Beschönigung und Verschleierung
Der Fall Sebnitz zeigt überdeutlich, wie neurotisch,
hysterisch, ja, wie zutiefst krank unsere Gesellschaft ist. Kein Romanautor hätte sich
eine abenteuerlichere, unwahrscheinlichere Geschichte ausdenken können. Sicherlich, der
Verlust eines Kindes ist für eine Familie etwas sehr Schmerzliches, für eine Mutter
allemal das Furchtbarste, das sie nicht für wahr halten kann und nicht will. Daß in
einer solch schmerzlichen Situation Fehler gemacht werden, ist verständlich und sei
zugestanden.
Daß aber eine ganze Nation, vorab die höchsten Politiker, derart in Panik geraten und
von Mord und furchtbarstem Verbrechen der letzten Jahre in Deutschland" reden,
ohne eine sachliche Prüfung abzuwarten, zeigt doch, daß hier Psycho-Pathologisches im
Spiel ist: geradezu lustvoll und selbstquälerisch ausgelebte auto-aggressive Impulse auf
der einen Seite mischen sich mit vorerst nur phantasierten archaischen
Sündenbock-Ritualen auf der anderen Seite.
Wir kennen solche Sündenbock-Rituale nicht nur aus der Bibel. Im Mittelalter bei
Pest-Epidemien wurden die Juden beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben, später die
Ketzer und Hexen verantwortlich gemacht für den Zusammenbruch des einheitlichen
Weltbildes, im Holocaust der Nazizeit galten erneut die Juden als Sündenböcke (Die
Juden sind unser Unglück").
Jetzt sind es die Neonazis, die an allem schuld sein sollen. (Muß ich salvierend sagen,
daß sie meine Freunde nicht sind? Daß ich auch nicht im entferntesten ein Sympathisant
dieser Sorte Mensch bin? Ich fürchte ja!)
Diese Verhaltensdynamik der Sündenbock-Modelle wirkt auch im einzelnen Menschenleben.
Eine Beschönigungs- und Verschleierungstendenz läßt uns das eigene
Sündenbock-Verhalten nicht wahrnehmen. So bezichtigen wir andere, ihre Verantwortung auf
Sündenböcke abzuwälzen, und machen sie dadurch unsererseits zu Sündenböcken.
Solange jeder, der zur Besonnenheit mahnt, unter üblen Faschismusverdacht gerät, und
solange die deutsche Justiz mehr und mehr von Rechtsgelehrten verwaltet wird, die links
herum denken, so lange sehe ich keine Heilungschancen für das deutsche Volk. Im Grunde
müßten wir alle auf die Couch.
Heribert Schürmann, Homberg. Leserbrief in der HNA 2000-12-13 (Seite 23)
Danke an den Autor für die Abdruckgenehmigung!