Pressestimmen zum Gedenken in Jedwabne
Zusammengestellt von Walter Mogk
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AP: Ankündigung
AP: Bericht
Bieler Tageblatt
Bremer Nachrichten
Die Südostschweiz

Die Welt
DPA 2001-07-06
DPA 2001-07-10
Neue Zürcher Zeitung
Stuttgarter Zeitung: Vorbericht
Stuttgarter Zeitung: Wortlaut
Stuttgarter Zeitung: Kommentar

Lesen Sie auch das Gespräch des
Berliner Tagesspiegels 2001-07-06
mit dem "Nachbarn"-Autor Jan Tomasz Gross

DPA-BERICHT VOM 2001-06-07
Datum:     2001-07-06-01:36:42 (MESZ)
Ein Pogrom vor 60 Jahren teilt die polnische Gesellschaft
Von Eva Krafczyk, dpa
Warschau (dpa) – Selten hat ein Buch die Polen so aufgewühlt wie das knapp 120 Seiten lange Werk "Nachbarn" des in den USA lebenden polnischen Historikers Jan Tomasz Gross. Seine Schilderung eines Pogroms, dem am 10. Juli 1941 bis zu 1600 Juden der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne zum Opfer fielen, zu Tode geprügelt, misshandelt und bei lebendigem Leibe verbrannt von einigen ihrer christlichen Nachbarn, sind nicht nur Historiker zerstritten.  
Das Verbrechen vor 60 Jahren teilt seit mehr als einem Jahr die polnische Gesellschaft. Theologen und Journalisten, Intellektuelle und Politiker führen seit Monaten eine nicht endende Debatte über den Antisemitismus in Polen, über polnische Schuld, über Reue und Sühne.
Während Staatsanwälte des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) Indizien und Zeugenaussagen auswerten, ist vor allem in nationalkonservativen Kreisen eine Kampagne gegen das im Gange, was ihrer Meinung nach den guten Namen Polens beschmutzt.
Jahrzehntelang sahen sich die meisten Polen als Opfer. Die Nationalsozialisten ermordeten während des Zweiten Weltkrieges nicht nur drei Millionen polnischer Juden, sondern auch dreieinhalb Millionen christlicher Polen, verschleppten Millionen zur Zwangsarbeit. In keinem anderen von den Deutschen besetzten Land Europas erstreckte sich die Widerstandsbewegung auf so viele Bereiche – vom Partisanenkampf über Untergrundgerichte, geheime Schulen, Hochschulen und Kulturbetriebe, die es für die als "Untermenschen" behandelten Polen nicht geben durfte. In keinem anderen Lande wurden so viele Menschen mit der höchsten Ehrung des Staates Israel ausgezeichnet, der Medaille der "Gerechten unter den Völkern" für die Rettung verfolgter Juden unter Einsatz des eigenen Lebens.
Doch Mut, Widerstand und Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern waren eben nur die eine Seite der Medaille. Die andere, die "szmalcowniki", die untergetauchte Juden erpressten oder an die Gestapo auslieferten, die Partisanen, die aus Antisemitismus selber Jagd auf Juden machten, war ein Tabuthema.
Als "Nachbarn" erschien, schienen Schockwellen durch Polen zu gehen. Dass der Schock immer noch anhält, hat den Warschauer Rabbiner Michael Schudrich sehr erstaunt. "Das Buch muss tief in der polnischen Seele etwas berührt haben", sagte er kürzlich bei einer Diskussion mit Gross in der Warschauer Synagoge.  
Im Ausland dagegen, etwa in seiner Heimat Amerika, habe der Bericht über das Jedwabne-Pogrom niemanden sonderlich überrascht – nicht zuletzt auf Grund negativer Stereotype: "Viele sind davon überzeugt, dass die Polen den Deutschen bei der Vernichtung der Juden geholfen haben."
Jahrhundertelang war Polen der Zufluchtsort europäischer Juden vor Verfolgung und Intoleranz gewesen. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges wurde Polen zum größten jüdischen Friedhof ohne Gräber, standen Namen wie Auschwitz, Majdanek, Treblinka oder Sobibor für das Ende der polnisch-jüdischen Symbiose. Erst in den vergangenen Jahren seit der politischen Wende wurde vielen Polen bewusst, dass sie einen wichtigen Teil ihrer Kultur verloren hatten. In dieser Situation hatte der Bericht über das Jedwabne-Pogrom, für das jahrzehntelang die Gestapo verantwortlich gemacht wurde, die Wirkung einer Bombe.   
Die Geschichte des Holocausts wird durch Jedwabne nicht umgeschrieben. Das polnische Selbstbild dagegen hat für viele Risse bekommen.
Staatspräsident Aleksander Kwasniewski will ein Zeichen setzen, indem er sich am 10. Juli während der Gedenkfeiern in Jedwabne vor Überlebenden des Pogroms und Angehörigen der Ermordeten im Namen Polens entschuldigt.
Die Feier am Jahrestag des Pogroms soll nicht nur der Welt zeigen, dass sich das heutige Polen auch mit den dunklen Flecken seiner Vergangenheit auseinandersetzt. "Das Wichtigste", meinte etwa der katholische Priester Michal Czajkowski, einer der aktiven Verfechter des Dialogs mit dem Judentum, "ist Einsicht in eigene Schuld".
©dpa

 

AP-MELDUNG 2001-07-07
Mahnmal für von Polen ermordete Juden fertig gestellt
Jedwabne (AP)
Kurz vor dem 60. Jahrestag eines Massakers von polnischen Dorfbewohnern an etwa 1.600 Juden ist am Samstag ein neues Mahnmal zum Gedenken an die Opfer fertig gestellt worden. Es ersetzt ein Monument aus kommunistischer Zeit, das »Gestapo und Nazi-Soldaten« für das Verbrechen verantwortlich machte. In dem Ort Jedwabne, knapp 200 Kilometer nordöstlich von Warschau, hatte ein Mob am 10. Juli 1941 die jüdische Bewohner in eine Scheune getrieben und diese dann in Brand gesetzt; die Opfer verbrannten bei lebendigem Leib.
Präsident Aleksander Kwasniewski will am Dienstag an der offiziellen Gedenkveranstaltung für die ermordeten Juden teilnehmen. Der emigrierte polnische Historiker Jan Tomasz Gross hatte in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Nachbarn« die Geschehnisse von Jedwabne neu untersucht und die polnische Bevölkerung damit konfrontiert, daß Polen während des Zweiten Weltkriegs nicht immer nur Opfer der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten und die deutsche Besatzungsmacht, sondern manchmal auch selber Täter und Kollaborateure waren.
© AP

