Achtung und Selbstachtung

In Polen diskutiert man über den Judenmord von Jedwabne
Von Michael Ludwig

WARSCHAU, 2001-04-13

Vielen in Polen ist es noch nicht bewußt, viele wehren sich dagegen, manche mit vermeintlicher geschichtswissenschaftlicher Raffinesse. Aber zu verhindern ist es nicht mehr: Das fast schon mythisch überhöhte Selbstbild der Polen von der gepeinigten Nation, die niemals Täter war, hat einen Riß bekommen, und diese Beschädigung ist für jeden im Lande, der zu lesen, zu hören und zu sehen vermag, nicht mehr zu leugnen. Nach dem Buch des polnisch-jüdischen Historikers Gross über den Judenmord von Jedwabne ("Nachbarn") kann nichts mehr sein wie früher, selbst wenn es der Forschung noch gelingen sollte, das Bild der Ereignisse vor 60 Jahren im Osten Polens in Details zu korrigieren.

Einige haben das auch längst verstanden: Der Primas der katholischen Kirche Polens, Kardinal Glemp, der Erzbischof von Gnesen, Muszynski, der evangelische Ministerpräsident Buzek oder der agnostische Staatspräsident Kwasniewski gehören dazu. Sie wissen, daß Polen ein ähnlich schmerzhafter Prozeß der kritischen Selbstbefragung bevorsteht, den andere Völker auch durchmachen mußten, die wenigstens einen Teil ihres modernen Selbstverständnisses aus dem angeblich geschlossenen Widerstand gegen Hitlers Drittes Reich oder aus der Hilfe, welche aus ihrer Mitte den von den deutschen Nationalsozialisten zum Untergang verurteilten Juden Europas gewährt wurde, hergeleitet haben. Denn die Ereignisse von damals werfen die Frage nach einer Art "Gesinnungskollaboration" mit den Nationalsozialisten auf, wenigstens in Teilen der damaligen polnischen Gesellschaft, trotz des heroischen und kompromißlosen Kampfes, den Polen insgesamt den deutschen Besatzern geliefert hatte. Die Beantwortung dieser Frage berührt demnach das Selbstverständnis in Polen.

Die geistlichen Oberhirten, der Regierungschef und der Präsident wollen Juden um Verzeihung bitten für das, was Polen polnischen Juden im Zweiten Weltkrieg angetan hatten. Primas Glemp kann sich ein gemeinsames Totengebet mit jüdischen Geistlichen in Jedwabne oder an einem anderen Ort vorstellen, in dem man Gott wegen der an den Juden von Jedwabne begangenen Verbrechen um Vergebung bittet und gemeinsam die Opfer beklagt.

Wenn man das Internet durchgeht oder Radiosendungen hört, in denen sich die Hörerschaft zu Wort meldet, wird allerdings deutlich, daß offenbar viele Landsleute diesen Weg nicht mitgehen wollen oder wenigstens dazu raten, so lange zu warten, bis die Staatsanwälte der Ermittlungsabteilung des "Instituts für das nationale Gedenken" (IPN) die Ermittlungen zum Fall Jedwabne abgeschlossen haben. Wieder andere hoffen noch, daß Archivfunde in Deutschland, Amerika, Weißrußland oder Rußland ein neues, Entlastung gewährendes Licht auf die Ereignisse vom Juli 1941 zu werfen vermögen. Doch gegenwärtig deutet kaum etwas darauf hin, daß die polnischen Mörder von Jedwabne, wahrscheinlich rund zwei Dutzend, von einem auf sie gerichteten deutschen Maschinengewehr zu den Abscheulichkeiten gezwungen wurden, die sie an jüdischen Mitbürgern verübten, oder dazu, die Juden von Jedwabne später, am 10. Juli 1941, in eine Scheune zu treiben und bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Wo waren die Deutschen?
Bisher hat man nur herausgefunden, daß eine deutsche Einsatzgruppe in der Gegend aktiv war. Der Aktenfund, der dies belegt, wurde mit spürbarer Erleichterung aufgenommen. Ob die Einsatzgruppe auch in Jedwabne war, ist aber nicht bewiesen. Überdies wäre sie, wie man im IPN meint, wegen geringer Mannschaftsstärke kaum in der Lage gewesen, eine ganze Ortschaft in Schach zu halten oder die Menschen dazu zu zwingen, wahrscheinlich mehr als 1000 Juden zu verbrennen. Dazu aufzustacheln hätte sie freilich vermocht, und nach diesem Muster hatte Himmler die Sicherheitskräfte ja auch aufgefordert, vorzugehen, weil sie, auch das ist überliefert, auf eine antisemitische Grundstimmung in Polen setzten. Bisher hieß es, daß die Nationalsozialisten mit dieser Methode zwar in anderen besetzten Ländern "erfolgreich" gewesen seien, nicht aber in Polen. Die Ereignisse in Jedwabne und anderen Orten Ostpolens nach dem Rückzug der Russen 1941 sind geeignet, diesen Befund nun mit einem Fragezeichen zu versehen. An der Verantwortung der Nationalsozialisten für den Völkermord an den polnischen und europäischen Juden ändert sich dadurch freilich nichts.

