Nicht in die Etappe!
Zur Debatte: Bundesregierung sollte sich beim Kampf gegen Vertreibungen engagieren
Von Peter Glotz

Viel Feind, viel Ehr? Dieser Spruch ist mir in den letzten Tagen zweifelhaft geworden. Mein Leben lang habe ich versucht, Kontroversen als Chance zur Aufklärung zu nutzen. Dabei will ich auch bleiben. Die Diskussion, die die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen – deren Mitvorsitzender ich bin – in Tschechien, vor allem aber in Polen ausgelöst hat, ist allerdings so gefühlsgeladen und aggressiv, daß man sich zu fragen beginnt, ob man die Beziehung dieser Völker zu uns Deutschen falsch eingeschätzt hat.

Natürlich: Die deutschen Verbrechen in Mittelosteuropa zwischen 1939 und 1945 waren so schauerlich, daß man sich nicht „wundern“ darf. Auch sollte man nicht alle kritischen Äußerungen in einen Topf werfen. Die Einwände des Fürsten Karl Schwarzenberg in Prag, des Publizisten Adam Kremenski oder des Diplomaten und Politologen Janusz Reiter in Warschau sind rational, man kann aus ihnen lernen. Andere Äußerungen (zum Beispiel des früheren polnischen Außenministers Wladislav Bartoszewski) sind zwar hochemotional, aber doch versteh- und beantwortbar. Wieder andere sind allerdings populistisch, giftig und bösartig. Die 1943 geborene Erika Steinbach – die andere Vorsitzende der Stiftung und die Vorsitzende des Bundesverbands der Vertriebenen – in eine SS-Uniform zu stecken und einem dümmlich dargestellten deutschen Kanzler auf den Rücken zu setzen, ist ziemlich bodenlos. Leider ist diese Fehlleistung des Magazins „Wprost“ zwar die schlimmste, aber nicht die einzige publizistische Entgleisung.

Das eigentlich Irritierende ist aber nicht diese Emotionskommunikation des polnischen Boulevards, sondern die Harthörigkeit vieler Diskussionsteilnehmer. Erika Steinbach und ich haben hunderte Male darauf hingewiesen, daß wir nie daran gedacht haben, die Vertreibung der Deutschen aus ihrem politischen Kontext zu lösen. Wir haben genauso oft klar gemacht, daß jeder Vergleich der Vertreibung der Deutschen mit dem Holocaust abwegig wäre. Der organisierte Judenmord stellt eine andere Dimension mörderischer Gewaltsamkeit dar als die Vertreibung der Deutschen. Wir haben vor allem immer wieder auf den Plural im Namen des geplanten Zentrums hingewiesen. Es geht uns nicht nur um die Vertreibung der Deutschen, sondern um Vertreibung an sich. Die Vertreibung der Armenier 1915 oder der Kosovo-Albaner in den neunziger Jahren gehört genauso zum Thema.
Die einzig sichtbare Aktivität des Zentrums war bisher die Verleihung von Menschenrechtspreisen, die nach dem jüdischen Prager Schriftsteller Franz Werfel benannt sind. Und an wen gingen sie? An die Armenier und eine tschechische Versöhnungsinitiative. All das hat uns nichts geholfen. Auch die Tatsache, daß die unterschiedlichsten Leute – von Ralph Giordano bis zu Graf Lambsdorff, von Rupert Neudeck bis zu Helga Hirsch – einzelne unserer Aktivitäten unterstützen, zählte nicht. Ich selbst habe, als Mitglied des Bundestags ab 1972, die Ostpolitik Willy Brandts vorbehaltlos unterstützt – alles egal. Das Einzige, was offenbar zählt, ist die (wie ich meine: falsche) Politik der Vertriebenenverbände zwischen 1968 und den frühen Neunzigern, die Erika Steinbach zu verändern versucht.

Die naheliegende Reaktion mancher wohlmeinenden und an gutnachbarlichen Beziehungen interessierten Deutschen lautet nun: „Hört auf!“ Man dürfe das Vertreibungsthema nicht berühren, es störe unsere Beziehungen zu Polen und anderen mittelosteuropäischen Ländern. Die Zukunft sei wichtiger als die Vergangenheit.
Diese Parole ist sicher richtig. Aber kann man eine gute Zukunft auf Verschweigen, Halbwahrheiten, politisch korrektem Gesäusel aufbauen?
Nein. Der Streit um dieses Zentrum hat auch eine symptomatische Seite: Er zeigt, daß wir mit dem Dialog noch nicht so weit sind, wie wir nach so vielen Jahrzehnten des versuchten Brückenschlags sein sollten.

Die jetzige Debatte muß gewendet werden, das ist wahr. Der ursprüngliche Plan des Zentrums gegen Vertreibungen muß verändert, die Gegenargumente der Kritiker müssen – wo es denn Argumente sind – berücksichtigt werden. Wir sind zu jedem Dialog bereit. Ohne Hilfestellung und Moderation wird solch ein Dialog allerdings nicht funktionieren. Leider vermitteln wichtige Repräsentanten der Politik nicht, sie entziehen sich.

Ich war ein Vierteljahrhundert in der Politik, ich neige nicht zu wehleidiger Verwunderung. Der Bundespräsident hat mit seiner Rede auf dem Tag der Heimat vor wenigen Tagen ein Beispiel für eine abwägende, diplomatisch kluge Haltung gegeben. Der Bundesinnenminister hat im selben Sinn, unpolemisch und intellektuell souverän, reagiert. Was will man mehr? Um es klar zu sagen: einen Kanzler und einen Außenminister, die eine Initiative „gegen Vertreibungen“ aus ihrem Land nicht einfach ablehnen, sondern aufnehmen – vielleicht nicht so, wie sie ist, aber so, wie sie sie für möglich halten. Würde die Bundesregierung unseren Vorschlag aufgreifen, könnte sie Bedingungen stellen. Sie könnte eine noch stärkere Europäisierung verlangen, Partnerländer einbeziehen, den Standort diskutieren. Sie sollte aber auch den pauschalen Verdacht gegen Berlin abwehren und dem Eindruck entgegenwirken, als ob die unschuldigen (ich wiederhole: die unschuldigen) deutschen Opfer der Jahres 1945/1946 unerwähnt und unbetrauert bleiben müßten, weil Adolf Hitler einer der schlimmsten Verbrecher der Weltgeschichte war.

Vertreibung ist ein Verbrechen. Den Deutschen, die in der Nazi-Zeit selbst vertrieben haben und Vertreibungen im großen Stil planten, stünde es gut an, sichtbar gegen Vertreibungen zu kämpfen. Eine rot-grüne Regierung gehört in solch einem Kampf an die vorderste Front, nicht in die Etappe einer zahnlosen politischen Korrektheit.

Unser Autor, Peter Glotz, zählt zu den wichtigsten Vordenkern der SPD.
Er vertrat im vergangenen Jahr die Bundesregierung im europäischen Konvent und lehrt Kommunikationswissenschaft in St. Gallen in der Schweiz.

Quelle: Berliner Morgenpost/Onlineausgabe (2003-09-21)