Dr. Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages:
Sehr geehrter Herr Präsident Havel!
Sehr verehrte Frau Havlov!
Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Herr Präsident des Bundesrates!
Meine Damen und Herren Mitglieder der Bundesregierung!
Herr Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Grimm!
Meine Damen und Herren Ministerpräsidenten!
Herr Präsident des Sächsischen Landtages!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates!
Verehrte Gäste aus der Tschechischen Republik und Deutschland!
Dieser Tag und diese Stunde im Deutschen Bundestag ist Ihr und
unser Tag, sehr geehrter Herr Präsident. Auf ihn haben wir lange gewartet. Ihr mutiger
Einsatz, Ihre Initiative haben sich gelohnt. Ihr Grundsatz, in der Wahrheit zu
leben, hat sich trotz Kritik und Widerstand bewährt. Mit großer Freude und
Dankbarkeit begrüße ich Sie, Ihre Gattin und Ihre Delegation im Deutschen Bundestag.
(Lebhafter Beifall) Es wurde wahr, was wir vor zehn Jahren noch nicht zu hoffen gewagt
haben und wofür gerade Sie besonders intensiv gearbeitet haben: Heute so sagten
Sie in diesen Tagen wollen Sie über unsere gemeinsame Zukunft sprechen. Auch
dafür, daß dies inzwischen möglich ist, sind wir dankbar. Die Anwesenheit unserer
Kolleginnen und Kollegen, vieler Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft, Kirchen,
Wissenschaft und Kultur, aus den Reihen der Vertriebenen, besonders der Sudetendeutschen,
zeigt, welche Bedeutung Ihrem Besuch und Ihrer Rede im Bundestag beigemessen wird, nachdem
in unseren beiden Parlamenten die Deutsch-Tschechische Erklärung angenommen worden ist.
1992 haben wir den Vertrag über gute Nachbarschaft zwischen unseren beiden Ländern
geschlossen, Ausdruck des Willens zu guter, ja freundschaftlicher Zusammenarbeit. Bedurfte
es darüber hinaus noch der Deutsch-Tschechischen Erklärung, die so schwierig und
zeitweise fast unerreichbar erschien?
Ja, wir brauchten sie und brauchen sie um unserer gemeinsamen Zukunft willen.
Tiefergehende Beziehungen zwischen Völkern vertragen keine schwerwiegenden
Tabuisierungen, keine unabgeklärten Fragen der Vergangenheit, die sich der gemeinsamen
bilateralen und europäischen Zukunft in den Weg stellen.
Anläßlich der Unterzeichnung der Deutsch-Tschechischen Erklärung am 21. Januar 1997 in
Prag erklärte unser Bundeskanzler Kohl ich zitiere :
»Unsere gemeinsame Erklärung soll helfen, den Teufelskreis gegenseitiger Aufrechnung und
Schuldzuweisungen zu durchbrechen. Wir dürfen nicht Gefangene der Vergangenheit bleiben,
sonst hätte die Vergangenheit letztlich gesiegt. Sie, Herr Präsident, haben in Ihrer
Rede am 17. Februar 1995 in der Karls-Universität Prag zum Verhältnis von Deutschen und
Tschechen gesagt: Das Verhältnis zu Deutschland bedeutet für uns mehr als bloß eines
der vielen Themen unserer Diplomatie. Es ist Teil unseres Schicksals, sogar ein Teil
unserer Identität. Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz. Das gilt aus
Ihrer Sicht nicht in gleicher, aber doch vergleichbarer Weise auch für unser Land. Wir
sind geschichtlich und kulturell eng miteinander verflochten. Gerade in dieser Zeit, in
der auch das vereinte Deutschland seine neue Identität und neue Stellung in Europa und
der Welt sucht, wächst die Bedeutung unseres Verhältnisses. Ohne sich den belastenden
Wahrheiten der jüngsten Geschichte zu stellen, können auch die guten Traditionen unserer
Geschichte keine wirkliche Kraft entfalten. Dabei dürfen Ursache und Wirkung in der
Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden. Wir haben gelernt. 50 Jahre sind
eine kurze Zeit, wenn wir daran denken, daß tiefe Wunden nicht allein durch die Zeit
verheilen. Deshalb haben wir Deutschen uns in der Gemeinsamen Erklärung auch zu dem
Unrecht bekannt, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistische
