Adolf Hampel
NACH DER DEUTSCH-TSCHECHISCHEN ERKLÄRUNG
Über Monate wurden Tschechen und Deutsche von der Aufmerksamkeit der Massenmedien und der Politiker verwöhnt. Selten wurde so lange und so viel über eine Erklärung geschrieben und geredet.

Das Maß an Publicity vermittelte manchem Sprecher und Vorsitzenden betroffener Gruppen und Organisationen den Eindruck, im Mittelpunkt der großen Politik zu stehen. Sie genossen es, von Fernsehen und Zeitungen, von Politikern und Bischöfen um Stellungnahme gebeten zu werden.

Da die Ereignisse, denen die besondere Aufmerksamkeit galt, über 50 Jahre zurückliegen, schlich sich bei den Nachdenklichen der Erlebnisgeneration die Vermutung ein: das ist wohl das letzte Mal, daß wir im Rampenlicht stehen.

Für diese Vermutung spricht auch der Überdruß, den viele Westdeutsche äußerten: „Was soll denn nach 50 Jahren das Gerede von Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen? Seid ihr nicht etwa voll integriert? Seid ihr nicht etwa wohlhabender als die Tschechen, die jetzt in euren Häusern wohnen? Wollt ihr etwa heute noch darüber abstimmen, ob das Sudetenland zu Deutschland gehören soll? Solche Narreteien wird niemand mitmachen!“

Solche Äußerungen bekomme ich nicht etwa von Feinden der Sudetendeutschen zu hören, sondern von Zeitgenossen, die meinen, daß angesichts der riesigen Probleme unserer Gesellschaft und des sich einigenden Europas die deutsch-tschechischen Probleme verblassen – zumal die Betroffenen, die Sudetendeutschen und Tschechen, sich heute in keiner akuten Notlage befinden.

Die Isolation, in die sich die Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft durch nebulöse Begriffe hineinmanövrieren, kann auf die Dauer auch von der CSU nicht überwunden werden. Auch wenn wir Sudetendeutschen in Bayern als der 4. Stamm gelten, sollte niemand glauben, daß bayerische Politiker sich ad infinitum wegen uns unbeliebt machen werden. Schon die nächste Zukunft wird Deutschland und Europa mit so riesigen Problemen konfrontieren, daß auch bayerischen Politikern für sudetendeutsch-tschechische Querelen weder Zeit noch Lust verbleiben wird.

Wenn wir Sudetendeutschen vor unserem Aufgehen in den allgemeinen deutschen Volkskörper überhaupt noch etwas bewirken können, müssen wir uns realistische Ziele setzen und sie zum Anliegen aller Demokraten machen. Zu diesen Zielen sollten gehören:

1. Vertreibungen und ethnische Säuberungen dürfen in das Bewußtsein der sich einigenden Völker nicht als legitimes Mittel der Politik eingehen. Deshalb muß auch die Vertreibung der Sudetendeutschen als solche verurteilt werden und nicht nur ihre unmenschliche Durchführung. Dieses Ziel ist vor allem zum künftigen Schutz kleinerer Völker, z. B. auch der Tschechen, wichtig. Wenn deutsche und tschechische Politiker zu Beginn der Balkantragödie aufgrund der spezifischen Erfahrungen beider Völker gemeinsam die Weltöffentlichkeit vor dem Wahnsinn der ethnischen Säuberungen gewarnt hätten, dann hätten sie wohl die serbische Aggression nicht verhindert, aber sie hätten gezeigt, daß sie aus der Geschichte etwas gelernt haben.

2. Die Erfahrung der Vertreibung sollte die tiefe Überzeugung von der Unteilbarkeit der Menschenrechte und der Solidarität der Opfer zur Folge haben. Unrecht muß als solches bezeichnet werden, ob es von oder an Deutschen, ob es von oder an Tschechen begangen wird. Deshalb dürfen wir nicht in einer Nabelschau auf das erlittene Unrecht gefangen bleiben. Menschen, die heute von ethnischen Säuberungen oder Abschiebungen betroffen werden, verdienen unseren ganz besonderen Einsatz.

3. Der deutsche Beitrag an der Geschichte und Kultur der böhmischen Länder darf nicht weiter verdunkelt werden. Es ist oft enttäuschend, wie auch kirchliche Stellen, Bischöfe und Orden in geschichtlichen Rückblicken die vielhundertjährige Tätigkeit deutscher Bewohner ihrer Regionen übergehen. Mit Václav Havel ist zu hoffen, daß die deutsch-tschechische Erklärung uns für die Wahrheit befreit und die Historiker nicht mehr „unangenehmen Fakten nur deswegen ausweichen müssen, weil deren Beschreibung ungute politische Konsequenzen haben könnte“ (Rede vor dem Deutschen Bundestag am 24. April 1997)

Ein Blick auf verbliebene Möglichkeiten und Aufgaben wird den Rückblick auf verpaßte Möglichkeiten nicht umgehen können.

