Adolf Hampel
WAS IST MIT DEN DEUTSCH-TSCHECHISCHEN BEZIEHUNGEN LOS?
Wenn es mit den deutsch-tschechischen Beziehungen nicht vorangeht, darin ist das nicht einfach die Schuld der heutigen Politiker. Ein hoher Prozentsatz der betroffenen Bevökerung nimmt tatsächlich einander diametral entgegengesetzte Positionen ein. Die Mehrzahl der Tschechen hält die Vertreibung der Sudetendeutschen für eine adäquate Maßnahme nach den Leiden, die die Deutschen ihnen in der Protektoratszeit zugefügt haben. Selbst Präsident Havel bezeichnet die Vertreibung als einen „legitimen Rechtsakt“. Die Mehrzahl der Deutschen hält dagegen die Vertreibung für ein Verbrechen – zumal die Tschechen im Protektorat sehr glimpflich davon gekommen seien.

Trotz dieser weitverbreiteten Positionen gibt es in beiden Völkern Einzelne und Gruppen, die sich für eine Annäherung und, wenn möglich, für eine Versöhnung einsetzen. Jahrelang, ja jahrzehntelang haben sie die gemeinsame lange Geschichte mit den Perioden friedlichen Zusammenlebens beschworen, um einander näherzukommen. Inzwischen sind alle Winkel der deutsch-tschechischen Erfahrungen ausgeleuchtet, Gewissensforschungen betrieben und artikuliert worden – oft zum Ärger der weniger versöhnungsbereiten Landsleute. Meistens gelingt es besser, und es ist auch leichter, die Fehler, das Versagen oder gar die Verbrechen der Gegenseite aufzuspüren und zu nennen.

Vorwürfe an die tschechische Seite
Einem Sudetendeutschen kommen schnell die dunklen Punkte und Verhaltensweisen der Tschechen in den Sinn: Mit welchem Recht wurden wir 3 Millionen Deutsche in Böhmen, Mähren, Schlesien nach über siebenhundert Jahren Anwesenheit im Lande immer noch als Gäste betrachtet, die durch schlechtes Verhalten ihr Heimatrecht verwirken können? Haben sich nicht auch viele Tschechen – die mit den Nazis kollaboriert haben, die die Kommunisten gewählt haben, die den kommunistischen Terror durchgeführt haben – schlecht verhalten, und doch wurden sie nicht ausgewiesen. War das Verhalten der Slowaken Hitler gegenüber sehr viel besser? – und doch kam niemand auf den Gedanken, sie zu vertreiben.

Die Tschechen betrachten die Degradierung ihres Staates zu einem Protektorat als die große Demütigung, waren aber andererseits nicht bereit, den Sudetendeutschen einen Protektoratsstatus innerhalb der Tschechoslowakei zu gewähren.

Die als demokratischer Staat wiedererstandene Tschechoslowakei hat nach 1945 die Sudetendeutschen schlechter behandelt als die Tschechen vom totalitären nationalsozialistischen Regime behandelt worden waren. 1945 dachte die Masse der Sudetendeutschen: Wenn es uns in den nächsten Jahren so gehen wird, wie es den Tschechen zwischen 1938 und 1945 gegangen ist, dann wird das nicht angenehm, aber es wird auszuhalten sein. Nur wenige hatten Angst. Viele, die zunächst vor der Front geflüchtet waren, kehrten in ihre Heimat zurück.

Der verhältnismäßig geringe tschechische Widerstand während der Protektoratszeit und die unerwartete Heftigkeit des Hasses gegen alles Deutsche nach Kriegsende legt die Vermutung nahe, daß auf tschechischer Seite ein Nachholbedarf an antideutscher Tätigkeit bestand.

Wer gab den Tschechen das Recht, auf die Sudetendeutschen nach 1945 die nationalsozialistischen Judengesetze anzuwenden, wo sie sich doch ansonsten nicht besonders solidarisch mit den Juden gezeigt haben. Weshalb werden diese Praktiken heute immer noch verschwiegen? Wo bleibt da die Vergangenlheitsbewältigung?

Wann, wo und gegen wen wurde schon ein Prozeß wegen Verbrechen an Sudetendeutschen geführt? Selbst wenn man sich über die Zahl der Opfer nicht einigen könnte, an Materie würde es auch bei den geringsten Zahlenangaben nicht fehlen.