Gewaltherrschaft angetan worden ist. Auf beiden Seiten ist Menschen unendliches Leid
zugefügt worden. Zu ihnen gehören auf deutscher Seite die Sudetendeutschen, die aus
ihrer Heimat vertrieben worden sind, weil sie Deutsche waren. Diese Wunde ist bei den
meisten der Betroffenen zwar vernarbt; sie schmerzt jedoch noch immer. Um so wichtiger ist
es, daß gerade diese Mitbürgerinnen und Mitbürger in den Dialog und die Aussöhnung an
vorderster Stelle mit einbezogen werden. So schwer es manchem aus dem persönlichen
Schicksal heraus auf tschechischer und deutscher Seite auch fallen mag, den Schritt auf
den anderen hin zu tun: Wer, wenn nicht die Leidtragenden der Vergangenheit, könnten die
Brückenbauer der Zukunft sein? Wichtig ist die Beteiligung am deutsch-tschechischen
Gesprächsforum. Wichtig sind die Projekte, bei denen alle dazugehören, damit Versöhnung
und gegenseitiges Verständnis im europäischen Geist nachhaltig befördert werden
können. Dann ist auch die Frage eines dauerhaften Aufenthaltsrechts unserer Vertriebenen
leichter zu regeln, und in eine gemeinsamen Europa wird es ohnehin geregelt. Der
Aussöhnungsprozeß zwischen Deutschen und Tschechen ist durch die Erklärung auf ein
tragfähiges Fundament gestellt worden. Die Botschaft der Erklärung ist die
Zukunftsperspektive: die gemeinsame Arbeit in und für Europa im Geiste guter
Nachbarschaft und Partnerschaft. Dafür sind bereits durch viele Persönlichkeiten,
Gruppen und Organisationen auch außerhalb des politischen Bereichs gute Vorarbeiten
geleistet worden. Das Engagement der Kirchen, die beharrliche Arbeit von
Nicht-Regierungsorganisationen, der Deutsch-Tschechischen Gesellschaften und
Freundschaftskreise bleibt unverzichtbar. Sie alle haben dazu beigetragen, das Netz
grenzüberschreitender Beziehungen stetig dichter zu knüpfen. Der Jugendaustausch
zwischen unseren beiden Ländern wird durch die Gemeinsame Erklärung besonders
gefördert.«
Herr Präsident Havel, Ihre heutige Rede und die Rede unseres Bundespräsidenten Herzog am
29. April 1997 in Prag bilden den symbolischen Höhepunkt nach einem fast zwei Jahre
dauernden Prozeß der Verhandlungen über die Deutsch-Tschechische Erklärung.
Die Verhandlungen wurden am 20. Dezember 1996 von den Außenministern Kinkel und Zieleniec
abgeschlossen.
Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Klaus sowie die beiden Außenminister
unterzeichneten die Erklärung am 21. Januar dieses Jahres in Prag.
Unser Dank gilt auch unserem Bundespräsidenten und seinem Vorgänger Richard von
Weizsäcker.
Ich möchte hier auch das Engagement meiner Kollegin und Bundestagsvizepräsidentin Antje
Vollmer nicht unerwähnt lassen.
Wir brauchten viele, die dazu beigetragen haben, daß wir unsere Beziehungen im guten
Sinne bauen. Vergangenheit ist notwendig, um Kräfte für die Zukunft zu gewinnen. Das
Wichtigste ist die Arbeit am gemeinsamen Europa. Ich wünsche uns allen, daß wir in
diesem Text keinen Schlußpunkt der begonnenen positiven Entwicklung sehen, sondern ein
weiteres bedeutendes Ziel auf dem gemeinsamen Weg des europäischen Einigungsprozesses.
Wir haben in diesem Jahrhundert in Europa erlebt, wie sehr auch Demokratien vor großen
Herausforderungen versagen können, vor allem dann, wenn sie ihre grundlegenden Werte,
ihre moralische und politische Überlegenheit gegenüber totalitären Herrschaftsformen
nicht ständig am Leben erhalten und immer wieder einfordern.
Wende und Aufbruch in ganz Europa seit 1989 wären ohne die verpflichtende Kraft
gemeinsamer Geschichte, gefestigter Werte und den Durchbruch von Recht und Freiheit nicht
möglich gewesen. Denken Sie an die Situation in Prag, als Außenminister Genscher mit
Kollegen aus dem Bundestag dies symbolhaft zeigte. Denken Sie an den Einsatz, der seit
dieser Zeit von unseren Außenministern in Deutschland und in der Tschechischen Republik
geleistet worden ist.
