Süddeutsche Zeitung 2003-07-17
Ein böhmisches Requiem
Ein Gespräch mit Peter Glotz über sein demnächst erscheinendes Buch „Die Vertreibung“

Während der Streit um das von Erika Steinbach, Peter Glotz und anderen Initiatoren für Berlin geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ hohe Wellen schlägt (siehe SZ vom 15.und 16.Juli 2003) redigiert Peter Glotz gerade die Endfassung eines neuen Buchs, das am 22. September bei Ullstein erscheinen wird. Unter dem Titel „Die Vertreibung – Böhmen als Lehrstück“ schildert es die lange Vorgeschichte der Feindschaft von Deutschen und Tschechen, die 1945 in der Vertreibung aus Böhmen – die Glotz selbst als Junge miterlebt hat – ihr blutiges Ende fand. Wir fragten Peter Glotz nach der Absicht und der Argumentation seines Buchs.

SZ: Herr Glotz, was hat Sie zum Historiker gemacht?

Glotz: Es ist nicht mein erstes historisches Buch. Ich habe im Jahr 1990 ein Buch publiziert, „Der Irrweg des Nationalstaats“, das sich historisch mit der Theorie und der Genese der Nation auseinandersetzte.

SZ: Was wollen Sie in Ihrem neuen Buch zeigen?

Glotz: Ich will vor allem den Mechanismus der Verfeindung zeigen. Es handelt sich ja bei den Deutschen in Böhmen um Menschen, die dort teilweise seit dem 13. Jahrhundert gelebt haben, also durch viele Jahrhunderte hindurch und mit vielen Konflikten, die im ersten Kapitel meines Buches beschrieben sind. Aber eben doch nicht mit der fürchterlichen Heftigkeit, mit der das Ganze dann 1938 losbrach. Wie so etwas entsteht, also die Entwicklung von den Frühnationalen, den „Erweckern“, die sich eigentlich ganz lieb um Volkslieder kümmern und um Identität, also von den Palackys hin zu den Schönerers und Luegers – auf deutscher Seite – und wie es dann endet, zuerst im Protektorat und dann in der Vertreibung, also in Mord und Totschlag.

SZ: Obwohl sie betonen, daß diese Verfeindungsgeschichte sehr früh beginnt und sehr alte Wurzeln hat, setzen Sie doch erst 1848 ein. Was ist der Grund dafür?

Glotz: Weil der eigentliche Nationalismus erst in der Folge des Jahres 1848 entsteht. Das hängt zusammen mit der Absicht der deutschen Protagonisten, ihrem Bestreben, Böhmen an ein Großdeutschland anzuschließen, was den Tschechen natürlich völlig gegen ihr böhmisches Staatsrecht ging. Also im Grunde entstehen die Motive nach 1848, und die harten Nationalisten bekommen erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Sprache und Macht.

SZ: Wer sind die geistigen Väter dieses Nationalismus?

Glotz: Fast wäre ich versucht zu sagen: Herder, obwohl ich nicht bereit bin, die geistige Linie von Herder zum Holocaust zu ziehen. Aber man darf nicht vergessen, daß diese paar Seiten über die slawischen Völker bei Herder tiefgehende Wirkungen auf ganz Europa gehabt haben. Aber das geht natürlich weiter, und es ist schon richtig, wenn die tschechischen Nationalisten Palacky als einen ihrer geistigen Väter ansehen.

SZ: Nun gehen Sie auf der einen Seite diesen geistigen Vaterschaften nach, auf der anderen schreiben Sie: „Verfeindungen beginnen von unten.“ Widerspricht sich das nicht?

Glotz: Was es gegeben hat und was ich schildere, ist, wie sich etwa in einer Stadt durch Zuwanderung die Mehrheiten im Stadtrat ändern. Da sitzen 17 Tschechen und 3 Deutsche, und plötzlich sind sie pari-pari. Da beginnen natürlich Verfeindungen. Aber eine Stimme, eine geistige Grundhaltung bekommen sie erst durch die Geschichtsschreiber, also zum Beispiel durch Palacky – wobei man mit Erstaunen konstatieren muß, daß dessen Böhmische Geschichte zuerst deutsch geschrieben worden ist und daß Palacky sie dann selbst ins Tschechische übersetzt hat.

SZ: Palacky mag zunächst an die europäische Scientific Community gedacht haben, und die sprach eher deutsch als tschechisch. Aber für wen haben Sie jetzt Ihr Buch geschrieben?

Glotz: Es ist schon die Geschichte meines Volkes oder meiner Volksgruppe. Denn als „Reichsdeutsche“ haben wir uns nie gefühlt. Zum Reich unterhielten wir eine herrlich polemische Beziehung, die natürlich von der österreichischen Geschichte geprägt war. Geschrieben habe ich für die Menschen, die das erlebt haben, aber auch für die Kinder dieser Menschen und schließlich für Menschen in anderen Teilen Europas. Nehmen Sie etwa den Balkan, wo das ja ganz ähnlich gelaufen ist, zum Beispiel zwischen Serben und Kroaten.

SZ: Ist das der Sinn des Untertitels „Böhmen als Lehrstück“?