In der Sprache der Gebildeten heißt es, der historische Kontext müsse erforscht werden, um die Ereignisse von Jedwabne zu verstehen. Aber wenn ein polnischer Historiker in der Debatte über Jedwabne auf einmal die Kollaboration von Juden mit den Sowjets ins Spiel bringt, nur um kurz darauf öffentlich aufzustöhnen, weil von den armen Polen erwartet werde, sich bei allen möglichen Völkern zu entschuldigen – Russen, Deutschen und nun auch noch den Juden –, dann setzt er sich wenigstens dem Verdacht aus, es ginge ihm vor allem um das Aufrechnen, im Grunde vielleicht sogar um Rechtfertigung. Und wenn die Forderung nach Berücksichtigung des "Kontextes" im nationalkatholisch-fundamentalistischen "Nasz Dziennik" (Unser Tagblatt) nachzulesen ist oder von Radio Maryja nahestehenden Kreisen erhoben wird, ist vollends Mißtrauen im Hinblick auf die Beweggründe angebracht. Denn dort wird der Begriff Kontext sehr eng gefaßt, meint im wesentlichen jüdische Kollaboration mit den Sowjets. Judenfeindliche Stimmungen werden damit erklärt, während vom Antisemitismus in der Zeit vor dem Krieg geschwiegen wird. Keine Rede auch davon, daß Kirchenobere oder katholische Pfarrer auf dem Lande in den dreißiger Jahren nicht selten nicht nur nichts gegen Judenfeindschaft einzuwenden hatten, sondern diese auch noch förderten. In diesen Kreisen ist man auch am wenigsten bereit, dem polnischen Papst zu folgen, wenn er sagt, Antisemitismus sei eine Sünde, und Fehler der Kirche in der Vergangenheit eingesteht.

Polen fürchten, sie könnten kollektiv einer Mitschuld am Schicksal der Juden geziehen werden, wenn sich polnische Schuld in Jedwabne nicht mehr leugnen lasse. Daß viele Polen im Zweiten Weltkrieg ihr Leben zur Rettung von Juden riskiert hatten, werde dann nichts mehr zählen. Eine Rundfunkhörerin, deren Vater in der polnischen Untergrundarmee (AK) gekämpft hatte, behauptete vor kurzem in einer Sendung, in Polen gebe es ein "Recht auf Antisemitismus", weil der polnische Sicherheitsdienst nach dem Krieg hauptsächlich mit Juden besetzt gewesen sei, die aufrechte Kämpfer gegen den Kommunismus und die sowjetische Versklavung gefoltert und in Gefängnisse gesperrt hätten.

Das Stereotyp vom Kommunismus als jüdischer Verschwörung gegen das polnische Volk ist nach wie vor lebendig, als habe es keine ethnisch-polnischen Kommunisten und keine jüdischen Soldaten gegeben, die 1939 für Polen in den Kampf gezogen waren. Es wird noch immer benutzt, wenn nationalkatholische Rechte Liberale oder Linke als Verderber des Landes diffamieren wollen. Aber auch die Kommunisten haben reichlich Übung darin bewiesen, "die Juden" als Sündenböcke dem Volke vorzuführen, wann immer es ihnen politisch von Vorteil schien. Einige Propagandisten der "antizionistischen" Kampagne von 1968 finden sich als Berater im engsten Kreis von Staatspräsident Kwasniewski. Einer, der dem Präsidenten bis vor kurzem ebenfalls in hoher Funktion gedient hatte, meinte, es wäre gut, wenn die Brandstifter von einst sich am 10. Juli nach Jedwabne bequemten, um dort zu beweisen, daß sie es mit der Reue ernst meinten.

Gute und falsche Ratschläge
Wenn Rabbi Schudrich von der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Warschau sich durchsetzt, der kürzlich forderte, auch die Juden sollten einen Schritt auf die Polen zugehen, indem sie um Verzeihung dafür bitten, daß polnische Juden als kommunistische Schergen Polen Schaden zugefügt und Polen drangsaliert hatten, dann wird es freilich immer schwieriger, die alten Vorurteile politisch zu nutzen und damit gleich eine ganze Volksgruppe zu diffamieren. Ein anderer Rat, der in diesen Wochen viele Polen umtrieb, führte dagegen in die falsche Richtung. Er kam aus Amerika von einem Mann, der sich große Verdienste um Polen erworben hat. Der ehemalige Direktor von "Radio Freies Europa" Nowak-Jezioranski, empfahl der polnischen Führung, sich schnell für die Untaten von Polen in Jedwabne zu entschuldigen. Denn wenn, wie er befürchte, deutsche Filmaufnahmen des Massakers mit Polen als Tätern gefunden würden und wenn das Buch von Gross erst einmal in englischer Sprache auf den Markt komme, dann, so Nowak-Jezioranski, sei es zu spät. In Amerika werde ein Sturm der Entrüstung losbrechen.

Aber genau diese Art von Einsicht in das Notwendige ist es nicht, die den Ausschlag geben sollte, wo es doch um Selbstreinigung und um die christliche Bitte um Vergebung geht, die, das machte Kardinal Glemp umgehend deutlich, aus freiem Willen erfolgen müsse. Auch polnische Befürchtungen, das Eingeständnis, Polen hätten in Jedwabne Schuld auf sich geladen, werde Polen im Ausland schaden, indem es Fremde in dem Vorurteil bestärke, Polen sei ein antisemitisches Land, müssen sich nicht bewahrheiten. Im Gegenteil: Wenn Polen die Debatte mit sich selbst über Jedwabne und um den polnischen Antisemitismus durchsteht, dann wird es in der Achtung des Auslandes steigen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.04.2001, Nr. 88 / Seite 12