Auch Deutschland hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Verantwortung für die
Geschichte dieses Kontinents begriffen und ernst genommen. Unser Land ist und bleibt
nachhaltig bemüht, eine aktive Rolle bei der Gestaltung eines vereinten Europas und bei
der Sicherung des Friedens in der Welt zu übernehmen. Wir können am Ende dieses
Jahrhunderts den Erfolg und die Gewißheit, mit allen unseren Nachbarn in Frieden und
guter Nachbarschaft zu leben, nicht hoch genug einschätzen. Das war und bleibt das Ziel
aller politisch Verantwortlichen in Parlament und Regierung seit Gründung der
Bundesrepublik Deutschland. Diesem Ziel haben sich alle Regierungen und Parlamente unseres
Landes seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet gefühlt. An die
Stelle von Vorurteilen und Ängsten setzen Sie, Herr Präsident Havel, Vertrauen und
Zutrauen, setzen Sie auf die demokratischen Stärken unseres Landes, auf seine
Bereitschaft zu guter Nachbarschaft und konstruktiver Partnerschaft.
Sie haben gesagt ich zitiere :
»Ich glaube an Deutschlands Engagement dafür, daß Europa zu einem Kontinent des
Friedens, der Freiheit, Zusammenarbeit, Sicherheit und gerechter Verhältnisse unter all
seinen Staaten, Völkern und Regionen wird ...«
Und Sie erwarten von uns, daß wir Ihrem Land, Ihrem Volk bei der Heimkehr nach
Europa helfen, daß wir gemeinsam aus der Vergangenheit lernen und in Zukunft Seite
an Seite für ein geeintes demokratisches Europa arbeiten. Dies ist nicht nur Hoffnung,
sondern auch Verpflichtung. Deshalb sind wir mit Ihnen davon überzeugt,daß der
Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union und die wachsende
Freizügigkeit in diesem Raum das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen weiter
erleichtern wird, wie es in unserer Gemeinsamen Erklärung heißt.
Herr Präsident, dieses demokratische, freie und soziale Europa, das zu bauen wir
gemeinsam im Begriff sind, lebt aus der Vielfalt seiner Traditionen, die seiner Einheit
förderlich sind. Es lebt aus Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit. Das bedeutet, daß
die Tschechische Republik auch in den europäischen Sicherheitsstrukturen einen festen
Platz erhalten muß, die wir gemeinsam mit unseren Partnern in West und Ost anstreben.
Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, daß dieser Integrationsprozeß im Geist
partnerschaftlicher Kooperation gerade auch mit Rußland verläuft. Herr Präsident, Sie
haben in Ihrer Person ganz Europa ein Beispiel für die Kraft und Macht des Wortes in der
Politik gegeben. Darin, was wir sagen und wie wir miteinander sprechen, spiegelt sich der
Umgang mit den Grundwerten demokratischer Zivilisation, der Konflikt- und
Friedensfähigkeit. Diesem Anspruch und Beispiel folgend wollen wir den Dialog zwischen
unseren beiden Ländern und in ganz Europa führen. Ich darf Sie nun bitten, zu uns zu
sprechen.
(Lebhafter Beifall)
Vaclav Havel, Präsident der Tschechischen
Republik:
Herr Bundespräsident!
Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages!
Herr Präsident des Bundesrates!
Herr Bundeskanzler!
Meine Damen und Herren Abgeordneten, Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung!
Verehrte Gäste!
Ich bin der erste Vertreter des demokratischen tschechischen Staates, dem die Ehre zuteil
wird, vor den ranghöchsten Repräsentanten des demokratischen Deutschland zu sprechen.
Ich nehme die besondere Verantwortung wahr, die sich daraus ergibt. Ich spüre um mich
auch die verstärke Neugier darauf, was ich hier sagen werde, und ich weiß um die große
Anzahl der verschiedenen Themen, über die ich aus diesen oder jenen Gründen gerade hier
reden sollte. Nach einer kürzeren literarischen Selbstquälerei habe ich mich jedoch
entschlossen, all die Erwartungen zu vergessen, all die Verzeichnisse politisch
wünschenswerter Bemerkungen beiseite zu legen und meine Verantwortung nicht als Trauma zu
empfinden, sondern diese Gelegenheit zur Überlegung über ein einziges Thema zu nutzen,
das meines Erachtens gerade heute von äußerster Wichtigkeit ist. Dieses Thema ist nichts
Geringeres und nichts Größeres als das Erlebnis namens Heimat. Es waren in erster Linie
zwei Gründe, die mich dazu bewogen haben. Erstens sind die Tschechische Republik und die
Bundesrepublik Deutschland durch eine bedeutende Tatsache verbunden: Beide sind in ihrer
heutigen Gestalt relativ junge Staaten, die in vieler Hinsicht ihre Identität erst suchen
und dabei erneut das bestimmen, was sie für ihre Bürger zur Heimat macht. Dabei haben
unsere beiden Länder paradoxerweise eine sehr lange und reiche Tradition der Erforschung
ihrer selbst als Heimat und der Förderung oder der Kritik verschiedener Formen ihres
Patriotismus. Zweitens verläuft jetzt ein präzedenzloser Prozeß der europäischen
Integration, der nicht nur Sie und uns, sondern eigentlich alle Europäer zwingt, erneut
darüber nachzudenken, was in der neuen Ära für sie Heimat darstellt oder darstellen
wird, wie sich ihr Patriotismus mit dem Phänomen des vereinten Europa und hauptsächlich
mit dem Phänomen des Europäertums vertragen wird und inwieweit heute noch gültig
bleibt, daß unter Heimat einfach der Nationalstaat im klassischen Sinne des Wortes und
unter Patriotismus nur die Liebe zum eigenen Volk zu verstehen sind. Bevor ich jedoch
meine Aufmerksamkeit diesem Thema zuwende, werde ich, wenn Sie gestatten, kurz etwas
anderes erwähnen, nämlich die konkrete Situation, in der ich zu Ihnen spreche.
