Tröstet, tröstet mein Volk!
Die Kirchen und die Integration der Vertriebenen.
Von Prof. Dr. Rudolf Grulich
Der Wahlerfolg der radikalen Hamas in Palästina hat die demokratische Welt aufgerüttelt:
Fast 60 Jahre nach Flucht und Vertreibung Hunderttausender Araber aus dem 1947 geteilten
Palästina sind nach Jahren der Verhandlungen und Hoffnungen die Radikalen im Nahen Osten
wieder im Kommen, auch bei demokratischen Wahlen. Genau 60 Jahre nach der Vertreibung von
15 Millionen Ostdeutschen aus ihrer angestammten und von ihnen seit Jahrhunderten
aufgebauten Heimat darf und muß man fragen, warum es im zerstörten Deutschland der
Nachkriegszeit nicht zur Radikalisierung der Vertriebenen gekommen war. Bekanntlich hatten
die Tschechoslowakische und die Polnische Exilregierung in London schon unmittelbar nach
Kriegsbeginn Vertreibungsplä
Unqualifizierte Vorwürfe
Die Frage, warum sich Stalin verrechnete, und eine Antwort darauf tun Not, denn in der
Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung vom 19. Januar hat ein bekannter Gegner der
Vertriebenen wie Micha Brumlik erneut gehässig und ignorant die Charta der Vertriebenen
verhöhnt und vom Bund der Durchtriebenen gesprochen, der weltanschaulich
unbelehrbar sei. Schon 1950 hätten die Vertriebenen zu ihrer Charta kein Recht gehabt.
Der BdV solle die bis heute zu Unrecht gefeierte Charta aus dem Jahre 1950 außer
Kraft setzen und ins Archiv nehmen. Die von den Funktionären der
Heimatvertriebenen und mit ihnen sympathisierenden Politikern ob ihrer Versöhnlichkeit
gepriesene Charta stellt in Wahrheit eine Ungeheuerlichkeit dar, den Inbegriff all dessen,
was jemals als »Unfähigkeit zu trauern« gelten konnte.
Es bleibt rätselhaft, daß eine jüdische Wochenzeitung solches drucken konnte, da im
Kuratorium der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« auch namhafte jüdische Vertreter
sitzen. Die Vertriebenen hatten 1950 nicht nur das Recht, sondern die Pflicht! Die
Unterzeichner der Charta, das waren die Sprecher aller Landsmannschaften der Vertriebenen,
haben damals betont, daß es heißt, den Menschen im Geist zu töten, wenn er im Zwang von
seiner Heimat getrennt wird. Sie versprachen, jedes Beginnen mit allen Kräften zu
unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die
Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Sie riefen die Völker der Welt auf,
ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen zu empfinden und zu erkennen, daß
dieses Schicksal ein Weltproblem sei, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und
Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordere.
Die Charta von 1950 verlangte auch: Die Völker sollen handeln, wie es ihren
christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht. Wir sind auch nach einem
halben Jahrhundert nicht so pessimistisch, zu glauben, Deutschland und Europa hätten kein
Gewissen mehr. Aber die Gegner des Bundes der Vertriebenen, selbst Kirchenmänner wie der
Berliner Kardinal Sterzinsky, wissen nicht mehr, daß es die Kirchen waren, die damals im
zerstörten Deutschland den Weltfrieden retteten. Die Radikalen unter einer knappen
Million vertriebener Palästinenser haben über ein halbes Jahrhundert die Welt in Atem
gehalten, ja direkt und indirekt zu neuen Nahostkriegen geführt. Die Tausende von
ostdeutschen Priestern, die mit ihren Gläubigen 1945/46 vertrieben wurden, predigten
schon in den Massenlagern, was 1950 auch die Charta ausdrückte: Gedanken der Rache
sollen nicht Macht gewinnen über unsere Herzen. So kam es zu keinem
mitteleuropäischen Gazastreifen, zu keiner deutschen Westbank, in der die Vertriebenen in
Lagern blieben, sich von der UNRRA versorgen ließen und ein riesiges Pulverfaß und eine
Bedrohung des Weltfriedens bildeten.