 

„STUTTGARTER ZEITUNG“ 2001-07-10
Unter Schmerzen verabschiedet sich Polen vom Leidensmythos
Heftige Debatten vor der Gedenkfeier für die Juden von Jedwabne, die von ihren eigenen Nachbarn ermordet worden sind
Seit Monaten erregt in Polen die Debatte um ein Judenpogrom die Gemüter. Heute will sich Präsident Kwasniewski für die Ermordung der Juden von Jedwabne entschuldigen. Die Erkenntnis, daß Polens Geschichte nicht nur Opfer, sondern auch Täter kennt, fällt vielen indes schwer.
Von Thomas Roser, Jedwabne
Mißmutig schüttelt der Greis sein ergrautes Haupt. Er sei noch ein Kind gewesen, als die Scheune gebrannt habe, erzählt er. „Es wurden dort Juden verbrannt, ob von Deutschen oder Polen, weiß ich nicht mehr – das ist doch auch egal.“ Mit Deutschen würde er im Gegensatz zu „den Juden“ aber gerne noch einen Wodka trinken wollen, berichtet er mit vertraulichem Augenzwinkern. Er könne nicht verstehen, warum „die Juden“ nun 60 Jahre nach dem Brand noch so „einen Ärger“ machen würden: „Ähnliches ist schließlich auch in anderen Dörfern passiert: Warum wird nun ausgerechnet Jedwabne überall so schlecht gemacht?“
Schwül und schwer lastet die Mittagshitze über den Roggenfeldern. Kniehohe Granitblöcke markieren den Grundriß der Scheune, die für die jüdischen Bewohner des idyllisch gelegenen Dorfes im Nordosten Polens am 10. Juli 1941 zur Todesfalle wurde. Einen Tag lang prügelte und steinigte ein entfesselter Mob kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in die bis dahin von den Sowjets besetzte Region ihre jüdischen Nachbarn auf bestialische Weise zu Tode. Hunderte von ihren Opfern pferchten die blutrünstigen Schlächter schließlich in die Scheune unweit des jüdischen Friedhofs. Mit Benzin setzten sie das Gebäude in Brand, im ganzen Dorf waren die Schreie ihrer bei lebendigem Leib verbrennenden Nachbarn zu hören.
Zwar wurde nach dem Krieg 1949 eine Hand voll der Schergen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, doch die gründliche Aufarbeitung des Pogroms blieb aus. 1962 ließ der kommunistische Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie in Jedwabne einen Gedenkstein aufstellen, der „Gestapo und Hitler-Polizei“ für die Ermordung der 1600 Juden des Ortes verantwortlich machte.
Fast vier Jahrzehnte sollte die Stein gewordene Geschichtsverfälschung den Ort des Massakers markieren. Die „antizionistische“ Kampagne des Regimes, die sich antisemitische Vorbehalte geschickt zu Nutze machte und 1968 in der Zwangsausbürgerung polnischer Juden gipfelte, bestimmte fortan die Geschichtsschreibung: Die Auseinandersetzung mit jüdischen Themen blieb lange tabu.
Erst Anfang der 80er Jahre begann sich in Polen wieder Interesse am jüdischen Kulturerbe zu regen. Nach dem Machtwechsel 1989 lebten in den Großstädten kleine jüdische Gemeinden wieder auf. Endlich begannen sich auch Historiker mit der widersprüchlichen Materie zu befassen. Doch keine Arbeit hat so viel Aufsehen erregt wie das vor Jahresfrist veröffentlichte Buch „Nachbarn“ des 1968 in die USA emigrierten Soziologen Jan Tomasz Gross. Seine auf Augenzeugenberichten beruhende Arbeit über das Dorf, in der die eine Hälfte der Bevölkerung die andere ermordete, traf Polen wie ein Keulenschlag. Seinen Erkenntnissen zufolge hatten die deutschen Besatzer zwar das Pogrom initiiert, begangen wurde es aber von den Bewohnern: „Es waren nicht die Nazis, sondern deren Nachbarn, die die Juden töteten.“
Die Diskussionen um das Buch lösten bald eine nationale Debatte aus, die seit Monaten die Schlagzeilen der heimischen Medien bestimmt. Nationalistisch gesinnte Kirchenfürsten und Historiker mühten sich nach Kräften, die polnische Beteiligung am Pogrom abzuwiegeln: Gross habe unsorgfältig gearbeitet, die Deutschen hätten die Bewohner zu dem Massaker gezwungen, die Juden sich zudem zuvor der Kollaboration mit den Sowjets schuldig gemacht. Auch in Jedwabne habe die Diskussion um das Pogrom die Bevölkerung „geteilt“, berichtet in seiner Amtsstube müde Bürgermeister Krysztof Godlewski. „Tiefer Schock“ oder „entrüstete Zurückweisung“ seien die gängigen Reaktionen: „Während die einen akzeptieren können, daß die polnische Nation nicht immer nur aus Helden bestanden hat, verweigern sich andere dieser Einsicht resolut.“
Schon im 19. Jahrhundert von den benachbarten Großmächten für mehr als 100 Jahre von der Landkarte gefegt, hatte im Zweiten Weltkrieg neben der Sowjetunion wohl kaum ein anderes Land so unter der deutschen Besatzung zu leiden wie Polen. 1939 von zwei Nachbarn überfallen, verlor das Land in sechs Jahren ein Fünftel seiner Bevölkerung, wurde die jüdische Gemeinschaft durch den nationalsozialistischen Völkermord fast vollständig vernichtet. Die Polen hätten sich an das Selbstbild der wehrlosen Opfer der Geschichte gewöhnt, erklärt der Warschauer Journalist Zygmunt Dzieciolowski die Heftigkeit der Jedwabne-Debatte.
Schmerzlich und schrecklich sei für ihn die Lektüre des Buches gewesen, gestand Präsident Alexander Kwasniewski, als er im März seine Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Pogroms ankündigte: „Doch wir dürfen unseren Kopf nicht in den Sand stecken, sondern müssen unserer Trauer Ausdruck geben und uns für diejenigen entschuldigen, die dieses Verbrechen begingen.“ Vielen seiner Landsleute fällt die Einsicht indes schwer, daß die bisher so stolz gehegte Geschichte Polens auch einige dunkle Seiten kennt. Nicht nur die Furcht, daß die Morde von Jedwabne im Ausland gar mit dem staatlich inszenierten Völkermord der Deutschen gleichgesetzt werden könnten, belastet die Diskussion um das Pogrom.
Mit der Bemerkung, daß es nun aber an der Zeit sei, daß auch die Juden darüber nachdächten, welche Schuld jüdische Parteifunktionäre während der sowjetischen Besatzung auf sich geladen hätten, brüskierte Kardinal Jozef Glemp die jüdische Gemeinschaft des Landes ebenso wie der für seine antisemitischen Neigungen berüchtigte Danziger Bischof Henryk Jankowski: „Wir sollten das ganze Gerede um Jedwabne beenden. Wer hat denn Christus ans Kreuz geschlagen und wer kreuzigt derzeit Polen?“
Gross’ Buch über die „Nachbarn“ hat auch deswegen für so viel Wirbel und Aufregung gesorgt, weil die Debatte darüber die polnische Öffentlichkeit so offen mit dem Antisemitismus im eigenen Land konfrontiert habe, meint Dzieciolowski.
Frische Ölfarbe glänzt auf dem Wegweiser zur Gedenkstätte, eine Dampfwalze rollt langsam über die für die Feierlichkeiten frisch geteerte Straße. „Eigentlich könnte die Diskussion auch eine Riesen-Marketingchance für Jedwabne sein, aber die Leute erkennen das leider nicht“, klagt ein Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung. Er empfinde die Debatte um das Pogrom als „positiv“, meint indes Bürgermeister Godlewski. Wenn im Dorf endlich wieder der Alltag eingekehrt sei, hoffe er, daß nicht nur Politiker und Historiker, sondern auch „normale Leute“ zu einem „fruchtbaren“ Dialog über das Pogrom finden könnten, Juden das Gespräch mit den Einwohnern von Jedwabne suchen würden: „Wir müssen den vorurteilsfreien Umgang mit unserer Geschichte noch lernen. Doch das ist ein mühsamer Prozeß.“