Obgleich wir Sudetendeutschen stets mehr Objekt als Subjekt politischer Eintscheidungen waren, so haben wir doch durch unsere Haltung auf den Gang der Dinge eingewirkt. Manche Einschätzungen lassen sich im Rückblick auch nur deshalb abgeben, weil es Menschen gab, die damals, als die Ereignisse ihren Lauf nahmen, gegen die Mehrheit ihre Überzeugung kundtaten.

Manchen Sudetendeutschen fällt auch heute noch die Einsicht schwer, daß um unserer selbst willen die Erste Republik hätte erhalten werden müssen. Wie unvernünftig und verhängnisvoll die Zerschlagung der Donaumonarchie durch die entscheidende Mittäterschaft von Masaryk und Beneš auch war, so hat sie doch die gebotene Unteilbarkeit der böhmischen Länder nicht aufgehoben.

Trotz des berechtigten sudetendeutschen Grolls über die arrogante Machtausübung von seiten der tschechoslowakischeu Politiker war es den weiterblickenden sudetendeutsehen Politikern klar, daß die Amputation der böhmischen Länder (München 1938) eine Herausforderung der Tschechen zu einem Duell auf Leben und Tod war. Der Ausgang ist bekannt.

Die zahlreichen antifaschistischen Flüchtlinge und Emigranten ans dem nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1933 und 1938 haben mit ihren Warnungen leider nur bei einer kleinen Zahl unserer sudetendeutschen Landsleute Gehör gefunden.

Die Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren wurde gar als eine den Tschechen zumutbare Maßnahme aufgefaßt. Den tschechischen und auch den deutschen Verfolgten des Naziregimes wurde wenig Solidarität entgegengebracht.

Nach der Vertreibung war die Volksgruppe erst recht auf das erlittene Unrecht und die Opfer, die von den Tschechen verursacht wurden, fixiert. Wir vergaßen fast völlig die Opfer, die das NS.Regime den Sudetendeutschen zugefügt hatte. Es gab auch zu denken, daß eine weltweit geachtete Gestalt wie Oskar Schindler bei den Sprechern der Volksgruppe wenig Anerkennung fand.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erklärte Präsident Havel: „Die Vertreibung der Sudetendeutschen war eine zutiefst unmoralische Tat.“ Es zeugte von einer bemerkenswerten Borniertheit, die historische Tragweite dieser Aussage zu verkennen und sie unter dem Aspekt der Entschädigung, d. h. des materiellen Vorteils, zu sehen.

Die Reihe der verpaßten Gelegenheiten ist für die Tschechen nicht weniger bitter als für die Sudetendeutschen. Die Begründer und Verfechter der tschechoslowakischen Idee mußten erleben, daß ihre politische Integrationsfähigkeit nicht nur gegenüber den Sudetendeutschen, sondern auch gegenüber den Slowaken und den Ungarn versagt hat.

Die Diskussionen um die Erklärung haben gezeigt, daß es auf beiden Seiten verbitterte Menschen gibt, die sich als Opfer einer verfehlten Verständigungspolitik verstehen. Es gibt tschechische Naziopfer, die bisher keinerlei Entschädigung erhalten haben. Deutschfeindliche Politiker mißbrauchen ihr Schicksal zu Haßtiraden. Durch die Ausklammerung aller besitzrechtlichen Fragen hat die Erklärung die Verpflichtung des tschechischen Staates verdunkelt, die tschechischen Nazi-Opfer aus dem konfiszierten sudetendeutschen Vermögen zu entschädigen. Die nüchterne, für viele ernüchternde Erkenntnis, daß von der je anderen Seite weder materielle Leistungen noch materielle Forderungen zu erwarten sind, wäre keine schlechte Voraussetzung für eine zukunftsorientierte Zusammenarbeit.

Einerseits ist der deutschen Seite nicht zuzumuten, über die Enteignung des gesamten Besitzes von 3,5 Millionen Sudetendeutschen durch den tschechoslowakischen Staat hinaus weiterhin materielle Aufwendungen zu erbringen, zumal die Beneš-Dekrete als einen Zweck der Enteignung die Entschädigung der tschechischen Nazi-Opfer angaben.

Andererseits ist überhaupt nicht zu erwarten, daß die arm gewordenen Vertreiber den inzwischen zu Wohlstand gekommenen Vertriebenen etwas zurückerstatten werden, zumal die Politik Hitler-Deutschlands für das Zustandekommen sowjetischer Verhältnisse an der Moldau und damit des Verfalls der einst blühenden Wirtschaft – zwar nicht die alleinige – aber doch einen Teil der Verantwortung trägt.