Dies ist ein Augenblick, in dem nach einer langen Zeit von Verhandlungen, welche nicht
leicht waren, die jetzt bereits allgemein bekannte und allgemein geschätzte
Tschechisch-Deutsche Erklärung unterzeichnet und von unseren beiden Parlamenten
angenommen worden ist. Niemand von uns ist natürlich so naiv, zu glauben, die Erklärung
sei ein Zauberstab, der all die bitteren Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert unser
Zusammenleben beeinträchtigten, und all den traditionellen und traditionsgemäß
genährten Irrglauben, der über dieses Zusammenleben und diese Erfahrungen auf beiden
Seiten besteht, auf einmal verschwinden lassen wird. Trotzdem bin ich der Meinung, daß
die Erklärung von großer Bedeutung ist, vielleicht von größerer Bedeutung, als manchen
von uns bewußt ist. Durch ihre Verabschiedung zeigen unsere beiden Staaten ganz Europa,
daß sie den guten Willen haben, seine ohnehin überladenen Verhandlungstische nicht auch
noch mit ihren Differenzen zu belasten, welche überdies auf Ereignisse zurückzuführen
sind, die vor langer Zeit geschahen und nicht ungeschehen gemacht werden können. So wie
das heutige Deutschland nicht in der Lage ist, die Zehntausende tschechischer NS-Opfer ins
Leben zurückzurufen und uns in die Zeit vor 1938 zurückzuführen, in der Tschechen,
Juden und Deutsche bei uns zusammenlebten, so wenig kann die heutige Tschechische Republik
den vertriebenen Deutschen ihr altes Zuhause zurückgeben. Durch diese Erklärung haben
wir meines Erachtens klar gesagt, daß wir nicht das Unmögliche anstreben, das heißt,
daß wir nicht versuchen, die eigene Geschichte zu ändern und ihre nicht
wiedergutzumachenden Folgen wiedergutzumachen, sondern daß wir diese Geschichte
unvoreingenommen erforschen, ihre Wahrheit suchen und dadurch die einzig möglichen und
sinnvollen Grundlagen unseres künftigen guten Zusammenlebens legen wollen.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle meiner Hochachtung für die moralische Haltung
derjenigen unter meinen Mitbürgern Ausdruck zu verleihen, die während der NS-Zeit Opfer
der politischen und Rassenverfolgung waren und jetzt dieses Versöhnungswerk unterstützt
haben.
