kieres
äußerte sich in diesem Sinne. Auf die Frage, wer die Opfer von Jedwabne umgebracht habe,
antwortete er im polnischen Fernsehen: Der Zweite Weltkrieg. Ohne ihn und ohne die
Besatzung wäre dieses Verbrechen nicht möglich gewesen.
Die in Jedwabne aufgefundenen deutschen Patronenhülsen stammten, wie das IPN ermittelt
hat, aus anderen Zeiträumen, nicht aus der Tatzeit. Insgesamt hat die polnische
Öffentlichkeit offenbar weitgehend die Tatsache akzeptiert, daß es polnische Täter
waren, die das Verbrechen von Jedwabne begangen. Im IPN arbeiten derzeit etwa 20
Mitarbeiter noch an einer 2000 Seiten umfassenden wissenschaftlichen Dokumentation, die im
September erscheinen soll.
Quelle: Die Welt vom 11. Juli 2002
Quelle: www.spiegel.de
UNTERSUCHUNGSBERICHT ZU JEDWABNE
Polen begingen Massaker an Juden
Das Massaker, bei dem 1941 in Jedwabne 300 Juden ermordet wurden, war lange Zeit
ein Tabu in der polnischen Gesellschaft. Jetzt hat ein offizieller Bericht festgestellt,
daß nicht Deutsche, sondern Polen die jüdischen Einwohner umbrachten.
Kranzniederlegung in Jedwabne: Die Deutschen spielten keine aktive
Rolle.
Warschau Fast genau 61 Jahre nach der Ermordung der jüdischen
Bevölkerung der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne hat die polnische Justiz am Dienstag
die Ermittlungen zu dem Pogrom abgeschlossen. Bei der Tat habe es sich um ein
geplantes Verbrechen von Polen aus der Umgebung gehandelt, teilten die
Juristen im ostpolnischen Bialystok mit. Sie widerlegten damit die bisherige Darstellung
der Ereignisse von Jedwabne.
Jahrzehntelang waren die deutschen Besatzer für die Morde am 10. Juli 1941 verantwortlich gemacht worden. Strafrechtliche Folgen wird es dem Abschlußbericht zufolge nicht geben. Weil keine noch lebenden Täter ermittelt werden konnten, soll das Verfahren eingestellt werden.
Mehrere hundert Opfer
Wahrscheinlich seien in Jedwabne mehr als 300 Menschen ermordet worden, schätzten die
Ermittler. Um die Zahl der Opfer genauer bestimmen zu können, fehlten noch einige
Aussagen von Zeugen aus Israel. Das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), das für die
Aufarbeitung nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen in Polen zuständig
ist, hatte vor zwei Jahren die Ermittlungen aufgenommen.
Zuvor waren Zweifel an der bisherigen Darstellung der Ereignisse aufgekommen. Zuerst hatte
der polnische Historiker Jan Tomasz Groß in seinem Buch Nachbarn die Schuld
der Deutschen an dem Pogrom von Jedwabne bezweifelt. Groß berichtete unter Berufung auf
einen Augenzeugen, Polen hätten ihre jüdischen Nachbarn grausam ermordet. Der Historiker
war jedoch von rund 1600 Opfern ausgegangen. Diese Zahl sei stark überhöht, sagten die
Juristen.
Polens Präsident entschuldigte sich
Das Buch hatte in Polen eine heftige Diskussion ausgelöst. Im vergangenen Jahr
entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwasniewski vor Angehörigen der Opfer am
60. Jahrestag des Pogroms öffentlich für die Beteiligung von Polen.
Die Aussagender Zeugen, mit denen die IPN-Ermittler sprachen, unterschieden sich zum
Teil beträchtlich, sagte der ermittelnde Staatsanwalt Radoslaw Ignatiew. Einige der
polnischen Zeugen gaben an, eine Gruppe uniformierter Deutscher habe die Polen gezwungen,
die jüdischen Einwohner auf dem Marktplatz zusammenzutreiben. Dagegen sagten andere, sie
hätten mit Ausnahme einiger Gendarmen keine Deutschen gesehen. Die IPN-Staatsanwälte
kamen zu dem Schluß, daß während des Pogroms nur wenige Deutsche vor Ort waren; diese
hätten keine aktive Rolle gespielt.
