Zur übersteigerten Kritik (2007-04) an Oettingers Trauerrede für Filbinger:
http://www.hansfilbinger.de/index.php?kat=DOKUMENTE&ukat=Medien%20I&uukat=Golo%20Mann%201986/2006
(Adresse ist 2007-04-18 nicht zu erreichen gewesen, Ursache konnte ich nicht
klären. ML)
Der Historiker Professor Golo Mann über die Erinnerungen des
ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger Die geschmähte Generation
Ich las das Buch in fünf Stunden der Nacht
Von Professor Golo Mann
Zürich (Prof. Golo Mann in der Welt am Sonntag, 1987-07-26)
Das Buch Dr. Hans Filbingers liest sich mit stärkstem Interesse, ich las es in fünf
Stunden der Nacht, von der ersten bis zur letzten Seite. Der Autor kann schreiben, und er
hat nicht etwas, sondern viel zu erzählen. Habe ich einen Einwand, so richtet er sich
gegen den Titel. Es gab in den Jahren von 1933 an, erst recht von 1941 an, nicht nur eine
Generation, die litt, es gab deren mehrere, von den ganz Alten bis zu den ganz Jungen; in
Deutschland und anderswo auch. Auch ist zu sagen, daß es nach dem Zusammenbruch des
Dritten Reiches recht bald zu einer Verständigung zwischen den Angehörigen der
verschiedensten Gruppen kam: Zwischen den Heimatvertriebenen und jenen, die zu Hause das
Ihre hatten bewahren können, zwischen nichtdeutschen Juden, die alsbald nach Deutschland
kamen, um hilfreich und versöhnend zu wirken Victor Gollancz, Raymond Aron, Kurt
Hahn, Gustav Stolper und der deutschen Nation insgesamt, zwischen Emigranten und Zuhausegebliebenen.
Selber kam ich im Jahre 45 in amerikanischer Uniform in die alte Heimat. Damals und
später gewann ich Freunde in Deutschland, nicht wenige und keine schlechten; sie trugen
mir nichts nach und wie sollte ich ihnen nachtragen, daß sie Offiziere oder Soldaten an
der russischen Front, oder, wenn sehr jung, noch Volkssturm-Knaben gewesen waren? Man
verstand sich sofort. Zufällig war keiner von Ihnen PG gewesen. Und wenn der
und jener es gewesen wäre? Was sollte ein fähiger Mann, obendrein mit Familie, denn
anderes tun als der Partei beitreten? Man trug es keinem Politiker, keinem Bundeskanzler
oder Bundespräsidenten nach, und mit vollem Recht. Es folgten dann, als die
Bundesrepublik dank der Wiederaufbauarbeit vieler Millionen Menschen leidlich wohlhabend
geworden war, die großen, historisch völlig beispiellosen, immaterielle Gerechtigkeit
und Frieden schaffenden Unternehmungen: Der Lastenausgleich, die Wiedergutmachung für die
Emigranten, der versöhnende Vertrag mit Israel, dessen Architekt, Professor Böhm, in
Vorzeiten ein Freund Filbingers gewesen war meiner auch, war er doch der
Schwiegersohn Ricarda Huchs.
Mir scheint, daß man heute von dem Geist der Versöhnung, der damals in Deutschland
herrschte, so wie er zum Beispiel die Väter des Grundgesetzes beflügelte, kaum noch eine
Vorstellung hat. Der Schatten der ersten Jahre war die Justiz der Alliierten. Damals
konnte sie zweierlei tun: Gleiches mit gleichem vergelten, oder als moralisch überlegene
Verfolger der Bösen aufzutreten. Leider zogen sie es vor, beides zu tun. Über die
Potsdamer Beschlüsse schrieb die englische Zeitung Economist:
Die Alliierten haben den Krieg gegen Hitler mit einem Frieden im Stile Hitlers
beendet was den Nagel auf den Kopf traf. Auf der anderen Seite bestraften sie;
bestraften Industrielle für das, was sie jetzt selber auch taten: zum Beispiel ihre
deutschen Kriegsgefangenen einzubehalten und jahrelang in ihren Ländern zur Zwangsarbeit
zu verdammen; aus Frankreich kamen sie immerhin heil zurück, aus Rußland an die
dreihunderttausend niemals. Glücklicher waren die in Nürnberg zu Gefängnis Verurteilten
dran; ihre Begnadigung erfolgte nach wenigen Jahren im Zeichen einer gründlich
veränderten Weltsituation.
Als im Sommer 1978 die Hetze gegen Hans Filbinger losging, wußte ich nicht viel von ihm:
nur, daß er in Baden-Württemberg ein erfolgreicher, allgemein beliebter Regierungschef
war, welcher der Union in Stuttgart zum erstenmal eine absolute Mehrheit im Landtag
verschafft hatte. Seine Vergangenheit war mir unbekannt. So, in einem Interview, sprach
ich über seinen Fall etwas kümmerlich: er habe damals als Marine-Richter
gehandelt unter einem Druck und in einer Gefühlslage, welche die, die damals noch
gar nicht geboren waren, sich schwer vorstellen können. Filbinger hatte in den folgenden
Jahrzehnten Gelegenheit gehabt, sich zu entwickeln, freiere Horizonte in sich aufzunehmen
und so, glaube ich, dem Land zu nützen. Er hat der Demokratie Gutes getan.