 

DPA-MELDUNG 2001-07-10
Entschuldigung für Pogrom von Jedwabne
Jedwabne (dpa) – Der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski hat sich am Dienstag in der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne öffentlich für das vor 60 Jahren verübte Pogrom an den 1600 jüdischen Einwohnern des Ortes entschuldigt. »Ich entschuldige mich persönlich, als polnischer Staatsbürger und Präsident Polens«, sagte Kwasniewski mit ernster Stimme.
Nie wieder dürfe sich wiederholen, was in Jedwabne geschah, als Einwohner Jedwabnes ihre jüdischen Nachbarn am 10. Juli 1941 brutal ermordeten. Die meisten der Opfer wurden bei lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt. Der aus Jedwabne stammende New Yorker Rabbiner Jack Baker umarmte den polnischen Präsidenten nach dessen Rede spontan.
Es gehe nicht um eine Kollektivschuld oder darum, die Generation der Kinder für die Sünden der Väter verantwortlich zu machen, sagte Kwasniewski. Doch es gelte, die schmerzliche Wahrheit auszusprechen. »Die Opfer waren schutz- und hilflos. Die Verbrecher fühlten sich straffrei, weil die deutschen Besatzer solche Taten wollten«, erinnerte das polnische Staatsoberhaupt an das Verbrechen von 60 Jahren, das durch nichts zu rechtfertigen sei.
»Wir können keinen Zweifel haben – hier in Jedwabne sind polnische Bürger durch die Hände anderer Bürger gestorben«, betonte Kwasniewski. Die Täter hätten sich nicht nur vor ihren jüdischen Nachbarn schuldig gemacht, sondern auch vor den Traditionen Polens. Jahrhundertelang war Polen der Zufluchtsort von Juden aus ganz Europa gewesen.
Der israelische Botschafter Schewach Weiss forderte vor allem die jungen Einwohner Jedwabnes auf, gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhaß zu kämpfen. »Du sollst nicht töten«, zitierte er auf polnisch, hebräisch und jiddisch. »Ich hatte das Glück, auch andere Nachbarn zu treffen«, betonte der in Ostpolen geborene Diplomat. Er sei nur in der Lage, zu den Versammelten zu sprechen, weil polnische Nachbarn ihn und seine Familie in einer Scheune versteckt hatten. »Ich bin überzeugt, daß nach Abschluß der Ermittlungen auf dem Denkmal (für die Opfer des Pogroms) eine Aufschrift mit der historischen Wahrheit stehen wird, unabhängig wie schrecklich sie ist, und auf diese Weise erfahren die Opfer des Mordes die endgültige Gerechtigkeit«, sagte Weiss mit Blick auf die laufenden Ermittlungen, die Ende des Jahres abgeschlossen sein sollen.
An der Feier nahmen auch Familienangehörige der in Jedwabne ermordeten Juden und der wenigen Überlebenden teil, die aus Israel, den USA und Südamerika nach Polen gereist waren. Die polnische Regierung wurde durch Außenminister Wladyslaw Bartoszewski vertreten, der während des Zweiten Weltkriegs im polnischen Untergrund einer der führenden Vertreter der Hilfsaktion für verfolgte Juden war. Nach der Gedenkfeier zogen die Teilnehmer in einem Schweigemarsch zu dem Ort der niedergebrannten Scheune, wo seit dem Wochenende ein neugestaltetes Denkmal an die Ermordeten erinnert. Dort beteten Rabbiner und Angehörige mit Psalmen und dem jüdischen Totengebet Kaddisch für die Toten.
In Jedwabne selbst blieben viele Einwohner der Feier fern, da sie sich pauschal verurteilt sahen. »Das ist keine Feier für uns« sagte ein Frau am Dienstagmorgen. Noch am Montag hingen in einigen Geschäften Flugblätter des »Komitee zum Schutz des guten Namen Polens«, in dem es hieß: »Wir entschuldigen uns nicht. Es waren die Deutschen, die die Juden von Jedwabne ermordet haben.«
Der Vorsitzende des Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, Ephraim Zuroff, begrüßte die polnische Entschuldigung. Er forderte gleichzeitig, die Verantwortlichen für das Massaker vor Gericht zu bringen.
© DPA