• Die unterbliebene Entschadigung der tschechischen Naziopfer wird als Versäumnis Deutschlands gebrandmarkt, obwohl der tschechoslowakische Staat den Besitz von drei Millionen Sudetendeutschen entschädigungslos konfisziert hat, unter anderem auch mit der Begründung, daß damit die tschechoslowakischen Naziopfer entschädigt werden sollten.

... und an die Adresse der Sudetendeutschen
Niemand soll glauben, daß einem Tschechen nicht ebenso viele triftige Punkte in den Sinn kämen, die den sudetendeutschen Gesprächspartner in Verlegenheit bringen könnten:

• Sudetendeutsche werfen Thomas Masaryk vor, daß er die von ihm geschaffene Tschechoslowakei nicht – wie versprochen – zu einer zweiten Schweiz gemacht habe. Ihr Wunsch nach Schweizer Verhältnissen war aber schnell verflogen, als sie die Möglichkeit bekamen, sich dem nationalsozialistischen Regime anzuschließen, und das 1938, als der antihumanitäre und antidemokratische Charakter dieses Staates kein Geheimnis mehr sein konnte. Wie tief und ehrlich war demnach der Wunsch nach Schweizer Verhältnissen?

• Sudetendeutsche werfen den Tschechen vor, daß sie 1918 ihr Selbstbestimmungsrecht nicht geachtet haben, niachen sich aber wenig Gedanken darüber, daß einer durch den Anschluß der Sudetengebiete an das Deutsche Reich amputierten Tschechoslowakei überhaupt die Selbstbestimmungsmöglichkeit genommen wurde.

• Sie protestierten zurecht und haben es auch heute noch nicht vergessen, daß tschechisches Militär auf deutsche Demonstranten schoß. Wie laut aber waren ihre Proteste, als nach dem Anschluß 1938 an die 15.000 sudetendeutsehe Landsleute in nazistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen verschwanden? Am 4. März wird der sudetendeutschen Opfer des tschechischen Terrors gedacht. Welcher Tag ist den sudetendeutschen Naziopfern gewidmet? Mit Sicherheit sind mehr Sudetendeutsche von den Nazis getötet worden als von den Tschechen in der ersten Republik. Die spontane oder gesteuerte Einpörung der Volksgruppe richtet sich aber viel stärker gegen die tschechische Regierung als gegen die Nazis. Als mit dem Film „Schindlers Liste“ ein Sudetendeutscher Beachtung in der ganzen Welt fand, wurde diese Gestalt von der Führung der Sudetendeutschen Landsmannschaft kaum beachtet.

• Sudetendeutsche reagierten sehr empfindlich auf die tschechische Schulpolitik in der ersten Republik, fanden es aber gar nicht tragisch, daß im Protektorat alle tschechischen Hochschulen und Universitäten geschlossen wurden. Wie viele Sudetendeutsche haben es als unerträglichen Skandal empfunden, daß es in Prag in der Protektoratszeit eine deutsche Universität, aber keine tschechische Universität gab? Der Verweis auf die noch viel schlimmere Lage in Polen kann ihre Harmonie mit dem nationalsozialistischen Regime doch nur noch bedenklicher erscheinen lassen.

• Die Verbitterung der Tschechen durch den Naziterror wurde nicht nur durch die erlittenen Ereignisse, sondern auch durch die nazistischen Pläne verursacht. Ihnen nach sollte der gesamte böhmisch-mährische Raum – mit oder ohne Tschechen – germanisiert werden.

Die Argumentationsreihen ließen sich auf beiden Seiten fortsetzen. Dadurch käme aber kaum ein Wandel in der Haltung zueinander zustande. Die Selbstwahrnehmung weicht meist erheblich von der Eremdwahrnehmung ab.

Gefühle und Gedanken der anderen ernst nehmen!
Wer wegen der „Uneinsichtigkeit“ des Gesprächspartners aufgeben will, sollte – ehe er völlig resigniert – versuchen, sich in die Lage seines Gegenübers zu versetzen.