(Beifall)
Die Bedeutung der angenommenen Erklärung besteht wenigstens so, wie es mir erscheint hauptsächlich darin, daß sie uns befreit. Indem wir die Geschichte unvoreingenommener historischer Forschung anvertrauten, haben wir vor allem die Historiker selbst befreit. Sie müssen nicht mehr unangenehmen Fakten nur deswegen ausweichen, weil deren Beschreibung ungute politische Konsequenzen haben könnte. Durch die Befreiung der Historiker haben wir aber noch viel mehr getan: Wir haben dadurch zur Freiheit all unserer Mitbürger beigetragen; denn nur eine Gemeinschaft, welche die Wahrheit über ihre eigene Geschichte erkennen kann und darf, ist tatsächlich eine freie Gemeinschaft. Nur in einer tatsächlich freien Gesellschaft hier schließt sich der Kreis können sich auch die Politiker tatsächlich frei benehmen. Zumindest empfinde ich persönlich es so. Ein kleines Beispiel: Wenn ich sehr wohl wissend, warum vor zwei Jahren nur sagte, daß die aus unserem Land stammenden Deutschen bei uns als Gäste willkommen sind, so kann ich heute ohne Befürchtungen auch hinzufügen, was ich damals nicht sagte: daß sie nicht nur als Gäste, sondern auch als unsere einstigen Mitbürger bzw. deren Nachkommen willkommen sind, die bei uns jahrhundertealte Wurzeln haben und das Recht darauf haben, daß wir diese ihre Verbundenheit mit unserem Land wahrnehmen und achten. (Beifall)
Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes
bedeutet jedoch mehr, als ohne Rückhalt zu sagen, was ich denke. Freiheit bedeutet auch,
daß ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen
hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch
einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das
gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der
Wahrheit? Konkret bedeutet es auch, daß wir in der Zukunft jene Begriffe oder
Schlagwörter meiden sollten, die unter anderem dank ihrer poetischen Nebelhaftigkeit in
dem historischen Bewußtsein der anderen eine andere Bedeutung als bei uns haben, oft
sogar eine sehr negative Bedeutung. Sie wissen wohl, daß ich über solche
Wortverbindungen wie zum BeispielSchlußstrich spreche, verstanden in
Deutschland als ein Ausdruck für den Versuch, böse Dinge zu vergessen, oderRecht
auf Heimat, was bei uns als gehobene Bezeichnung für einen schlichten territorialen
Anspruch betrachtet wird.
Kurz gesagt: Die Tschechisch-Deutsche Erklärung schafft indem sie uns alle von der
Angst vor der Wahrheit befreit sowohl für die Entwicklung unseres nachbarlichen
Zusammenlebens als auch für unsere Zusammenarbeit auf der europäischen Bühne ein
außerordentlich günstiges Klima. Nun geht es darum, daß wir schnellstens und so gut wie
möglich von diesem Klima Gebrauch machen und unverzüglich all das säen und zielbewußt
pflegen, was darin gedeihen kann. Einige Möglichkeiten werden in der Erklärung selbst
artikuliert. Andere eröffnen sich oder werden sich in dem Maße eröffnen, in welchem
dies durch die Initiative der Bürger, der Selbstverwaltungsbehörden und anderer
Institutionen erfolgt. Dies ist eine wahrhaft historische Chance, die nicht vertan werden
darf. Alle demokratischen Politiker auf beiden Seiten sollten sich deswegen der Größe
ihrer Verantwortung bewußt werden und eindeutig dem langfristigen Interesse den Vorrang
geben, welches in einem gut angelegten, festen, dauerhaften und alle Beteiligten
bereichernden Zusammenleben unserer Völker besteht, statt das kurzfristige Interesse in
Gestalt des Gewinns von dem einen oder anderen Prozentsatz an Wählern zu fördern, auch
wenn jene Wähler durchaus unbelehrbare Menschen sein sollten. (Beifall)
Meine Damen und Herren,
der Mensch ist, wie bekannt, keine Erscheinung an sich, deren Identität in keinem
Zusammenhang mit ihrer Umgebung stünde und davon völlig unabhängig wäre. Im Gegenteil:
Unsere Identität wird durch zahlreiche Schichten oder Kreise dessen mitgestaltet, was im
allgemeinen als unser Zuhause bezeichnet werden kann. Unsere Familie; der Kreis unserer
Freunde oder unserer Glaubensbrüder; das Haus, in dem wir leben; unsere Gemeinde oder
unser Bezirk, einschließlich der Landschaft, die ihn prägt; unsere Firma oder unser
Beruf; der Verein, in dem wir tätig sind; unsere Volksgruppe oder unsere Nation; der
Staat, dessen Bürger wir sind; aber auch der breitere Zivilisationskreis, dem wir uns
durch unsere Wurzeln und unsere Geschichte zugehörig fühlen; und letzten Endes auch
unser Erdenbürgertum all das sind verschiedene Schichten unseres Zuhause. In all
diesen Schichten sind wir auf die eine oder andere Weise verankert, durch alle werden wir
irgendwie beeinflußt oder geradezu mitbestimmt, zu allen bekennen wir uns in dem oder
jenem Maße, und alle sind beteiligt an der Gestaltung und dem irdischen Dasein unseres
Ichs.