Dergleichen genügt mir heute keineswegs. Zum Beispiel brauchte Filbinger keine
freieren Horizonte in sich aufzunehmen, denn er war niemals ein Anhänger
Adolf Hitlers gewesen. Als Jurastudent hatte er in Freiburg dem Kreis der Professoren
Böhm und Eukken angehört, Anhängern eines freiheitlichen Rechtsstaates und freien
Marktes, was den Machthabern wohlbekannt war; sie bewegten sich auf einer gefährlichen
Grenze.
Ferner gehörte er dem katholischen BundNeudeutschland an, der ebenfalls als
politisch unzuverlässig galt. Um freie Luft zu atmen, reiste er im Herbst
1938 mit den erlaubten zehn Reichsmark in der Tasche nach Paris und fand dort tatsächlich
Arbeit, neben der er auch noch Rechtsstudien betreiben konnte; erst das offenbare
Herannahen des Krieges trieb ihn nach Deutschland zurück, nun Doktor beider Rechte; er
wünschte das Schicksal, das zum Beispiel ich in französischen Internierungslagern
erfuhr, nicht zu teilen, ein sehr begreiflicher Entschluß. Im Jahre 40 zur Marine
eingezogen, nach drei Jahren Dienst Unteroffizier, meldete er sich für die U-Boot-Waffe.
Aber man entgeht seinem Schicksal nicht. Als Jurist wurde er für die Marine-Justiz
gebraucht und in Norwegen eingesetzt, wie sehr er sich auch dagegen wehrte. In seinem Amt,
einmal des Richters, einmal des Anklägers, verhielt er sich so human, wie er irgend
durfte. Einigen, ohne sein Zutun, zum Tode Verurteilten, gelang ihm mit unendlicher Mühe,
das Leben zu retten; dem katholischen Marine-Pfarrer Möbius, dem bayerischen Oberleutnant
Forstmeier und anderen mehr. Diese Seiten sind besonders fesselnd und angenehm zu lesen.
Im Fall des verurteilten Matrosen Gröger, einem vierzehnmal vorbestraften Deserteur, war
die Rettung von vornherein unmöglich: seine Verurteilung in einem ersten Prozeß, zu acht
Jahren Gefängnis, wurde von dem Chef der Flotte im Norden kassiert. Die Todesstrafe, so
sah es der Verteidiger, stand fest, ehe Filbinger überhaupt in Erscheinung trat; dieser,
so berichtete eben der Verteidiger später, spielte während des Prozesses nur noch die
Rolle eines Statisten, weswegen er, der Verteidiger, ihn denn auch völlig vergessen
hatte.
Es war aber eben dieser Fall, den Rolf Hochhuth 33 Jahre später aufgriff. Warum? Auf
diese Frage antwortete ich in jenem Interview: Das weiß ich nicht. Ich weiß zum
Beispiel nicht, ob Herr Hochhuth auf eigene Faust gehandelt hat, ob er die Liste deutscher
Politiker durchging, biographische Fakten studierte und sich dann für die Akten eines
Marinerichters entschloß oder, ob er Winke von anderswoher erhalten hat.
Diese Frage stellte ich auch Herrn Hochhuth im Gespräch, mit dem ich so und auch anders
stehe. Auch habe ich ihn gefragt, warum er denn in seinen Dramen, der ja der Schiller
seiner Zeit sein wollte, immer nur die Mißstände im Westen geißelte, sich aber einen so
großartigen zeitgeschichtlichen Gegenstand wie den Aufstand der Ungarn, das Schicksal
Imre Nagys oder wie den Prager Frühling und dessen tragisches Ende entgehen
ließ? Er verstand, was ich meinte und antwortete tief gekränkt: In der Sowjetunion seien
seine Werke verboten. Mag sein, mag sein ... Im Gegensatz zu Dr. Filbinger halte ich den
Stellvertreter nach wie vor für ein sehr starkes, dramatisches Werk. Danach
kamen schwächere und immer schwächere Wiederholungen, zuletzt zu dramatisiertem
Journalismus herabsinkend. Hochhuths Prosa ist entschieden besser; da findet dieser Autor
immer wieder Trauriges zu erzählen und tut es eindrucksvoll.
Die eindrucksvollsten, geradezu qualvoll zu lesenden Seiten des Buches sind jene, die von
der meisterhaft konzentrierten Hetze gegen Filbinger handeln: vorn Fernsehen, zumal von
Panorama, von der Zeit, vom Spiegel, obgleich der
Bruder Rudolf Augsteins, der bekannte Anwalt, ritterlich für den Verfolgten Partei nahm.