Schon am Anfang stand Versöhnung
Im Gegenteil, schon seit 1945 bemühten sich die Kirchlichen Hilfsstellen in Frankfurt und
München, die Vertriebenen nicht nur zu betreuen, sondern auch zu sammeln. Da politische
Vereinigungen der Vertriebenen von den Besatzungsmächten verboten waren, gaben
Gottesdienste und Wallfahrten einen kirchlichen Freiraum, um sich mit ebenfalls
vertriebenen Landsleuten zu treffen. So kam es schon am 6. Januar 1946 in München zur
Gründung der sudetendeutschen Ackermanngemeinde, der das Hilfskomitee der evangelischen
Karpatendeutschen ebenso folgte wie der Hilfsbund der katholischen Karpatendeutschen und
ähnliche Vereinigungen katholischer und evangelischer Vertriebener.
Hand in Hand ging schon damals das Bemühen, eine neue Nachbarschaft mit den Völkern des
Ostens aufzubauen. Schon 1947 boten die vertriebenen Danziger Katholiken bei ihrem ersten
Treffen in Gemen den Polen die Hand zur Versöhnung. Die Arbeit dieser kirchlichen
Hilfsstellen geschah auf christlicher, insbesonders biblischer Grundlage.
Foto: Pater Werenfried van Straaten, Gründer der Ostpriesterhilfe, verteilt
Süßigkeiten und Heiligenbildchen an Vertriebenen-
Tröstet, tröstet mein Volk! Diese Worte des alttestamentlichen Propheten
nach der Vertreibung des Volkes Israel und seinem Elend im Babylonischen Exil standen
über dem Wirken jener Heimatpriester, die zu Tausenden mit ihren Gläubigen das Schicksal
der Vertreibung trugen.
Sie muteten ihren Gläubigen zu, das Vertreibungsschicks
Es galt seit Kriegsende, die vertriebenen Priester zu erfassen, sie materiell zu betreuen,
sie in der Seelsorge für die Vertriebenen effizient einzusetzen und vor allem im
kirchlichen Bereich bei den Einheimischen Verständnis und Unterstützung für die
Vertriebenen zu gewinnen. Daß dies geschah, zeigen die Hirtenbriefe deutscher Bischöfe
zu dieser Problematik. Pater Paulus regte die Bestellung von Flüchtlingsseelsorge
Von ihm stammt das Sühne- und Gelöbnisgebet
Dieser Gerechtigkeit Gottes wollte er auch das Urteil über Recht und Gerechtigkeit der
humanen Evakuierung aus der alten Heimat überlassen: Es hat schon
manchmal humane Einrichtungen gegeben, die Hinrichtungen blieben. So bleibt die humanste
Ausweisung eine Ausweisung, und die ist immer etwas furchtbar Hartes. Pater Reimann
hatte klare Aussagen über die selbstverständliche Pflicht der austeilenden
Gerechtigkeit und setzte sich daher für einen gerechten Lastenausgleich ein. Er
sprach immer wieder von der Sünde der Ungerechtigkeit
Foto: 1950 Geistlicher Hunger, gespanntes Interesse und Ergriffenheit zeichnen
sich auf dem Antlitz dieser Frauen ab, die 1950 nach Vertreibung und Jahren voller Elend
im Exil unter der Zeltplane eines Kapellenwagens wieder das tröstende Wort eines
Priesters vernehmen.
Bewältigung der Vertreibung durch Versöhnung
Initiiert von Prälat Albert Büttner, dem Leiter der deutschen Auslandsseelsorge vor und
während des Krieges und der Kirchlichen Hilfsstelle in Frankfurt, entstanden als
Vaterhaus der Vertriebenen seit 1946 in leerstehenden Kasernen in Königstein
im Taunus die Königsteiner Anstalten mit einem Priesterseminar und einem Gymnasium für
die vertriebenen Theologen aus dem Osten. Daraus ging das Albertus-Magnus-
Er sprach später immer wieder von vier Etappen der Bewältigung der Vertreibung:
* Die Zeit der Losung des Propheten Isaias Tröstet mein Volk zur Überwindung
der materiellen Not.
* Die Zeit der geistig-geistlichen Aufarbeitung der Tragödie der Vertreibung, der
theologischen Bewältigung des den Vertriebenen auferlegten Schicksals.