Großbildansicht: Exhumierungarbeit in Jedwabne: Ein geplantes Verbrechen
von Polen
SPIEGEL ONLINE 9. Juli 2002
An Jedwabne scheiden sich die Geister
Polen sollte Verbrechen an den Juden als Teil der Geschichte akzeptieren
Von Dawid Warszawski
Warschau Vor knapp einer Woche gab das Institut für Nationales Gedenken
(ING) seinen Abschlußbericht über das Massaker an den Juden heraus, das vor 61 Jahre in
der Stadt Jedwabne geschah und vor einem Jahr erstmals öffentlich bekannt gemacht wurde.
Die Ergebnisse waren so nüchtern wie eindeutig. Der Bericht befand, daß das Verbrechen
zwar einer Idee der Deutschen zuzuschreiben, die Rolle der Polen aber
nichtsdestoweniger entscheidend gewesen sei.
Im Grunde bestätigt der Abschlußbericht die Aussagen, die Jan Groß in seinem Buch
Nachbarn schon vor einem Jahr gemacht hat. Danach wurden die Juden von
Jedwabne ihre genaue Zahl ist nicht mehr festzustellen von ihren polnischen
Mitbürgern auf den Marktplatz getrieben, in eine Scheune gezwängt, die Türen
verschlossen und die Scheune angesteckt. Der Bericht betont korrekterweise und polemisiert
damit indirekt gegen diejenigen, die die ganze Stadt des Verbrechens beschuldigt hatten,
daß die Gruppe der unmittelbaren Täter begrenzt war auf nicht weniger als 40
Männer. Allerdings war das passive Verhalten des Großteils der Bevölkerung
der Stadt gegenüber dem Verbrechen nicht weniger entscheidend. Das Institut macht
keine Angaben darüber, was die Motive derjenigen waren, die das schaurige Spektakel
duldeten. Es steht aber fest, daß jenes Verbrechen ohne die Gleichgültigkeit der Bürger
von Jedwabne in dieser Weise nicht geschehen wäre.
Antonia Wyrzykowska, die sechs Juden rettete und sie den ganzen Krieg über versteckte,
nur um später als Verräter aus der Stadt verjagt zu werden, ist die erfreuliche Ausnahme
unter den damaligen Einwohnern von Jedwabne. Die Juden der Stadt waren alleine an diesem
Tag konfrontiert mit ihren polnischen Nachbarn, die sie zur Strecke brachten.
Der Bericht nennt die Täter nicht beim Namen. Diese Entscheidung ist richtig. Nach 61
Jahren wäre ein Prozeß der wenigen noch lebenden Täter eine Farce. Viel wichtiger ist,
daß der Bericht frische Luft in den muffigen Raum der bisherigen Debatte bringt. Denn
noch immer wird in Polen nicht genügend über die damaligen Ereignisse nachgedacht. Noch
immer gibt es viele, die die dunklen Flecken der polnischen Geschichte nicht wahrhaben
wollen.
Nichts belegt dies eindeutiger als ein Besuch an der Gedenkstätte, dort, wo das Massaker
geschah. Zum Jahrestag rezitierte eine Gruppe Warschauer Juden Psalme. Das Gras am
Denkmal, mit Zigarettenstummeln übersät, war schlecht geschnitten. Jemand hatte das Wort
Hitler auf die Gedenkplakette geritzt. Das Denkmal am Ort des jüdischen
Friedhofs, auf der anderen Straßenseite, trägt Zeichen von Schlägen und gerade
entfernten Farbschmierereien. Aber insgesamt ist es überraschend, wie gut die
Denkmäler das Jahr überstanden haben, sagt einer der Betenden bescheiden. Das
örtliche Betriebsamt teilt mit, daß es nicht beauftragt wurde, sich um die Gedenkstätte
zu kümmern. Der Bürgermeister der Stadt, der letztes Jahr zum Ärger seiner Wähler, an
den jüdischen Feiern teilgenommen hatte, lebt heute als Emigrant in den USA.