Nur eine dieser Schichten und es ist die Frage, wie wichtig sie für uns im
Vergleich mit den anderen ist nennen wir Heimat. Gewöhnlich verstehen wir darunter
das Land, in dem das Volk lebt, dem wir angehören. Als sich allmählich Nationen im
modernen Sinne des Wortes zu konstituieren begannen und Eigenstaatlichkeit gewannen und
dadurch moderne Nationalstaaten entstanden, wurde unter dem Begriff Heimat offensichtlich
immer deutlicher der eigene Nationalstaat verstanden und unter dem Begriff Patriotismus
die Gefühlsverbundenheit sowohl mit dem eigenen Volk und dem von ihm bewohnten Land als
auch in zunehmendem Maße mit dem Staat, welchen dieses Volk aufbaut,
beschützt oder um welchen es kämpft.
Ich glaube, wenn man heute Heimat sagt, verbinden damit die meisten Menschen
eben die zuletzt beschriebene Bedeutung. Anders gesagt, sie sehen die Heimat als eine
praktisch abgeschlossene, feststehende, genau definierbare Struktur, die zu keinen
weiteren Überlegungen anregt: Jeder weiß doch, wie sich ein Tscheche von einem Deutschen
unterscheidet und wo die Tschechische Republik endet und die Bundesrepublik Deutschland
beginnt.
Ist eine solche Einstellung zur Heimat die einzig mögliche, richtige und
zukunftsorientierte Haltung? Ist es nicht angebracht, das Phänomen Heimat zumindest noch
einmal zu untersuchen und uns die Frage zu stellen, welcher Weg uns jetzt offensteht:
Sollen wir die Festigkeit, Abgeschlossenheit und Unmöglichkeit der Problematisierung der
Heimat einfach als Tatsache akzeptieren und diese Auffassung lediglich weiterhin
bekräftigen, oder kann man auch anders vorgehen?
Heimat, das am häufigsten benutzte und am besten zutreffende deutsche Wort
für das, was im Tschechischen vlast genannt wird, ist vom urgermanischen
haima abgeleitet, welches nicht nur die uns nahestehende und vertraute Welt,
also eine Schicht unseres Zuhause bezeichnete, sondern auch die Welt und das Weltall in
ihrer Gesamtheit, das heißt das Universum. Ähnlich bedeutet das altisländische Wort
heimspekja, über das Heim und die Heimat zu sprechen, aber auch über das
Weltall nachzudenken, das heißt zu philosophieren.
Was verbirgt sich hinter dieser ursprünglichen Zweideutigkeit des Wortes Heimat?
Die Erklärung ist einfach: Offensichtlich galt die Heimat einst als eine
Vergegenwärtigung der Welt, deren Abbild oder Einblick darein, so als wäre das, was uns
vertraut bekannt ist, was uns umgibt, worin wir uns in gewissem Maße auskennen, was wir
unmittelbar erleben und erfahren, nur eine Fläche eines Kristalls, die das ganze Weltall
widerspiegelt. Die Heimat und das Zuhause verstanden in diesem Sinne sondern
uns nicht von dem Universum ab, im Gegenteil, sie verbinden uns mit ihm.
In seiner Ursprünglichkeit bezeichnet also das Wort Heimat keine abgeschlossene Struktur,
sondern das Gegenteil davon: eine Struktur, die öffnet, eine Brücke zwischen dem
Menschen und dem Weltall, einen Leitfaden, der vom Bekannten auf das Unbekannte, vom
Sichtbaren auf das Unsichtbare, vom Verständlichen auf das Geheimnisvolle, vom Konkreten
auf das Allgemeine weist. Es ist der feste Boden unter den Füßen, auf dem der Mensch
steht, wenn er sich zum Himmel hin ausrichtet.
Am einfachsten ist es natürlich, über den Begriff Heimat nicht viel nachzudenken und bei
der traditionellen Bedeutung zu bleiben beziehungsweise die Auffassung von der Heimat als
einer abgeschlossenen Struktur weiter zu bekräftigen und zu vertiefen. Dieser Weg ist
nicht nur unkompliziert, sondern auch für gewisse Gesellschaftsschichten und deswegen
auch für gewisse Politiker ziemlich verlokkend. Er stellt keine besonderen
intellektuellen oder moralischen Ansprüche, sondern bietet jedem ein bequemes Ruhekissen
bekannter Realien und die Umarmung einer bekannten Gemeinschaft. Die Zugehörigkeit zu
dieser Gemeinschaft als der höchste Wert löscht individuelle Verantwortung aus und wird
zu einer leicht erkennbaren Sicherheit in einer unsicheren Welt. Ich bin Tscheche,
Deutscher oder Franzose; die Tschechen, die Deutschen oder die Franzosen sind die Besten;
die Tschechen, die Deutschen oder die Franzosen haben immer recht; wer kein Tscheche,
Deutscher oder Franzose ist, ist verdächtig; ich werde das tun, was alle Tschechen,
Deutschen oder Franzosen tun; ich werde mich in dem kollektiven Willen des Stammes
auflösen und als dessen passiver Bestandteil durch das Leben schweben, und ich habe es
geschafft. Dies ist eine Denkweise, zu der die Auffassung von Heimat als einer
abgeschlossenen Struktur die Menschen leiten oder verleiten kann. Und dann kann es
geschehen, daß sie in ihrer extremen Form letzten Endes nicht mehr und nichts besseres
als Chauvinismus, Provinzialismus, Gruppenegoismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
gebiert.