 
AP-MELDUNG VOM 2001-07-10
Kwasniewski entschuldigt sich für Massaker von Jedwabne
Gedenkfeier am 60. Jahrestag der Ermordung von 1.600 Juden – Polen verübten »besonders grausames Verbrechen«
Jedwabne (AP)
Sechs Jahrzehnte nach dem von polnischen Dorfbewohnern verübten Mord an etwa 1.600 Juden hat sich Präsident Aleksander Kwasniewski für das Massaker von Jedwabne entschuldigt. »Dies war ein besonders grausames Verbrechen. Es war durch nichts gerechtfertigt«, sagte Kwasniewski am Dienstag auf einer im Fernsehen übertragenen Gedenkfeier. »Wir sollten die Seelen der Toten und deren Familien um Vergebung bitten.« Unter den 3.000 Gästen der Gedenkfeier waren auch Überlebende des Massakers und Angehörige der Opfer.
»Als Bürger und als Präsident der Republik Polen entschuldige ich mich heute«, sagte Kwasniewski weiter. Am 10. Juli 1941 hatten die Einwohner von Jedwabne ihre jüdischen Mitbürger bei lebendigem Leib verbrannt. Sie trieben sie in eine Scheune und zündeten diese an. Lange Zeit wurden die Nationalsozialisten für das Pogrom verantwortlich gemacht. Erst ein im vergangenen Jahr veröffentlichtes Buch brachte die Wahrheit ans Licht. Der emigrierte polnische Historiker Jan Gross, der an der New Yorker Universität unterrichtet, stützte sich in seiner Untersuchung auf Zeugenaussagen und Gerichtsakten.
Während der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des Massakers wurde auch ein neues Mahnmal eingeweiht. Es trägt die Inschrift: »In Gedenken an die Juden aus Jedwabne und den umliegenden Regionen, Männer, Frauen und Kinder, Mitbewohner dieses Landes, die an dieser Stelle am 10. Juli 1941 ermordet und lebendig verbrannt wurden«. Das zwei Meter hohe Steinmonument ersetzt ein Mahnmal aus kommunistischer Zeit, das »Nazi- und Gestapo-Soldaten« für das Verbrechen verantwortlich machte. Viele Juden kritisieren allerdings, daß die Inschrift des neuen Monuments nicht explizit polnische Bürger als Schuldige nennt.
© AP

 

“NEUE ZÜRCHER ZEITUNG“ 2001-07-11
Entschuldigung Kwasniewskis in Jedwabne
Schmerzhafte Debatte zur Vergangenheit in Polen

Der polnische Präsident Kwasniewski hat am Dienstag bei einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Pogroms von Jedwabne um Entschuldigung gebeten für das schwere Unrecht, das im Sommer 1941 von Polen an Juden begangen worden war.
ruh. Prag, 10. Juli 2001
Der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski und der Botschafter Israels in Polen, Szewach Weiss, haben am Dienstag als wichtigste Redner an einer Veranstaltung zum Gedenken an das Pogrom von Jedwabne vor 60 Jahren teilgenommen. Am 10. Juli 1941 war es in diesem nordostpolnischen Dorf zu beispiellosen Gewalttaten gegen die zahlreiche jüdische Bevölkerung gekommen. Polnische Bewohner des Dorfes hatten die Juden zunächst auf dem Marktplatz zusammengetrieben, wo ein Teil von ihnen offenbar dazu gezwungen wurde, ein während der Besatzung durch sowjetische Truppen aufgestelltes Lenin-Denkmal zu demontieren. Darauf wurden die Juden, und zwar nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder, in eine Scheune außerhalb des Dorfs getrieben, wo sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Über die genaue Anzahl der Opfer herrscht Unklarheit; die Vermutungen schwanken zwischen 200 und 1600.

Kontroverse um Versöhnungsgeste
Bis vor etwas mehr als einem Jahr hatte das Pogrom von Jedwabne als Untat der deutschen Besatzer gegolten, die nach dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion Ende Juni in Nordostpolen eingerückt waren. In seinem aufsehenerregenden Buch »Sasiedzi« (»Nachbarn«) postulierte der in New York tätige polnischstämmige Historiker Jan Tomasz Gross nach der Analyse von Augenzeugenberichten vergangenes Jahr allerdings, es seien die polnischen Bewohner von Jedwabne gewesen, die die Greuel an den Juden begangen hätten. Die Lektüre dieses Buchs veranlaßte Präsident Kwasniewski im Frühling dieses Jahres zum Entschluß, sich zum 60. Jahrestag des Pogroms nach Jedwabne zu begeben und für das schwere Unrecht um Entschuldigung zu bitten, das damals den Juden von der polnischen Bevölkerung zugefügt worden war.
Kwasniewskis Vorhaben wurde in der polnischen Gesellschaft kontrovers aufgenommen. In rechtsnationalen Kreisen herrscht bis heute die Interpretation vor, die Verantwortung für das Pogrom sei nur bei den Deutschen zu suchen. Außerdem wird geltend gemacht, daß die Haßgefühle gegenüber den Juden nicht auf Antisemitismus zurückzuführen gewesen seien, sondern auf den Umstand, daß zahlreiche Juden mit den sowjetischen Besatzern kollaboriert hätten.
Die katholische Kirche, eine einflußreiche Kraft in Polen, nahm zum Massaker von Jedwabne eine ambivalente Position ein. Sie räumte zwar ein, daß Polen unbestreitbar dabei eine Rolle gespielt hätten und daß eine Versöhnungsgeste am Platz sei. Ein Eingeständnis der Schuld erwarte man aber auch seitens derjenigen Juden, die damals mit den Bolschewiken kollaboriert hätten. Ein Vertreter der katholischen Kirche war am Dienstag in Jedwabne nicht zugegen; der militante örtliche Priester Orlowski blieb der Gedenkveranstaltung demonstrativ fern. Primas Glemp hatte eine Teilnahme schon früh ausgeschlossen und es vorgezogen, Ende Mai in Warschau einen Versöhnungsgottesdienst abzuhalten. Hatten Kommentatoren bei diesem Gottesdienst einen positiven Grundton ausgemacht, der die Basis für einen echten Versöhnungsprozeß legen könne, so hinterläßt der von der Kirche gesteuerte Kurs dennoch einen schalen Nachgeschmack.
Dem schwierigen Verhältnis der polnischen Gesellschaft zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Vergangenheit trug Präsident Kwasniewski bei seiner Ansprache vom Dienstag Rechnung. Er bitte als Mensch, Bürger und Präsident Polens um Entschuldigung, sagte Kwasniewski, und zwar in seinem eigenen Namen sowie im Namen all derer, die glaubten, man dürfe nur dann stolz sein auf die großen Momente der eigenen Geschichte, wenn man auch in der Lage sei, Schmerz und Scham für das Böse zu empfinden, das anderen vom eigenen Volk zugefügt worden sei. Verantwortlich für die Tragödie von Jedwabne seien sowohl deren Vollstrecker wie auch diejenigen, die den Anstoß dazu gegeben hätten. Als besetztes Land habe Polen nicht vermocht, sich dem nazistischen Druck ausreichend entgegenzusetzen. Es gehe jetzt nicht darum, eine Kollektivschuld zuzuweisen oder die Generation der Kinder für die Sünden ihrer Väter verantwortlich zu machen. Erinnerung sei aber nur möglich, wenn eine schmerzhafte Wahrheit ausgesprochen werde.
Der israelische Botschafter Szewach Weiss, der selber in Ostpolen geboren wurde, wählte seinerseits einen versöhnlichen Ton, als er darauf hinwies, er könne nur deshalb jetzt zu den Anwesenden sprechen, weil er im Krieg das Glück gehabt habe, »andere Nachbarn« zu treffen. Vor 60 Jahren seien er und seine Familie nämlich von Polen vor den Nazis versteckt worden