Und so haben wir also ein Denkmal mit einer Inschrift, die an die Opfer erinnert, über
die Täter aber schweigt. Dieses Schweigen mag letztes Jahr durch die Tatsache
gerechtfertigt gewesen sein, daß das ING noch ermittelte. Heute aber wissen wir
offiziell: Die Nachbarn verübten das Verbrechen. Sollte die Inschrift jetzt geändert
werden? Die gegenwärtige Inschrift spiegelt das Recht der Opfer wieder, nur in dem Maße
repräsentiert zu sein, das ihnen die Nachkommen der Mörder zugestehen. Alles, was
darüber hinausgeht, ist Sache ihres Gewissens. Es hängt davon ab, ob dieses Gewissen
zugänglich gemacht werden und wie viel Wahrheit darin enthalten sein kann.
Die Wahrheit über Jedwabne liegt in der Mitte, sagt Bischof Tadeusz Pieronek,
der als moralische Instanz im Episkopat gilt, nachdem der ING-Bericht veröffentlicht
wurde. Doch in der Mitte wovon? Die Mitte liegt auf einem freien polnischen Feld, zwischen
der Kirche und dem Wald von Jedwabne. Das Getreide stand damals niedrig, so wie
jetzt, erinnert sich ein Überlebender, es gab keine Möglichkeit, sich zu
verstecken. Wir kennen nun also die Wahrheit über Jedwabne, und wir wissen, wo sie
liegt. Das Entscheidende ist, was wir jetzt damit tun.
Jedwabne sollte Teil einer kollektiven polnischen Identität werden, eins von den Dingen,
die einem durch den Kopf gehen, wenn das Wort wir fällt, Teil des
obligatorischen Lehrplans. Nein, nicht aus verdrehter Selbstgeißelung. Man kann nicht
vergessen, daß Jedwabne ohne die Deutschen niemals geschehen wäre. Und nicht, um es als
Gegengewicht in irgendeiner gräßlichen moralischen Aufrechnung zu nutzen. Solche
Rechnungen kann man nicht machen. Aber die Polen müssen sich an Jedwabne erinnern, um
sich nicht selbst zu täuschen. Polen, sagt Rabbiner Schudrich, befindet
sich in einem Prozeß der tief greifenden, schwierigen und ehrlichen Gewissensprüfung.
Davon könnten andere Länder lernen. Das ist eine furchtbar schwierige Aufgabe.
Doch dank des veröffentlichten Berichts wird sie möglich.
Der Autor ist Publizist und lebt in Warschau. In der Zeit des Kommunismus fiel er durch
mutige Kommentare gegen das Regime auf.
Quelle: Die Welt vom 17. Juli 2002
Und was fällt mir dazu ein?
Erstens bin ich beunruhigt zu lesen, daß es nach über 60 Jahren in Polen unmöglich ist, Tathergänge zweifelsfrei zu klären und eine Verurteilung der Verbrecher vorzunehmen. In Deutschland ist man überzeugt davon, daß die Verurteilung von Verbrechern auch nach über 57 Jahren ohne Schwierigkleiten möglich sei und exerziert dies auch an Achtzigjährigen.
Zweitens bin ich beruhigt darüber, daß auch in der Täternation Polen die Tatsache nicht angezweifelt wird, daß alle Schuld an allem Bösen im weiteren Sinne bei Deutschland und den Deutschen liege. Solche Rollenverteilung ist doch sicherlich die beste Grundlage für weitere Völkerverständigung. Wäre ja auch noch schöner, wenn mal die Geschichtliche Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit käme!
Und drittens beobachte ich verwundert, daß man den Deutschen 1600 Opfer anlastete,
daß aber nach Bekanntwerden der polnischen Urheberschaft die Zahl der Opfer auf weniger
als ein Fünftel zusammenschrumpft. Kann mir das jemand mal plausibel erklären??
ML 2002-07-12
Und zum Bericht der Welt vom 17. Juli 2002: Nach 61 Jahren ist es gut,
daß kein Prozeß das Geschehen aufrollt und die noch lebenden Schuldigen zur Rechenschaft
zieht? Warum ist das in Polen gut und warum ist in Deutschland das Gegenteil
richtig???
ML 2002-07-19