* Die Zeit der Überwindung und des kommenden Zusammenbruchs der kommunistischen Ideologie
und
* die Zeit der Versöhnung mit den Völkern Osteuropas.
Kindermann war seiner Zeit voraus und ein Prophet. Wenn er vom Ende der kommunistischen
Herrschaft sprach, wurde er verlacht. Als er zum Bischof ernannt wurde, wählte er als
Wahlspruch Contra spem in spem!
Hoffen wider alle Hoffnung. Daß dies möglich war, hatte ihm sein Freund, der
holländische Prämonstratenserpate
Für ihn war der Beschluß der Konferenz von Potsdam, alle Deutschen aus Polen, der
Tschechoslowakei und Ungarn auszusiedeln, eine Erbsünde der Nachkriegszeit. Er
organisierte die Kapellenwagenmissio
60 Jahre nach den organisierten Massenvertreibungen sollten wir noch mehr an diese
Europäer erinnern. Die Vertriebenen haben die Verbrechen der Nationalsozialisten niemals
geleugnet oder bagatellisiert, stellte der Vorsitzende der Sudetendeutschen
Landsmannschaft, Bernd Posselt, bei der 60-Jahrfeier der Ankunft des ersten organisierten
Vertriebenentranspo
Für die katholischen Vertriebenen war es deshalb im Vorjahr eine große Freude, als
Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde. Über ein Jahr ist Papst Benedikt XVI.
nun in seinem Amt. Er werde es schwer haben, da niemand an Karol Woityla heranreiche, den
großen Papst, der den Kommunismus besiegen half.
Aber Johannes Paul II. hatte in Kardinal Ratzinger, dem Präfekten der Glaubenskongregatio
Viele Vertriebene aus dem Osten erinnern sich an Ratzingers Predigt beim Festgottesdienst
des Sudetendeutschen Tages 1979 in München:
Liebe Brüder und Schwestern aus dem Sudetenland
Ratzinger erwähnte auch Bischof Johann Nepomuk Neumann und den letzten deutschen
Weihbischof von Prag, der ebenfalls diesen Namen trug: den Egerländer Johann Nepomuk
Remiger, der in der Gruft des Münchner Doms seine letzte Ruhe fand. Das kostbarste
Erbe der Heimat ist der Glaube. Wo er lebt, da ist die Heimat unverloren.
Eine Liebe, die den Verzicht der Wahrheit voraussetzt, ist keine wahre Liebe.
Schon als Erzbischof von München und Freising hat Papst Benedikt XVI. daran erinnert, das
Leid der Vertriebenen nicht zu vergessen.
Diese Predigt auf dem Sudetendeutschen Tag war keine Eintagsfliege im pastoralen Wirken
des neuen Papstes. Im gleichen Jahr gedachte er damals in Gottesdiensten der heiligen
Dorothea von Montau und der heiligen Hedwig. Bei der Priesterweihe am 30. Juni 1979
stellte er den Neupriestern Maximilian Kolbe vor Augen, den polnischen Märtyrer in
Auschwitz, dessen Vater und Mutter in Mähren geboren sind. Ein Predigtband, den 1981 das
Erzbischöfliche Pressereferat unter dem Titel Christlicher Glaube und Europa
herausgab, ist Zeugnis, daß Ratzinger im Geiste Johannes Paul II. Europa als Einheit von
Ost und West sieht.
Für viele war auch der selbstgewählte Name des neuen Papstes eine Überraschung:
Benedikt XVI. Der letzte Träger dieses Namens Benedikt XV. war der Friedenspapst des
Ersten Weltkrieges, der 1917 mit dem 2004 seliggesprochenen Kaiser Karl bemüht war, der
Selbstzerfleischung der Völker Europas ein Ende zu machen. Die Amerikaner waren noch
nicht in den Krieg eingetreten, in Rußland gab es noch nicht einmal die
Februarrevolution. Auch die Verbündeten in der Türkei und in Bulgarien wollten ein Ende
des Krieges. Der Friede scheiterte an der Uneinsichtigkeit Kaiser Wilhelms II. Der Papst
aber führte seine Friedensbemühungen und seine Versöhnungsbotschaft bis zu seinem Tode
1922 konsequent weiter.
Prof. Dr. Rudolf Grulich 2006