Glotz: Ja, lesen Sie den Epilog: Am Schluß kommt das Exemplarische ganz klar heraus. Es kommt heraus, daß es kein Erstgeburtsrecht auf einen Boden gibt, denn dann hätte man ja die Albaner aus dem Kosovo leicht vertreiben können. Und man darf nicht die berühmte Denkfigur benutzen: Die anderen waren die ersten, die haben angefangen. Deshalb habe ich ja ganz bewußt nicht nur die Vertreibung geschildert, auch nicht nur die direkt davor liegenden Verbrechen im Protektorat, sondern habe versucht, den gesamten Verlauf aus einer noch relativ friedlichen Situation heraus darzustellen. Daraus ziehe ich zum Schluß 12 Folgerungen, die auch anwendbar sind auf die Konflikte zwischen Letten und Russen oder diejenigen zwischen Kurden und Türken.

SZ: Trotzdem hat Ihr Buch natürlich in erster Linie den immer wieder aufflackernden Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen zum Gegenstand. Können Sie sich vorstellen, daß dieses Buch eine Übersetzung ins Tschechische erfahren wird?

Glotz: Ja. Auch wenn es bislang noch keinen tschechischen Verleger hat.

SZ: Sie schreiben, die Aufhebung der Beneš-Dekrete sei in völkerrechtlicher Hinsicht gleichgültig. In welcher Hinsicht ist sie es nicht?

Glotz: Ich zitiere da einen Satz des Völkerrechtlers Kimminich, der sagt, es sei eine Frage des Selbstverständnisses des tschechischen Volkes und seiner politischen Klasse, ob sie damit weiter leben wollen oder nicht. Die wirkliche Versöhnung findet ja auf der Ebene der Völker und der Individuen statt, während auf der politischen Ebene furchtbar viele Täuschungsmanöver von beiden Seiten hin und her exerziert werden. Wenn Sie einen wirklichen Versöhnungsprozeß in Gang setzen wollen, dann wäre in der Tat eine tschechische Geste äußerst hilfreich, wie auch immer sie im einzelnen aussieht. Was ich nicht erwarte, ist, daß es eine Entschädigung gibt von tschechischer Seite für uns, also die normalen Bürger. Aber ich habe nichts gegen die Forderung der sudetendeutschen Sozialwerke, daß man an die übrig gebliebenen 2000 Zwangsarbeiter 4,5 Millionen [€uro] verteilt. Entschädigung für alle Vertriebenen lag nie in meiner Absicht, so wie es allerdings die Absicht von manchen ist, die jetzt die Aufhebung der Beneš-Dekrete fordern.

SZ: Im letzten Drittel Ihres Buches gewinnt man den Eindruck, der Untertitel hätte auch lauten können: Gerechtigkeit für Edvard Beneš.

Glotz: Natürlich beurteile ich Beneš anders als etwa die sudetendeutsche Landsmannschaft. Aber ich fälle doch ein sehr hartes Urteil. Die Tschechen werden toben. Denn die Tschechen sind eben dabei, Beneš mit einem Satz zu ehren, der vorher nur ein einziges Mal zur Anwendung gekommen ist: Edvard Beneš hat sich um das Vaterland verdient gemacht. Das gab es früher nur für Masaryk. Sie stellen also Beneš mit Masaryk auf eine Stufe. Er ist aber, wie ich selbst schreibe, der Organisator einer groß angelegten ethnischen Säuberung. Es ist völlig abwegig, was da passiert, diese Beneš-Renaissance. Und in meinem Buch wird auch zum ersten Mal, jedenfalls in Deutschland, so deutlich gesagt, daß er mitverantwortlich ist für die Hinrichtung Tuchatschewskis und daß er die Vertreibung nicht nur vor 39 schon geplant hat, sondern daß einige dieser Massaker bewußt organisiert worden sind. Von Prag konnte man sagen, daran sei tschechischer Volkszorn schuld, für den es ja Gründe genug in den deutschen Kriegshandlungen der letzten Tage gab. Aber für Aussig zum Beispiel oder Postelberg und eine ganze Reihe dieser Verbrechen war nicht Volkszorn die Ursache.

SZ: Worin unterscheidet sich ihr Buch von anderen literarischen Versuchen aus jüngster Zeit, die deutschen Opfer des Krieges zu thematisieren, etwa von Friedrichs Luftkriegsbuch oder Grass’ Novelle von der Flucht aus Ostpreußen?

Glotz: Von Friedrich unterscheidet sich mein Buch insofern, als ich viel früher einsetze. Ich beschreibe einen langen Weg über ein Jahrhundert, und eben nicht nur die Greuel der Vertreibung. Es gibt auch ein kleines Kapitel, das heißt „Die Rohheit der Zeit“ – eine Rohheit, an der natürlich Nazideutschland in hohem Maße schuld war. Mit Grass teile ich sicher dieselbe Motivation. Man kann sich über die ästhetische Qualität des „Krebsgangs“ kritisch äußern, aber das, was er sagen wollte, ist nicht viel anders, als das, was auch ich sagen will.

SZ: Wollten Sie, was sicher auch ein Motiv bei ihm gewesen ist, rechten oder konservativen Kräften zuvorkommen und ein Thema „besetzen“?

Glotz: Nein, so kann man das heute nicht mehr sagen. Die Vertriebenenverbände waren ja nach 1945 nicht rechts, sie waren überparteilich. Das Kippen kam erst mit der Ostpolitik Brandts. Da stand ich auf der anderen Seite. Heute sieht das wieder anders aus, das Klima hat sich sehr verändert.

Interview: Ulrich Raulff
Süddeutsche Zeitung 2003-07-17