Rede Václav Havel anläßlich der Verleihung des Nationalpreises 2003
18. Juni 2003, Konzerthaus Berlin

Es gilt das gesprochene Wort. *)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
da ich heute zum ersten Mal nach dem Ende meines fast dreizehnjährigen Verweilens im Amt des Präsidenten vor die Aufgabe gestellt bin, ein so bedeutendes Publikum anzusprechen, kann ich nur schwer dem Versuch widerstehen, eine – wenn auch nur teilweise und sehr kurze – Bilanz zu ziehen, also dem Versuch, ganz aufrichtig mir selbst auf die Frage zu antworten, ob ich das erreicht habe, worum es mir die ganze Zeit ging und was ich nicht nur während der Zeit meines Präsidentenamtes, sondern eigentlich während meines gesamten erwachsenen Lebens durchzusetzen mich bemüht habe. Über diese Sache denke ich übrigens schon einige Monate lang nach und ich kann heute kaum über etwas anderes sprechen.

Gemeinsam mit vielen anderen Mitbürgern und gemeinsam mit einem großen Teil unserer Bürger-Öffentlichkeit haben wir zweifellos einige grundlegende und insgesamt leicht zu überprüfende Dinge erreicht. Auf friedlichem Wege und sehr schnell haben wir die Macht aus den Händen des totalitären Regimes übernommen und haben die hauptsächlichen Instrumente aufgelöst, mit denen es die Gesellschaft beherrschte, verhältnismäßig schnell haben wir uns aus der Position des Satelliten befreit, haben die Okkupationsarmee aus unserem Land vertrieben und zum Ende der Organisationen beigetragen, die in einem großen Teil Europas fremde Hegemonie sicherstellten. Schnell haben wir alle grundlegenden bürgerlichen Freiheiten erneuert, die grundlegenden Institutionen des demokratischen Staates, das Prinzip der Herrschaft des Rechts angenommen und Raum für die politische Pluralität geschaffen. Der Staat hörte auf, ideologisch definiert zu sein, und zu seiner Leitidee wurde der Gedanke der Menschenrechte. Wir haben begonnen, authentisch freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn und anderen Ländern aufzubauen und wurden so allmählich wieder zu einem vollwertigen Bestandteil des westlichen demokratischen Zivilisationskreises und zu Mitgliedern seiner heutigen Organisationen, und haben infolgedessen auch die entsprechende Mitverantwortung für den Frieden in der Welt und die Freiheit all ihrer Bewohner übernommen. In unserem Land, in dem fast alles vor Jahrzehnten verstaatlicht worden war, gab es einen präzedenzlosen Prozeß der Privatisierung und Erneuerung der Marktwirtschaft. Es begann die freie Reflexion der eigenen Vergangenheit, verbunden mit dem Bemühen, sich mit ihren dunklen Kapiteln auseinanderzusetzen und in erreichbarem Maße die unendliche Menge an Unrecht, das so lange begangen wurde, wiedergutzumachen.

Das alles geschah selbstverständlich in allen europäischen Ländern, die früher hinter dem Eisernen Vorhang lagen, obwohl es in jedem von ihnen verständlicherweise anders verlief, eine andere Färbung hatte, ein anderes Tempo und eine andere Qualität, was von Tausenden von historischen und anderen – früher unter dem Dach der kommunistischen Gleichmacherei verborgenen – Unterschieden zwischen ihnen bedingt war. Welche Qualität und welches Maß an Erfolg all diese Geschehnisse und ihre Ergebnisse in unserem Land hatten und welche Rolle darin wer von uns gespielt hat, werden ohne Zweifel die Historiker und künftige Generationen abwägen und beurteilen. Sicher ist, dies alles hätte schneller, besser, gründlicher, schlauer*), charmanter geschehen können. Aber das gilt in der Politik wohl für alles. Wichtig ist, daß es überhaupt geschehen ist oder geschieht und daß diese Entwicklung nicht mehr umzukehren ist.

Diese grundlegenden und allgemeinen Dinge sind allerdings nicht – aus mehr oder weniger offensichtlichen Gründen — der Hauptgegenstand meines ziemlich intensiven, ja manchmal fast schmerzhaften inneren Fragens. Das ist ein anderer, nach außen hin vielleicht subtilerer, in Wirklichkeit jedoch meiner Meinung nach noch wichtigerer Bereich, nämlich der Bereich der existenziellen, menschlichen, bürgerlichen, sittlichen oder sozialen Dimension all dieser Veränderungen, der Bereich des gesellschaftlichen Klimas, in dem sie vor sich gehen, der Bereich ihrer indirekten, aber häufig über alle Maßen wichtigen begleitenden Zeichen und Zusammenhänge, sowie das System der mentalen Haltungen und Praktiken, die diese Veränderungen entstehen lassen oder ermöglichen.