Zunächst sollten wir Deutschen und fragen: Wie wirken wir als inzwischen wiedervereintes 80-Millionen-Volk mit unserem wirtschaftlichen Gewicht im allgemeinen auf unsere Nachbarn? Viele Länder lassen sich in ihrer Europapolitik von der bangen Frage leiten: Wie kann am wirksamsten eine deutsche Hegemonie in Europa verhindert werden – durch Intensivierung oder durch Boykottierung des Einigungsprozesses? Wenn, wie im Fall der Tschechischen Republik, noch eine ungeklärte Vergangenheit hinzukommt, dann ist eine Verkrampfung in den Beziehungen leicht möglich.

Es ist nicht erstaunlich, von Tschechen zu hören: Es war nicht besonders angenehm, die gleichen Sudetendeutschen, die wir aus dem Land verwiesen hatten, nach zwei Jahrzehnten als wegen ihres Wohlstandes und ihrer Freiheit zu beneidende Besucher bei uns als Touristen begrüßen zu müssen. Wer hat uns zu dieser Verzweiflungstat gezwungen, ein Drittel unserer Bevölkerung zu entrechten und zu verjagen? Wer hat uns in die Arme eines totalitären Regimes gebracht, eines Regimes, das unsere blühende Wirtschaft ruiniert hat, das uns zu Bittstellern derer gemacht hat, die wir enteignet und verjagt haben? Wenn nicht ihr Deutschen! Ohne die verbrecherischen politischen Abenteuer Deutschlands wären die Sowjets nie an die Moldau gekommen.

Ist es nicht empörend, daß ihr uns nun offen oder verdeckt – aber unmißverständlich und für uns äußerst schmerzlich – droht, unser Verlangen, in die Europäische Union und in die Nato aufgenommen zu werden, zu torpedieren? Aber auch die Versicherung eurer Politiker, dieses unser Verlangen bei euren jetzigen Verbündeten zu befürworten, ist für uns ebenfalls demütigend. Wenn wir von der Angst der europäischen Finanzmärkte vor der Geldpolitik der Bundesbank hören, sehen wir überdeutlich: Ohne die Deutschen läuft nichts in Europa.

Ist es uns zu verübeln, daß wir vor diesem Nachbarn Angst haben? Ihnen gegenüber sollen wir bekennen, daß ihre Vertreibung aus unserem Land ein Verbrechen war? Wenn wir das erst tun, wer schützt uns dann vor ihren Entschädigungsforderungen? Die Flucht rnancher Teilnehmer der deutscht-schechischen Gespräche aus der bilateralen Verantwortung zu internationalen Instanzen kann keinen Weg aus der Sackgasse zeigen. Die Feststellung, daß die Vertreibung durch das internationale Potsdamer Abkommen Legitimität erlangt habe, wird durch die Retourkutsche „Auch das Münchner Abkommen hatte internationalen Charakter“ entwertet.

Befreiender als die Bemühung internationaler Gremien könnte ein Rollentausch zwischen den deutschen und tschechischen Gesprächspartnern wirken. Wenn die Deutschen die Unrechtstaten gegen die Tschechen und die Tschechen ihre Vergehen gegen die Deutschen zu artikulieren wüßten, kämen wir wahrscheinlich im gegenseitigen Verständnis etwas weiter,

Als Resultat dieses Rollentausches könnte wohl die Erkenntnis stehen: Die Vergewaltigung eines Staates undVolkes, wie durch das Münchner Abkommen1938 geschehen, und die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945/46 sind als politische Verbrechen von beiden Seiten anzuerkennen. Sie dürfen nicht als legitime Mittel der Politik in das Bewußtsein der europäischen Völker eingeben. Ansprüchen auf materielle Entschädigung hinüber und herüber kann nicht stattgegeben werden.

Den Deutschen, die an Schuldbekenntnisse gewöhnt sind, mag diese Einsicht leichter fallen als den Tschechen, deren Selbstverständnis als Hüter der Demokratie und der Menschenrechte in Mitteleuropa dadurch seine Unschuld verlieren würde. Es könnte aber auch eine Befreiung darstellen, wenn sie ihre krampfhaft verteidigte Opferrolle aufgäben. Sie sollten Vertrauen gewinnen in die Verheißung: Die Wahrheit wird uns frei machen.

Katholischer Arbeitskreis für Zeitgeschichtliche Fragen im Auftrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken; Bonn, 1996-05-15.
Nach der Wiedergabe in ISBN 3-87336-015-2. Gerhard Hess Verlag Ulm 2000.