FAZ Seite 20, Donnerstag, 14. Dezember 2006,

Dr. Thomas Lippert, Groß-Umstadt
Großes und Wunderbares in Böhmen
Zu dem Brief des Lesers Dr. Walter Roth „Der tschechische Traum“ (FAZ vom 29. November 2006):

Wie die deutsche Romantik bezog sich auch die Bewegung der tschechischen „Wiedergeburt“ sehr stark auf die Geschichte des Mittelalters, die durch Sagen verklärt wurde, wobei im frühen 19. Jahrhundert die bedeutendsten literarischen Kunstwerke noch in deutscher Sprache verfaßt wurden, so etwa das „Böhmisch-nationale Heldengedicht Wlasta“ des in Prag geborenen, in Donaueschingen als Bibliothekar tätigen Karl Egon Ebert (1801-1883), das den antiken Heldenepen eines Homer und Vergil (bis hin zur Verwendung der Hexameter) nachempfunden ist, aber eine weibliche HeIdin, eine kämpfende und tötende Amazone, zur Hauptfigur der Handlung erwählt, die als Vertreterin des Heidentums aber schließlich dem christlichen Herzog Primyslaw (Przemysl Borzjwoy I., regierte 871 bis 894) unterliegt. Eine Episode dieses Epos betreffend die Kriegerin Scharka (šárka) ist bekanntlich vom Komponisten Smetana in seinem Zyklus symphonischer Dichtungen „Mein Vaterland“ (Má Vlast) künstlerisch verarbeitet worden. Die Sehnsucht nach dem Mittelalter führte schließlich so weit, daß der tschechische Dichter Václav Hanka die geringe Zahl echter slawischsprachiger mittelalterlicher Quellen durch eigene Falsifikate („Königinhofer Handschrift“) zu vermehren suchte. Originale schriftliche Quellen über das mittelalterliche Böhmen, auch in lateinischer Sprache, wurden daher mit großer Sorgfalt gelesen. Die wichtigste dieser lateinischen Schriften ist zweifellos die „Chronik Böhmens“ des Cosmas von Prag (1045-1125). Diese berichtet im 14. Kapitel von einer ersten Vertreibung Deutscher aus Böhmen, die bereits im 11. Jahrhundert (also in der Jugendzeit des Chronisten, lange vor der großen deutschen Ostsiedlung des 12. und 13. Jahrhunderts) durchgeführt worden sein soll (hier nach der Übersetzung von Franz Huf, Essen 1987, Bd. 2, S. 71):

„Nach dessen [Herzog Brzetislavs I.] Tod [1055] wählten alle [böhmischen] Stämme, hohe und niedrige Stände, seinen Sohn Spitihnev [I I.] einstimmig zum Herzog, indem sie den Jubelgesang Kyrie eleison anstimmten. Spitihnev war ein ansehnlicher Mann mit pechschwarzem Haar, langem Bart, freundlichem Gesichtsausdruck und schneeweißen, in der Mitte leicht geröteten Wangen. Was gibt es noch zu sagen?
Er war ein schöner und rechtschaffener Mann vom Scheitel bis zur Sohle. Am Tage seiner Inthronisation vollbrachte er etwas Großes und Wunderbares, wodurch er für alle Zeiten in Erinnerung blieb. Er verfügte, daß alle Deutschen, ob Arme, Reiche oder Pilger, innerhalb von drei Tagen aus Böhmen vertrieben werden sollten. Ja sogar seine Mutter Judith, die Tochter Ottos, durfte nicht bleiben.“