Verdrängte Schuldfrage
Die Schuldfrage für den Mord von Jedwabne schlägt in der polnischen Gesellschaft deshalb so hohe Wellen, weil damit erstmals das Geschichtsverständnis der Polen, im Zweiten Weltkrieg nur zu den Opfern gehört zu haben, ernsthaft in Zweifel gezogen wird. Eine von einer polnischen Staatsbehörde eingeleitete und noch in Arbeit befindliche Untersuchung des Pogroms, die tiefere Opferzahlen vermutet als die vom Historiker Gross angegebenen 1600 Personen und die auf Grund eingehenden Aktenstudiums auch die Anwesenheit bewaffneter Deutscher in Jedwabne nicht ausschließt, ließ allenthalben die Hoffnung aufkeimen, ganz so schwarz sei der dunkle Fleck in der eigenen Vergangenheit vielleicht doch nicht. Vor dem Hintergrund, daß die Beteiligung von Polen nicht nur am Pogrom von Jedwabne, sondern auch an anderen Gewaltakten in der Umgebung im gleichen Kontext unzweifelhaft ist, können Diskussionen über die Relativierung der Schuld allerdings zu keinem Ziel führen. Dies hat Kwasniewski erkannt und einen wichtigen Schritt getan in einem Land, wo laut einer Umfrage jeder Zweite der Ansicht ist, eine Entschuldigung seitens der Polen gegenüber den in Jedwabne ermordeten Juden sei nicht nötig.

 

„STUTTGARTER ZEITUNG“ 2001-07-11
Der polnische Präsident findet zur Entschuldigung in Jedwabne unzweideutige Worte
„Wir flehen die Seelen um Vergebung an“
IM WORTLAUT
Polens Präsident Aleksander Kwasniewski hat am Dienstag um Vergebung für das Juden-Pogrom in Jedwabne gebeten. Wissenschaftliche Untersuchungen machen polnischen Nachbarn für die Morde verantwortlich. Im Folgenden werden Redeauszüge dokumentiert.
„Wir müssen die Seelen der Toten und ihre Familien anflehen, uns dieses Verbrechen zu vergeben. Als Mann, Bürger und Präsident der Republik Polen bitte ich heute in meinem Namen und dem der Polen, die von dem Verbrechen tief berührt sind, um Vergebung.
Die Täter und Anstifter dieses Verbrechens tragen dafür allein die Verantwortung. (...) Eine Kollektivschuld kommt nicht in Frage. (...) Polnische Bürger wurden von anderen polnischen Bürgern getötet.
Wir drücken hier unser Bedauern, unsere Scham und unsere Reue aus, nicht nur weil uns die Welt zuhört, sondern weil wir es selbst benötigen, um über die Wahrheit Zeugnis abzulegen.
Wir wissen mit Sicherheit, daß unter den Henkern Polen waren. (...) Diejenigen, die töteten, sind in den Augen Polens, seiner Geschichte und seiner Tradition, schuldig. (...) Ein Volk ist immer auch eine Gemeinschaft, und wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen.
Wir müssen aber auch der Menschen gedenken, die Juden in Jedwabne retteten. (...) Dank dieser Debatte hat sich in den Einstellungen der Menschen vieles geändert. Diejenigen, die über die Vergangenheit schweigen wollen, tun uns allen einen schlechten Dienst.“ AFP

 

„STUTTGARTER ZEITUNG“ 2001-07-11
Kwasniewskis Entschuldigung
Eine mutige Rede
Der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski hat eine große, eine mutige Rede gehalten. Ohne Umschweife hat er sich in klaren, unmißverständlichen Worten „persönlich, als polnischer Staatsbürger und als Präsident Polens“ für das Pogrom von Jedwabne entschuldigt. Dort haben vor 60 Jahren die Einwohner der kleinen Stadt rund 1600 jüdische Mitbewohner bei lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt. Bis heute fällt es vielen Polen schwer, daran zu glauben, daß polnische Bürger solche Verbrechen begangen haben, Verbrechen, die man in aller Welt zu Recht mit nationalsozialistischen Schergen verbindet. Aber es gab auch unter den Völkern, die Opfer der Faschisten wurden, Täter, die mit den Deutschen gemeinsame Sache machten.
Die Verbrechen anderer machen die deutschen Verbrechen um nichts kleiner, sie entschuldigen sie nicht, sie entlasten die Deutschen nicht. Aber es ist die Aufgabe jedes Volkes, sich der Wahrheit der eigenen Geschichte zu stellen, so bitter dies auch sein mag. Wie schwer ist es Frankreich gefallen, sich seiner Vergangenheit, der Kollaboration mit Hitlerdeutschland, zu stellen. Quälend langsam hat sich die Wahrheit Bahn gebrochen, die Wahrheit, daß keineswegs alle Franzosen im Widerstand, in der Résistance, waren, sondern daß viele mit Nazis zusammengearbeitet haben. Kwasniewski hatte Recht, als er feststellte, daß die Opfer schutz- und hilflos waren. Und daß die Verbrecher sich sicher fühlten und straffrei blieben, weil die deutschen Besatzer solche Taten wollten. Die Wahrheit ist manchmal schrecklich. Trotzdem muß sie ausgesprochen werden. Denn Verdrängung lähmt, Kwasniewskis Rede war befreiend.
Von Adrian Zielcke

 

„DIE SÜDOSTSCHWEIZ“ 2001-07-11
Kein Wort über die Täter
Polens Präsident Kwasniewski hat sich für das Pogrom von Jedwabne entschuldigt
Der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski hat sich gestern in der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne öffentlich für das vor 60 Jahren verübte Pogrom an den 1600 jüdischen Einwohnern des Ortes entschuldigt.