(Beifall)
Wozu solche kollektiven Gemütszustände
führen, wenn sie von nationalistischen Anführern geschickt angespornt werden, wissen wir
alle nur zu gut: zu Gewalt, ethnischen Säuberungen, Kriegen und Konzentrationslagern.
Die Auffassung von Heimat als einer abgeschlossenen Struktur birgt in sich die Gefahr,
daß die Heimat eher als ein ungelüftetes Loch statt als Sprungbrett der menschlichen
Entfaltung betrachtet wird, eher als eine Höhle, die den Menschen vor der Welt schützt,
statt als Raum für seinen Kontakt mit ihr, eher als ein Instrument der Isolierung des
Menschen von den anderen statt als ein Tor, das ihm den Weg zu den anderen öffnet. Ich
finde in dieser Auffassung, insbesondere in ihren abgesunkenen Formen, viel
Äußerlichkeit: Immer deutlicher verliert darin die Heimat jede geistige Dimension oder
jeden geistigen Inhalt, immer weniger stellt sie eine Gesamtheit von empfundenen oder
gemeinsam angenommenen Werten dar oder vom eigenen geistigen Erbe, so wie es erfaßt wird,
und wird lediglich zu einem toten Paket ihrer äußerlichen, inhaltlich entleerten
Attribute wie Trachten, Standarten, Aufrufen oder endlos wiederholten Melodien.
(Beifall)
Ich glaube, daß die moderne Welt mit der
Zeit die traditionelle Auffassung des Nationalstaates als eines Gipfelpunkts der
nationalen Existenz, der de facto das Ende der Geschichte markierte, hinter sich läßt.
In dieser Auffassung war die Tatsache, daß ein Volk seinen Staat hatte, wichtiger als die
Frage, was für ein Staat es war und auf welchen Werten er beruhte. Durch eine
allmähliche Überwindung des Nationalstaates in seiner traditionellen Auffassung sollte
meines Erachtens auch eine neue Reflexion des Begriffs Heimat herbeigeführt werden.
(Beifall)
Wir sollten lernen, die Heimat wieder
so wie es wahrscheinlich einst geschah als unseren Teil der Welt im
Ganzen zu empfinden, das heißt als etwas, das uns einen Platz in der Welt
verschafft, statt uns von der Welt zu trennen.
Sie werden mir bestimmt glauben, daß ich keinem Menschen empfehle, sich von seiner Heimat
loszusagen.
Ich glaube nur, daß die Zeit für eine wohl eher gefühlsmäßige als verbale
Neudefinition reif geworden ist. Die Landschaft, die wir als ein unverkennbares
Merkmal unserer Heimat empfinden und lieben, sollten wir immer deutlicher als einen
unverkennbaren Bestandteil und ein unverkennbares Beispiel des gesamten Wunders der Natur
wahrnehmen, ebenso unverwechselbar, wie zahlreiche andere Landschaften unverwechselbar
sind. Ein Marterl am Rande eines Feldwegs sollte für uns nicht nur eine traditionelle
Verzierung unserer Landschaft darstellen, die aus alten Heimatkalendern bekannt ist,
sondern einen gegenständlichen Ausdruck der Spiritualität unserer Ahnen.
Wenn in unserer Heimat vorwiegend Tschechisch oder Deutsch gesprochen wird, bedeutet dies
doch nicht, daß auch eine Person, deren Muttersprache eine ganz andere Sprache ist, unser
Land oder unseren Staat nicht als ihre Heimat empfinden und erleben kann.
(Beifall)
Unsere Volkssagen und Volkslieder, unsere
nationale Kultur oder unsere Muttersprache sollten wir vor allem als einen individuellen
Bestandteil des gesamten Besitztums der Menschheit betrachten, der auf seine Art
die menschliche Sehnsucht nach einem Erfassen und Begreifen der Welt, in welcher
der Mensch lebt, bezeugt. Unseren eigenen Staat sollten wir einfach als einen der vielen
Versuche der menschlichen Gemeinschaft betrachten, ein möglichst vernünftiges und
gerechtes Zusammenleben der Menschen zu vermitteln.