Da wurden nun zum Beispiel zwei weitere Todesurteile ausgegraben, an denen Filbinger
beteiligt war. Er hatte sie vergessen, was mir damals schwerfiel, ihm zu glauben. Heute
glaube ich es ihm aufs Wort. Warum? Weil es sich um Urteile handelt, die gar nicht
vollstreckt werden konnten, zumal die verurteilten Deserteure einer von ihnen war
obendrein ein Mörder sich im sicheren Schweden aufhielten, welcher Staat in den
letzten Kriegsmonaten sie gewiß nicht ausliefern würde. Also eine bare, hastig erledigte
Formalität ohne Konsequenzen. Was Filbinger überzeugend ausführt: welche rettende
Aufgabe die deutsche Kriegsmarine gerade während der letzten Monate des Krieges zu
vollbringen hatte: Millionen von Deutschen aus dem Osten, wo ihr Schicksal allemal ein
arges gewesen wäre, über die Ostsee nach dem Westen zu bringen. Dafür tat Disziplin not
bis zuletzt; wer sich ihr entzog, war nicht nur schuldig im Sinne des Kriegsrechts,
welches auf allen Seiten galt, immer gegolten hat, also mit Nazismus gar
nichts zu tun hatte; er wurde auch zum Verräter an seinen Mitbürgern.
Was das Kriegsrecht betrifft, auch der General Eisenhower dieser große und
gute Chef nennt ihn Charles de Gaulle hat das Todesurteil an einem
Fahnenflüchtling bestätigt. Seine erbittertsten Feinde haben das später dem
Präsidenten Eisenhower nicht zum. Vorwurf gemacht. In Washington war dergleichen
unvorstellbar. Warum wurde es Wirklichkeit in Stuttgart? Der Krieg ist der Krieg und hat
dieselben uralten Grundgesetze allenthalben; darum ist es besser, man fängt ihn gleich
gar nicht an.
Im mittleren Teil des Buches gibt es eine scharfe Kritik an der sozial-liberalen Regierung
Brandt-Scheel. Ja, für einen Unionspolitiker ist das selbstverständlich. Ein freier,
parteiloser Schriftsteller und Beobachter sieht es anders. Die zweite große Volkspartei
hatte ein Recht, einmal an die Macht zu kommen; es war im Sinn der parlamentarischen
Demokratie eine echte Notwendigkeit. Nach einer 17jährigen Regierung zeigte die Union
starke Ermüdungserscheinungen, ohne die es zur Großen Koalition, danach zu
der sozial-liberalen nie gekommen wäre. Gegen Brandts Ostverträge wandten die
Unionspolitiker ein, sie hätten es besser gemacht. Darauf ist die Antwort: Ja, hättet
ihr doch! Gerade die Ostverträge wären eine Hauptaufgabe der Großen
Koalition gewesen. Dann hätte keine Partei der anderen um ihretwegen Vorwürfe
machen, auch keine aus einer notwendigen, aber doch melancholischen Transaktion einen
Triumph machen können. Aber Kiesinger, der Regierungschef, konnte sich zu mehr als zu der
Erkenntnis, daß dort, jenseits der Elbe, ein Phänomen entstanden sei, nicht
durchringen, obwohl er es heimlich besser wußte. Und so pflückten Brandt und Scheel die
längst reife Frucht. Ihre Finanzpolitik ist eine andere, trübere Sache, ebenso ihre
Bildungspolitik, gegen die Filbinger vom Leder zieht. Die war ja aber nun überwiegend
Aufgabe der Länder so blieben Baden-Württemberg und Bayern der Unsinn, der in
Hessen und Niedersachsen getrieben wurde, erspart. Die Studentenrebellion kam dazu. Ihr
gegenüber erwies Filbinger sich als mutig, geduldig, geistesgegenwärtig, zumal in
Heidelberg.
Zuletzt möchte ich ein Wort des Trostes sagen. Im Gegenteil zu Eugen Gerstenmaier, der
seinen, leider gerechteren, Sturz nie überwand, hat Hans Filbinger das ihm angetane
Unrecht längst überwunden. Er wurde, mit der heilenden Zeit, zu einem geachteten
Elder-Statesman. Das von ihm gegründete Studienzentrum Weikersheim ist ein
konservatives Institut für Forschung und öffentliche Diskussion, wie es bei so vielen
progressiven oder linken Vereinigungen heute eine Notwendigkeit darstellt.
Selber habe ich einmal vor diesem Forum reden dürfen über Grundzüge der
nordamerikanischen Außenpolitik, und dabei an dieser, zumal gegenüber Hispano-Amerika,
scharfe Kritik geübt in Gegenwart zweier amerikanischer Politiker. Danach schrieb mir
Filbinger, mein Vortrag habe besonders der anwesenden Jugend gefallen was hieß,
daß er den Alten weniger gefiel. Warum nicht? Auch in einem demokratisch-konservativen
Institut herrscht Freiheit der Rede und soll es Meinungsverschiedenheiten geben...
Kurzum, Filbingers hoffentlich noch langer Lebensabend ist ein würdiger, schöpferischer.
Und wenn noch immer Gram in seiner Seele wühlte, so mag er sich durch sein Buch Die
geschmähte Generation davon befreit haben.