VON PAUL FLÜCKIGER, WARSCHAU
»Als Mensch, Bürger und Präsident entschuldige ich mich im Namen derjenigen, die mit den Opfern dieses Verbrechens mitfühlen. Jedwabne soll ein Ort der Versöhnung werden«, sagt Polens Präsident Alexander Kwasniewski in strömendem Regen. Über tausend Menschen haben sich auf dem Marktplatz von Jedwabne versammelt, darunter 300 Presseleute aus aller Welt. Sie soll hören, daß sich Polen von seinem Opfermythos verabschiedet; daß sich das Land dazu bekennt, im Zweiten Weltkrieg nicht nur Juden gerettet, sondern auch welche auf bestialische Weise umgebracht zu haben.

Veranstaltung boykottiert
Nur wenige Einwohner des ostpolnischen 2000-Seelen-Städtchens sind unter den Zuschauern auszumachen. Auch ein offizieller Vertreter des polnischen Episkopats fehlt, und der konservative Premierminister Jerzy Busek will erst am Abend in Warschau zur Trauergemeinde stoßen. Dafür sind etwa 20 Vertreter der so genannten Jedwabne-Familien anwesend. Sie alle haben am 10. Juli 1941 Angehörige beim Pogrom verloren. Auch zahlreiche jüdische Würdenträger stehen auf dem regennassen, frisch asphaltierten Marktplatz.
Viele Jedwabner seien froh, wenn der Spuk endlich wieder zu Ende sei, hatten sie vor ein paar Tagen erklärt. Das seien andere Zeiten gewesen damals, diese Akte soll jetzt endlich geschlossen werden. Sich mit solchen Einstellungen nicht abfinden, mochte sich noch vor ein paar Monaten Jedwabnes Bürgermeister Krzysztof Godlewski. »Ich bin schockiert«, hatte er noch im Januar gegenüber dem polnischen Wochenmagazin »Wprost« bekannt. Doch der couragierte Volksvertreter wurde von seinen Wählern schnell zurückgepfiffen. Gestern nun oblag ihm, die Gäste – darunter Überlebende des Pogroms – zur Gedenkfeier in seinem Ort zu begrüßen. Godlewski hält sich an seinem Manuskript fest, hebt kaum die Augen.
Er spricht von »traurigen Ereignissen«, die sich damals unter der Sowjet- und Nazi-Besatzung zugetragen hätten. Wer die Juden seiner Stadt ermordet hat, sagt er nicht. Darüber verliert auch die neue Inschrift des gestern eingeweihten Gedenksteins kein Wort. In zähen Verhandlungen hat man sich auf eine Formulierung geeinigt, die der 1941 hier ermordeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder gedenkt. Am Montag hatte sich der Europäische Jüdische Kongreß zum Boykott der Gedenkveranstaltung von Jedwabne entschlossen. Ähnliche Signale kamen aus Israel. Die israelische Öffentlichkeit empfindet es als skandalös, daß sich Polen nach wie vor weigert, die Täter klar und deutlich festzuhalten.

50 000 Juden gerettet
Klare Worte von polnischer Seite bekam man gestern in Jedwabne einzig von Alexander Kwasniewski. Man kenne zwar noch nicht die ganze Wahrheit über die ostpolnischen Pogrome, werde sie vielleicht nie erfahren, doch das halte ihn nicht davon ab, sich dafür zu entschuldigen, daß unter den Tätern auch Polen gewesen seien. Wer sich an diesem Verbrechen beteiligt habe, habe sich auch gegenüber der polnischen Geschichte und Tradition schuldig gemacht. Diese sei multi-kulturell und tolerant gegenüber anderen Religionen. »Laßt uns unseren Schmerz und unsere Scham bekennen«, fordert der Staatspräsident.
Mit zitternden Händen gedenkt danach der israelische Botschafter Shewah Weiss derer, die in Polen Juden versteckt haben. Rund 50 000 Juden wurden von Polen gerettet, auch Weiss war einer davon. Rund tausend Teilnehmer zogen danach in einem Schweigemarsch zur Gedenkstätte an der Stelle, an der die Juden in einer Scheune lebendigen Leibes verbrannt worden waren. Sie gingen denselben Weg wie die Jedwabner Juden vor 60 Jahren.
Der Rabbiner von Warschau und Lodz, Michael Schuddrich, hielt das Totengebet. Zuvor hatte der aus Jedwabne stammende Rabbiner Jacob Baker im Namen der Opferfamilien von einem »der schönsten Tage in Polens Geschichte« gesprochen.

 

„DIE WELT“ 2001-07-11
„Wir ehren die Opfer und sagen nie wieder“ 
Polens Präsident Aleksander Kwasniewski gedenkt den Opfern des Judenpogroms von Jedwabne