Wie ich schon zahllose Male gesagt habe, unsere Gesellschaft hat jahrzehntelang in einem verdorbenen sittlichen Klima gelebt, und daher mußten auch die historischen Veränderungen zum Besseren, die wir seit dem Ende der achtziger Jahre durchlebt haben, von diesem Klima gekennzeichnet sein, und zwar um so mehr, als der Weg zur Demokratie und Marktwirtschaft nie dagewesene Horizonte für neue Arten der Versuchung eröffnete.

Ich nenne – zumindest stichwortartig – einige Prinzipien, Werte oder Ideale, um die es mir – und selbstverständlich bei weitem nicht nur mir – außer den Systemveränderungen während der ganzen Zeit auch gegangen ist, ja, mehr noch, mit deren Geist wir diese Systemveränderungen durchdringen wollten.

Neben den unterschiedlichsten anderen, häufig auch sehr unguten Traditionen und über Jahrhunderte hinweg sich entwickelnden und von Generation zu Generation übertragenen Modellen des gesellschaftlichen und politischen Verhaltens gibt es bei uns auch eine sehr gute Tradition. Von Komenský, Havlicek, Masaryk, Rádl und Patocka über das innere Ethos der Charta 77 reicht sie bis zum Ethos des Bürgerforums, der massenhaften und spontanen antitotalitären Bewegung, die an der Spitze unserer sogenannten samtenen Revolution stand und die Hauptkraft der gesellschaftlichen Veränderungen unmittelbar danach war.

Zu dieser Tradition habe ich mich immer bekannt und an sie habe ich mich wie so viele meiner Freunde oder weitere Bürger im ganzen Land bemüht, anzuknüpfen nicht nur in der Zeit der umstürzlerischen Veränderungen in unserem Land Ende des Jahres 1989, sondern auch während meiner gesamten Zeit als tschechoslowakischer und tschechischer Präsident.

Zu dieser Tradition gehören, oder aus ihr erwachsen so grundlegende Dinge wie einfache menschliche Anständigkeit, aufrichtige Bereitschaft, etwas von dem persönlichen Interesse dem Interesse des Ganzen zu opfern, Achtung vor einer bestimmten sittlichen Ordnung oder deren grundlegenden Imperativen, seien sie begleitet von der Gewißheit ihrer metaphysischen Verankerung oder nicht, wirkliche, also nicht gespielte Achtung vor den Bürgern und deren absolut freien Einbindung in die unterschiedlichsten Strukturen der Bürgergesellschaft, Widerstand gegen alle Arten von Fanatismus, Dogmatismus, Ideologismus oder Fundamentalismus, Achtung vor der Lebenswelt einzigartiger menschlicher Wesen und ihrer überschaubaren Gemeinschaften, eine skeptische Beziehung zur rein technokratischen Führung des Staates, die mehr quantitative als qualitative Ziele verfolgt, Unterstützung der Kultur umsichtiger schöpferischer Kraft gegen die bloße Kultur des Gewinns, Respekt vor der Natur, der Landschaft, dem historischen Erbe und der natürlichen Struktur der menschlichen Besiedlung, Widerstand gegen die Kultur der Reklame und des Konsums, sowie gegen Provinzialismus, Isolationismus und dumpfen Nationalismus sowie den egoistischen Kult der Nationalinteressen, der völlig ignoriert, daß das höchste Interesse jeder Nation das gute Leben des Menschen auf diesem Planeten sein sollte, und so weiter und so weiter und so weiter. Es geht – mit anderen Worten – um die Kultur der Demut vor der Welt, Arglosigkeit*) und – wenn ich das so sagen darf – tatsächlich guten Willen, der gegen die Kultur der Intrigen, Lügen, des Betrugs und Abmachungen hinter den Kulissen steht. Es geht um die Politik als praktizierte Verantwortung für die Welt, nicht als bloße Technologie der Macht. Politik als wirklicher Dienst an den Mitbürgern und ihren Nachkommen, nicht nur als bloße Kriecherei vor den Massen. Politik durchdachter und verantwortlicher, sei es auch riskanter oder Minderheitshaltungen, nicht Politik opportunistischer Anpassung an das bunte Spektrum mehrheitlicher, wenn nicht gar manchmal gesamtnationaler Vorurteile. Kurz gesagt, eine Politik, die eine wirklich und dauerhaft offene Gesellschaft anstrebt.

Ich glaube, sehr geehrte Anwesende, daß auch aus dieser telegraphischen und notwendigerweise vereinfachenden Aufzählung ziemlich klar hervorgeht, was ich im Sinn habe. Und ich glaube ebenso, daß Sie mich nicht verdächtigen, daß ich mich selbst stolz für die lnkarnation oder den Messias all des Guten halte, worüber ich hier spreche. Hier ist nicht von mir die Rede, sondern von etwas unverhältnismäßig Wichtigerem: von der politischen Kultur, die ich für die richtige halte, die ich achte, die ich unterstütze und die ich mich bemüht habe, im Rahmen meiner nicht großen, unterschiedlich begrenzten und unterschiedlich sich verändernden Möglichkeiten durchzusetzen.