In gewisser Hinsicht mag dies weniger sein als das, was die Heimat für unsere Vorfahren
vor hundert Jahren bedeutete. Sie ist nicht mehr ein Gegenstand der Vergötterung.
Andererseits ist es aber unendlich mehr: Die Heimat als eine offene Struktur ist doch ein
Bindeglied, das uns mit dem Universum verbindet, und eine der vielen konkreten Bemühungen
um ein sinnvolles Dasein auf dieser Welt.
Ich würde sagen, daß die Oberfläche dessen, was die Heimat zur Heimat macht, weniger
wichtig ist als der Sinn solcher Dinge. Auch an dem Marterl ist doch die Tatsache, daß es
an das Schicksal Christi erinnert, wichtiger als die Tatsache, daß es unser sagen
wir: südböhmisches Marterl ist.
(Heiterkeit)
Man kann mit Recht sagen, daß es die südböhmische Art des Erfassens des Leidens Christi
darstellt. Es wäre aber nicht gut zu denken, dies sei verkörpertes Südböhmertum.
(Beifall)
All das bedeutet, daß der Nachdruck immer
deutlicher der Welt der Werte, die uns unsere Heimat auf ihre eigene Weise
vergegenwärtigt oder als Staat deren Vergegenwärtigung anstrebt oder
anstreben sollte, statt der Welt der mit ihr verbundenen äußeren Zeichen gelten sollte,
wie es zum Beispiel die genetische Herkunft, die Sprache, die Hautfarbe ihrer Bewohner
oder die für sie charakteristische Gestalt der Baudenkmäler, Bräuche oder Traditionen
sind.
Meine Damen und Herren,
der bewundernswerte Prozeß der europäischen Vereinigung konzentriert sich heutzutage auf
die institutionelle, wirtschaftliche, legislative und politische Vereinigung. Auf all
diesen Ebenen kann er jedoch kaum erfolgreich sein, falls er nicht systematisch von einer
Suche nach den vereinigenden Motiven im Bereich des Fühlens und des Denkens begleitet
wird. Anders gesagt: Früher oder später werden die Europäer auch Europa als ihre
Heimat, wenn auch besonderer Art, oder als eine gemeinsame Heimat ihrer Heimaten empfinden
müssen.
(Beifall)
Dies ist jedoch nur dann denkbar, wenn sie
Heimat als eine offene Struktur betrachten, offen nicht nur in dem Sinne, daß ein Teil
der Gefühle, die bisher dem Nationalstaat gewidmet waren, auch einer Region oder
andererseits dem ganzen Kontinent gelten kann, sondern hauptsächlich in jenem tieferen
Sinne, über welchen ich hier gesprochen habe.
Europa sollte viel deutlicher zur Heimat unserer gemeinsamen Werte werden, so wie sie aus
unseren besten geistigen Traditionen und den erworbenen geschichtlichen Erfahrungen
erwachsen. Wir alle wissen, um welche Werte es geht: Respekt für die Menschenrechte,
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Bürgergesellschaft, Marktwirtschaft, Sinn für soziale
Gerechtigkeit, Achtung vor der Natur und vor unserer Umwelt. Und wir alle ahnen wohl, auch
wenn wir weniger darüber sprechen, was irgendwo in dem tief inneren Bereich hinter diesen
bekannten Werten verborgen ist. Es ist die Verantwortung des Menschen für die Welt, die
moralische Ordnung in uns, jenes Kantsche Gegenstück zum Sternenhimmel über uns. Und
selbstverständlich nicht nur das, es ist auch das individuelle Antlitz, das diesen Werten
und deren metaphysischem Ursprung durch die geistige Geschichte unseres Kontinents
verliehen worden ist. Meine Damen und Herren Abgeordneten, liebe Freunde, ich kann nicht
anders als mit der Feststellung enden, daß vor unseren beiden Staaten eine große Aufgabe
steht: Gemeinsam und erfüllt vom gegenseitigen Vertrauen sollen wir zu dem großen Werk
der europäischen Vereinigung beitragen und, von unseren eigenen reichen geistigen
Traditionen ausgehend, gemeinsam darin das bekräftigen, was die stärkste Bindung
europäischer Staaten und Nationen darstellen kann, nämlich das Bewußtsein, daß wir
miteinander eine gemeinsame Heimat der Gedanken, Werte und Ideale teilen. Ich danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
(Langanhaltender lebhafter Beifall)
(Schluß: 16.15 Uhr)