Von Gerhard Gnauck
Jedwabne – Auf dem Marktplatz der Kleinstadt Jedwabne hat die größte Geschichtsdebatte in Polen seit 1989 mit einem Staatsakt ihren Höhepunkt erreicht. Vor mehreren hundert Gästen gedachte Polens Präsident Aleksander Kwasniewski der Opfer des Judenpogroms von Jedwabne vom 10. 7. 1941 und anderer Pogrome in dieser Gegend. „Als Mensch, als Bürger und als Präsident der Republik Polen bitte ich um Entschuldigung. Ich bitte um Entschuldigung in meinem Namen und im Namen derjenigen Polen, deren Gewissen dieses Verbrechen bewegt.“
Vor 60 Jahren hatten Polen auf diesem Marktplatz im Nordosten des Landes hunderte ihrer jüdischen Nachbarn zusammengetrieben, mißhandelt und schließlich zu einer Scheune getrieben, in der sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.
Kwasniewski erinnerte in seiner Ansprache mehrfach an die „Billigung und Anregung“, mit der die deutschen Besatzer den Pogrom mit vorbereitet hätten. Zugleich sagte er, Bürger der Republik Polen hätten anderen Bürgern derselben Republik den Tod bereitet. „Wir sind hier mit dem Ziel einer kollektiven Gewissenserforschung. Wir ehren die Opfer und sagen: nie wieder!
Der Präsident betonte, er sage diese Worte nicht, weil irgendjemand, etwa das Ausland, sie erwarte, sondern „weil wir selbst sie am dringendsten brauchen“. Polen habe heute den Mut, auch über düstere Kapitel seiner Geschichte zu sprechen.
An die Einwohner der Stadt gewandt, die die Feier mit kritischen Blicken beobachteten, sagte er, Jedwabne müsse zu einem Ort der Versöhnung werden. „Man darf nicht von kollektiver Verantwortung reden, die die Einwohner eines Ortes oder ein ganzes Volk mit Schuld belastet . . . Kain hätte Abel an jedem Ort töten können.“
Der Botschafter Israels in Polen, der frühere Knesset-Präsident Schewach Weiss, forderte zum Kampf gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt auf. Weiss erinnerte daran, daß Polen, „andere Nachbarn“ als die in Jedwabne, ihn und seine Familie vor dem Holocaust gerettet haben.
Der Botschafter nahm in seiner Rede als einziger zu der Inschrift auf dem anschließend enthüllten Mahnmal Stellung. Darin wird nicht gesagt, wer die Täter waren. Er hoffe, daß es nach Abschluß der Ermittlungen eine Inschrift geben werde, „die die historische Wahrheit enthält, wie schmerzhaft sie auch immer sein mag“. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die erst im Herbst enden sollen, hatte das „Institut des Nationalen Gedenkens“ eingeleitet, eine der deutschen Gauck-Behörde vergleichbares Amt. Dessen Vorsitzender Leon Kieres war ebenso anwesend wie der um die polnisch-jüdische Verständigung verdiente polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski.
Nach dem Ende der Ansprachen zogen die Teilnehmer schweigend den Weg entlang, auf dem die Juden 1941 zur Scheune getrieben worden waren. Einige der Gäste, unter ihnen Juden aus der Gegend, die Polen vor dem Holocaust gerettet hatten, trugen weiße Nelken. Am Ort, wo die Scheune gestanden hatte, sprachen Rabbiner das jüdische Totengebet. Das Mahnmal hat die Form eines jüdischen Grabsteins, in den vorne eine Tafel aus verkohltem Holz eingelassen ist.
Zu Protesten von Einwohnern kam es nicht. In den vergangenen Tagen waren in der Gegend anonyme Flugblätter aufgetaucht, die zu Demonstrationen aufriefen. Die polnische Polizei hatte gedroht, jegliche Anstiftung zum Rassenhaß unnachgiebig zu verfolgen. Dennoch bleibt der Umgang mit dem Verbrechen weiterhin umstritten.
Erst am Montag hatte ein Autor in der regierungsnahen Zeitung „Zycie“ gegen die bevorstehenden „Bußrituale“, einen Bestandteil der „Holocaust-Industrie“, protestiert. Der Pogrom sei „nicht eine Idee der Polen gewesen, sondern Element der planmäßigen Politik der Nazis auf den nach dem 22. Juni 1941 besetzten Gebieten. Die Deutschen waren (...) der wichtigste ursächliche Faktor der Tragödie der jüdischen Einwohner von Jedwabne.“
Unser Buchtipp dazu: „Antisemitismus, gestern und heute“ von Pülz, Klaus M.

Gute Nachrichten aus Polen
Das neue Polen eine neue Formel gefunden, über die Opfer des Judenpogroms von Jedwabne zu sprechen
Kommentar von Gerhard Gnauck –
Am Dienstag hat Polen der Opfer des Judenpogroms von Jedwabne gedacht. Präsident Aleksander Kwasniewski bat in aller Demut um Entschuldigung für das Verbrechen, bei dem 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen im Osten Polens, Bewohner der Kleinstadt Hunderte ihrer jüdischen Nachbarn ermordet hatten. Schon Kwasniewskis Vorgänger Walesa hatte um Entschuldigung für den polnischen Antisemitismus gebeten. Doch erst das Buch „Nachbarn“ des Historikers Jan Tomasz Gross hat vor einem Jahr eine große Debatte entfacht. Die Diskussion über Jedwabne hat die Nation erschüttert. Es war die größte Geschichtsdebatte der 1989 begründeten Dritten Republik. Was die Dreyfus-Affäre für Frankreich war, schrieb eine polnische Zeitung zu Recht, war die Jedwabne-Debatte für Polen.
Es kennzeichnet große Debatten, daß in ihnen unsachliche, auch verletzende Töne zu hören sind, daß Traditionsbestände an die Oberfläche gespült werden, von denen viele gewünscht hätten, daß sie im Halbdunkel des Unveröffentlichten geblieben wären. Die am häufigsten gestellte Frage war wohl die, ob eine Entschuldigung den Polen, auch den heute lebenden, nicht eine Kollektivschuld aufbürde und das Land in eine Reihe stelle mit Deutschland, wo der Holocaust seinen Ausgang nahm. Zugleich wurde nach den Wurzeln des polnischen Antisemitismus gefragt, ferner nach der jüdischen Kollaboration mit der Sowjetmacht, welche manche zur Erklärung oder gar Rechtfertigung des Verhaltens der Täter heranziehen.
Zweierlei ist schon jetzt als Ergebnis festzuhalten: Kein ernst zu nehmender Historiker kann eine Beteiligung polnischer Täter an diesem und ähnlichen Pogromen noch leugnen. Zugleich hat das neue Polen eine neue Formel gefunden, über die Opfer zu sprechen. Der oberste Aktenverwalter Leon Kieres, der immer mehr in die Rolle eines polnischen Joachim Gauck hineinwächst, hat sie in der Debatte vorgegeben, und Präsident Kwasniewski hat sie gestern wiederholt: In Jedwabne haben Bürger der Republik andere Bürger derselben Republik ermordet. Das knüpft an das Nationsverständnis der alten Adelsrepublik an, in der jeder, gleich welches Glaubens oder welcher „Rasse“, gleichermaßen Pole sein konnte. In diesem Sinne hat sich Polen gestern eine neue Selbstdefinition gegeben, eine neue und doch alte Identität.
Den Autor erreichen Sie unter: forum@welt.de

 

„BIELER TAGBLATT“ (SCHWEIZ) 2001-07-11
Staatschef entschuldigt sich
Der polnische Staatschef Kwasniewski gedachte gestern der Opfer des Judenverfolgung in Jedwabne.

Eva Krafczyk, Jedwabne
Ernst blickte der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski über die Menschenmenge, die sich bei Nieselregen und grau verhangenem Himmel auf dem Marktplatz der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne versammelt hatte. »Als Staatsbürger und Präsident Polens entschuldige ich mich – in meinem Namen und im Namen jener Polen, deren Gewissen durch jenes Verbrechen berührt ist«, sagte er. Kwasniewski fand die Worte, auf die viele Polen seit mehr als einem Jahr gewartet hatten und die nach ihrer Meinung seit Jahrzehnten überfällig sind.