Es ist verständlich, daß diejenigen, die versucht haben, diesen Weg zu gehen, allen ökonomischen Gaunern oder politischen Schiebern, allen postkommunistischen Mafiosi oder den mit ihnen verbundenen sogenannten pragmatischen Politikern, die ihnen gegen ein entsprechendes nicht nachweisbares Entgelt entsprechende nicht nachweisbare politische Deckung oder zumindest legislatives und exekutives Entgegenkommen garantierten, ein Dorn im Auge waren. Und es ist verständlich, daß die freie Stimme der ersteren, hin und wieder dem Rufen der Dissidenten in der Wüste ähnelnd, immer auf den zähen Widerstand einiger ziemlich merkwürdig reich gewordener unternehmerischer Bruderschaften und ihrer politischen und medialen Partner stieß. Und so geschah es nicht nur einmal, daß bei technisch und formal einwandfrei angewandten demokratischen Regeln seltsamerweise nicht die siegten, die es mit ihren Mitbürgern am besten meinten, sondern die, die sich am leichtesten anmieten ließen. Und gegen diejenigen, die politische Parteien als ein Instrument der bürgerlichen Öffentlichkeit verstanden, die sich aus deren Impulsen nähren und ihren Willen vermitteln, standen immer wieder diejenigen auf, für die Parteien im Gegenteil zum Hauptinstrument der Festigung ihrer Macht und der unauffälligen Erstickung all dessen wurden, was ihnen nicht zu willen ist.

Ich stelle mir also nicht, wie vielleicht schon zu sehen ist, die Frage, ob es in meiner Zeit als Präsident gelungen ist, das totalitäre System durch Demokratie zu ersetzen, den kommunistischen Dirigismus durch Marktwirtschaft, die Idee des Klassenhasses durch die Idee der Menschenrechte oder die Stellung als sowjetischer Satellit durch die Stellung eines freien Staates, der sich frei zur westlichen demokratischen Welt bekennt. Diese Frage ist eindeutig und dauerhaft positiv beantwortet.

Die Frage, die ich mir stelle, lautet anders: was gewinnt im Rahmen der so gegebenen Verhältnisse das Übergewicht: die politische Kultur des uneigennützigen Dienstes am Ganzen oder das mafiose Lavieren zwischen den Gesetzen? Diese Frage kann ich mir dann – eher dichterisch und ein wenig selbstbezogen – in die Frage übersetzen: habe ich mein Ringen verloren oder gewonnen?

Die Antwort, zu der ich mich bisher vorgearbeitet habe, lautet: weder das Eine noch das Andere. Denn das, wonach ich strebe, hat nicht den Charakter eines erreichbaren Ziels, das man in einem bestimmten Augenblick als erreicht aus der Liste dessen, was zu tun ist, streichen kann, sondern eher den Charakter eines Ideals, dem näher zu kommen wir uns ständig bemühen, dem wir mal näher, mal ferner stehen, das wir aber nie erreichen können. Es ist nämlich wie ein Horizont: es gibt uns die Richtung an, doch zugleich entschwindet es uns vom Wesen der Sache her immer wieder. Nur ein Utopist glaubt, daß irgendein ideales Projekt der Welt existiert, das eines Tages komplett verwirklicht und dann abgehakt werden kann, denn das Ziel ist erreicht, das Paradies auf Erden hat begonnen, und das Geschichte genannte Quälen hat so ein Ende gefunden.

Meine Damen und Herren, ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit und danke vor allem denen, die sich entschlossen haben, mich heute mit dem Deutschen Nationalpreis zu ehren. Diese bedeutende Ehre schätze ich um so mehr, als sie mir gerade hier, in Berlin, zuteil wird, der ersten ausländischen Stadt, die ich als Präsident meines Landes besucht habe, in der Stadt, die inzwischen wieder zur Metropole des einigen Deutschland, und also auch zum Symbol des sich vereinigenden Europa geworden ist, in der Hauptstadt unseres größten Nachbarn und der Hauptstadt des Landes, mit dem ich mich immer bemüht habe, wirklich freundschaftliche, offene Beziehungen zu entwickeln, Beziehungen erleuchtet von der Wahrheit und nicht verdunkelt von Leidenschaften.

*) Da ich die tschechische Rede genau verfolgt habe, kann ich bestätigen, daß Havel. an keiner Stelle von dem vorliegenden Text abgewichen ist. Die Übersetzung ist jedoch nicht immer gut: Statt „schlau“ müßte es z.B.  „gescheit“ oder „intelligent“ heißen. Auch das Wort „Arglosigkeit“ paßt nicht in den Zusammenhang. Gemeint ist sicher die vernünftige Haltung eines unverdorbenen Geistes. Hanns Hertl BHB

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Václav Havel, 18. Juni 2003, Konzerthaus Berlin