Die sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen sind in einer ständigen Entwicklung. Auch die Erklärung kann nicht als ein Schlußstrich verstanden werden, sondern als eine wichtige Station in einem fortlaufenden Prozeß. Hierbei gibt es bei allen Veränderungen auf beiden Seiten Befindlichkeiten, die ein beachtliches Durchsetzungsvermögen haben. Eine Konstante ist die Empfindung der wechselseitigen Bedrohung.

Die Tschechen sehen sich vom übermächtigen 80-MillionenVolk, zu dem die Sudetendeutschen gehören, bedroht. Die Erfahrung von 1938 bis 1945 war eine schmerzliche Bestätigung dieser Empfindung.

Die Sudetendeutschen verstehen sich wiederum als eine Volksgruppe, die sich in der böhmisch-mährischen Heimat den Tschechen gegenüber in einer Minderheitensituation befand. Die Erfahrungen in der 1. Republik von 1918 bis 1938 und erst recht die nach 1945 verfestigten diese Befürchtungen.

Aus der jeweiligen Angst erwuchs der Haß, der beiden Teilen tiefe Wunden und riesige Verluste zufügte. Es läßt sich darüber streiten, wessen Verluste größer waren.

Die Sudetendeutschen verloren die alte Heimat, gewannen aber in ihrem Volk, im wirtschaftlich geordneten Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland eine neue Heimat und neuen Wohlstand.

Die Tschechen gewannen zwar den Volkstumskampf in Böhmen und Mähren, aber sie hatten während des NS-Terrors von 1938 bis 1945 und während des kommunistischen Terrors von 1948 bis 1990 einen sehr hohen Preis zu zahlen. Mit den von beiden totalitären Systemen hinterlassenen wirtschaftlichen und moralischen Schäden werden sie noch lange zu kämpfen haben.

Die Unfähigkeit, die Vertreibung von 3,5 Millionen, einem Drittel der damaligen Bevölkerung von Böhmen und Mähren, unumwunden als Unrecht zu bezeichnen, gehört zu diesen Schäden und bringt die Tschechen um den entscheidenden Befreiungsschlag gegenüber ihrer jüngsten Vergangenheit. Sudetendeutsche Sprecher, die weiterhin so irreführende Begriffe wie „Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen 1997“, „Entschädigung für das 1945 konfiszierte Eigentum“ u. a. gebrauchen, verfestigen diese Unfähigkeit.

Oft erwecken die sudetendeutsch-tschechischen Kontroversen den Eindruck einer lähmenden Pattsituation:

O Erst wenn die Sudetendeutschen auf Entschädigung verzichten, können wir Tschechen unumwunden die Vertreibung als Unrecht anerkennen.

O Erst wenn die Tschechen die Vertreibung unumwunden als Unrecht anerkennen, können wir Sudetendeutschen auf Entschädigung verzichten.

Unter diesem Aspekt ist die Erklärung zwar nicht der große Durchbruch, so doch ein Schritt in die richtige Richtung. Vaclav Havel macht vom geschaffenen Freiraum auch schnell mutigen Gebrauch: „Wenn ich – sehr wohl wissend warum – vor zwei Jahren nur sagte, daß die aus unserem Land stammenden Deutschen bei uns als Gäste willkommen sind, so kann ich heute ohne Befürchtungen auch hinzufügen, was ich damals nicht sagte: daß sie nicht nur als Gäste, sondern auch als unsere einstigen Mitbürger beziehungsweise deren Nachkommen willkommen sind, die bei uns jahrhundertealte Wurzeln haben und das Recht darauf haben, daß wir diese Verbundenheit mit unserem Lande wahrnehmen und achten“ (Rede vor dem Deutschen Bundestag am 24. 4. 1997).

Die Zukunft der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit kann sicher nicht in einer endlosen Interpretation der etwas verdrechselten Erklärung liegen. Die Zusammenarbeit hatte sich vor der Erklärung schon in vielen Bereichen kräftig entfaltet: Kirchen, Wirtschaft, Kunst, Literatur, Sport, Ökologen und viele andere haben in tschechischen Nachbarn jenseits der Grenze oft die besten Partner gefunden.

Diese zukunftsorientierte Zusammenarbeit wird um so aussichtsreicher sein, je dringlicher die Aufgaben sind, denen sie sich stellt.

Katholischer Arbeitskreis für zeitgeschichtliche Fragen im Auftrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken; Bonn, 10. Juni 1997
Quelle: ISBN 3-87336-015-2 Gerhard-Hess-Verlag Ulm 2000