Ein Schock
Er entschuldigte sich für das Pogrom an den jüdischen Einwohnern von Jedwabne, die auf ebendiesem Marktplatz vor 60 Jahren zusammengetrieben, mißhandelt und in einer nahe gelegenen Scheune bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Seit 14 Monaten ist das in Polen einer breiten Öffentlichkeit bekannt, seit der Veröffentlichung des Buchs »Nachbarn« des Historikers Jan Tomasz Gross.
Jahrzehntelang war der Tod der Juden von Jedwabne den Deutschen angelastet worden, Teil des Holocaust an den drei Millionen von den Nazis ermordeten polnischen Juden. Daß es sich in Jedwabne anders verhalten hatte, schockierte die polnische Öffentlichkeit. Gestern Dienstag, dem 60. Jahrestag des Verbrechens, rief Kwasniewski seine Mitbürger zur Reinigung des Gewissens auf und fand bei einem seiner nach eigenen Angaben schwersten öffentlichen Auftritte die richtigen Worte.

Jede Wahrheit
»Wir müssen der Wahrheit in die Augen sehen – jeder Wahrheit«, forderte Kwasniewski seine Landsleute auf. »Unsere Gewissen werden rein sein, wenn wir die Erinnerung an jene Tage in unseren Herzen mit Entsetzen und moralischer Entrüstung bewahren.« Nie wieder dürfe sich ein Verbrechen wie das von Jedwabne wiederholen. Denn es gebe keinen Zweifel: »Menschen haben Menschen, Nachbarn ihren Nachbarn dieses Schicksal bereitet.« Deshalb müsse Polen seine Solidarität mit den Opfern zeigen, Bedauern und Scham ausdrücken, »Wegen dieses Verbrechens müssen wir die Schatten der Verstorbenen und ihre Familien um Vergebung bitten«, betonte Kwasniewski und hoffte zugleich, Jedwabne könne ein Ort der Versöhnung sein.
Der New Yorker Rabbiner James Baker, der in Jedwabne geboren wurde, umarmte den polnischen Präsidenten spontan nach dessen Rede.

 

„BREMER NACHRICHTEN“ 2001-07-11
Kwasniewski: Ich entschuldige mich

Präsident warb um Mitleid für die Opfer von Jedwabne sowie Verständnis für die Nachkommen der Täter
Von unserer Korrespondentin Gabriele Lesser
Jedwabne. „Als Mensch, als Staatsbürger und als Präsident der Republik Polen entschuldige ich mich für das Verbrechen von Jedwabne“, erklärte Aleksander Kwasniewski gestern vor 3000 Menschen, die aus ganz Polen auf den Marktplatz von Jedwabne gekommen waren.
„Ich entschuldige mich in meinem Namen und in dem jener Polen, deren Gewissen durch das Verbrechen berührt wurde. Im Namen jener, die meinen, daß man nicht zugleich stolz sein kann auf die Größe der polnischen Geschichte, ohne auch den Schmerz und die Scham zu empfinden, die sich aus dem Bösen ergeben, das Polen anderen angetan hat.'
Das Pogrom vom 10. Juli 1941, das erst in den letzten Monaten durch das Buch des polnisch-amerikanischen Soziologen in der polnischen Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte eine Debatte ausgelöst, die Polens bisheriges Geschichtsbild zum Einsturz brachte. Den Mord an den Juden von Jedwabne und in vielen anderen Städten in Ostpolen hatten nicht die Deutschen begangen, wie es auf allen Denkmälern hieß, sondern – auf Befehl der Deutschen oder aber auch ohne – die katholischen Nachbarn.
Der Schock über die Enthüllungen, daß Polen im Zweiten Weltkrieg nicht nur Opfer waren, sondern auch Täter, führte sowohl zu einer intensiven Gewissenserforschung als auch zu heftigen Abwehrreaktionen. In Jedwabne selbst klebten überall an den Hauswänden Plakate mit der Aufschrift: „Wir entschuldigen uns nicht! Die Täter waren die Deutschen.“
Am Abend vor der Gedenk- und Trauerfeier spielten Jugendliche demonstrativ laut Tanzmusik. Auch im Lande selbst war die Stimmung nach der halbherzigen Entschuldigung der Bischöfe Polens bei Gott und der Ankündigung Primas Glemps, auf keinen Fall an der Trauerfeier am 60. Jahrestags in Jedwabne teilnehmen zu wollen, gekippt.
Präsident Kwasniewski machte in seiner Rede das Unmögliche möglich und fand Worte, die sowohl den Schmerz der Opfer und ihrer Familien als auch Verständnis für die Nachkommen der Täter ausdrückten. Er sprach insbesondere die Einwohner Jedwabnes an, die seit vielen Monaten im Scheinwerferlicht der Medien stehen und, ob sie wollen oder nicht, das Etikett der National-Verstockten tragen müssen.
Bei den Jedwabner bat er um Mitleid mit den Opfern, die vor 60 Jahren hier umgebracht wurden: „Die Opfer waren hilf- und schutzlos. Vielleicht werden wir niemals die ganze Wahrheit erfahren. Aber es gibt keinen Zweifel – hier in Jedwabne starben Staatsbürger der Republik Polen durch die Hände anderer Staatsbürger Polens. Menschen haben Menschen, Nachbarn Nachbarn dieses Schicksal bereitet.“
Dann versuchte er die Jedwabner, die seit Monaten großem moralischen Druck ausgesetzt sind, wieder zurück in die Gesellschaft Polens zu holen, um damit auch die Diskussion wieder in die richtige Richtung zu lenken. „Wir sind hier, um gemeinsam unser Gewissen zu erforschen. Wir erweisen den Opfern unsere Ehre und sagen Niemals wieder! Seien wir heute alle Einwohner Jedwabnes! Fühlen wir mit ihnen. Verweilen wir gemeinsam mit ihnen im Gefühl der Trauer, der Scham und der Solidarität.“
Am Ende schließlich verwies er noch eigens auf diejenigen Einwohner Jedwabnes, die vor 60 Jahren Juden gerettet hatten und von denen heute kein einziger mehr in dem Dorf lebt – aus Angst vor den Nachbarn: „Gerecht ist derjenige, der Mitleid im Angesicht des Leidens zeigen konnte. Zahlreiche Polen, ebenso Einwohner Jedwabnes und umliegender Orte, verdienen den Namen eines Gerechten.
Denken wir heute auch an sie mit größter Dankbarkeit und höchster Achtung.“ Der Rabbiner Jakub Baker, der bereits vor dem Pogrom aus Jedwabne mit seinen Eltern emigriert war, umarmte Kwasniewski spontan. Und auch Shewach Weiss, dem Botschafter Israels in Polen, war die Rührung anzusehen. „Ich danke für die warmen Worte, Herr Präsident“, sagte er und fügte hinzu, daß er selbst nur deshalb heute in Jedwabne sein und eine Rede halten könne, weil es auch andere „Nachbarn“ in Polen gegeben habe. „Ich habe überlebt, weil mich unsere Nachbarn gerettet haben.“