Entzaubert
Von Reinhard Müller

10. Mai 2004

Mit dem Motto „Schlesien bleibt unser“ hat eine Landsmannschaft einst Bundeskanzler Kohl in Schwierigkeiten gebracht. Kohl hatte 1985 – als erster Regierungschef seit Erhard 20 Jahre zuvor – zugesagt, ein Schlesiertreffen zu besuchen, noch bevor dessen Leitspruch feststand. Nach öffentlicher Empörung und einer Intervention des Kanzlers wurde das Motto geändert: „Schlesien bleibt unsere Zukunft – im Europa freier Völker“.

Das ist das Zauberwort auch für die Vertriebenen: Europa. Unzählige Male wurde es von Politikern auf Vertriebenentreffen und anderswo im Munde geführt. Je länger die faktische Abtrennung der alten deutschen Ostgebiete währte, desto häufiger beschwor man die goldene Zukunft eines geeinten Kontinents, in der Grenzen keine Bedeutung mehr hätten. Dann, so das Versprechen, würden auch die deutschen Vertriebenen zu ihrem Recht kommen.

Jetzt ist die lange ersehnte Einigung Europas da – und die Lage ist ernüchternd. Das Parlament in Warschau hat kurz vor dem Beitritt Polens zur EU fast einstimmig eine Entschließung zum Vermögen der „ehemaligen Umsiedler“ aus den „wiedergewonnenen Gebieten“ verabschiedet. Sämtliche damit zusammenhängenden Fragen, so beschlossen die Abgeordneten, seien abschließend geregelt. Europäische Gerichte dürften sich damit nicht befassen.

Das zeugt von erstaunlicher Ignoranz. Längst ist Polen Mitglied des Europarates und damit an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Die Zuständigkeit des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs läßt sich durch einen solchen Parlamentsbeschluß keineswegs ausschalten. Das gilt auch für die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, der nun darüber wachen wird, daß Ausländer in Polen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht diskriminiert werden – und zwar letztlich auch in Fragen der Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit. Deutschlands östliche Nachbarn haben zwar pflichtgemäß Tausende ihrer Vorschriften dem europäischen Recht angepaßt – doch daß Europa Werte- und Rechtsgemeinschaft ist, scheint mancher dort noch nicht verinnerlicht zu haben.

Ähnliches gilt für die Tschechische Republik. Ausgerechnet am Vorabend des Beitritts (aber nach Abschluß der Verhandlungen) ehrte das Prager Parlament den Politiker, der für die Entrechtung und völkermordartige Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei verantwortlich war. Zweifelhaft ist schon das tschechische Argument, man könne sich zwar aus formalen Gründen nicht von den weiter geltenden Beneš-Dekreten distanzieren, gleichwohl würden sie heute nicht mehr angewendet. Das neue Beneš-Gesetz zu dessen Ehren muß vor diesem Hintergrund wie eine Provokation wirken.

Es ist ein Symbol – und tatsächlich sind die Probleme zwischen den Deutschen und den beiden östlichen Nachbarn vornehmlich symbolischer Art, wie auch der Streit über das „Zentrum gegen Vertreibungen“ zeigt. Es war stets eine Illusion, zu meinen, man werde das Recht auf die Heimat für die deutschen Vertriebenen jemals umfassend verwirklichen können oder zumindest eine angemessene Entschädigung erreichen. Dieser Irrglaube wurde von manchen Politikern auf fahrlässige Weise genährt – und manche Vertriebene und ihre Funktionäre gaben sich ihm gern hin.

Es ist richtig, daß man aus dem völkerrechtlichen Vertreibungsverbot ein Rückkehrrecht herleiten kann, und es gab immer wieder Versuche, Vertreibungen tatsächlich rückgängig zu machen. Doch dabei fiel oft unter den Tisch, daß selbstverständlich auch Polen und Tschechen mittlerweile ein Heimatrecht in den früher deutschen oder deutsch besiedelten Gebieten erworben haben. Wahr ist allerdings auch, daß deutsche Menschenrechtsaktivisten sich stets energisch für ein Rückkehrrecht von Palästinensern, Albanern und Zyprern einsetzten, aber keinen Gedanken daran verschwendeten, wie die große zivilisatorische Wunde der Vertreibung von Millionen von Landsleuten geheilt werden könnte. Hierzu fiel vielen Politikern nur ein, daß das Leid der Deutschen in einen „Kontext“ zu stellen sei.

Der deutsch-tschechische Zukunftsfonds konnte sich noch nicht einmal zu einer Geste für einige wenige besonders schwer getroffene Sudetendeutsche durchringen. Und daß das „Zentrum gegen Vertreibungen“ als Trauer- und vor allem als Bildungsstätte nötig ist, zeigen seine Gegner, die den Zweck der Einrichtung nicht begreifen wollen: allen Opfern von Genozid und Vertreibung einen Platz „in unseren Herzen und im historischen Gedächtnis“ zu geben.

Im Kern geht es heute nicht um Heimatrecht und Entschädigungsfragen. Wer wollte, der hat seine Heimat wiedergesehen, der lebt in Freundschaft mit den heutigen Besitzern von Haus und Hof, der hat sich sogar auf Umwegen eine Wohnung in der alten Heimat besorgt. Heute geht es um eine Handreichung. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen, das will auch niemand ernsthaft. Aber man kann und sollte Unrecht beim Namen nennen. Warum wird das nicht mit einer Einladung an die deutschen Nachbarn zum Wiederaufbau in der nun gemeinsamen europäischen Heimat verbunden, wie sie einst der estnische Präsident Meri ausgesprochen hatte? Man könnte sich zumindest an das wenige erinnern, was im Zuge der endgültigen Abtrennung der Ostgebiete schon sehr vorsichtig angeklungen war. In Briefen zu den Nachbarschaftsverträgen mit Polen und der Tschechoslowakei 1991 und 1992 wurde auf die Selbstverständlichkeit hingewiesen, daß sich im Fall des EU-Beitritts auch Deutsche in jenen Ländern niederlassen könnten. Polen sah damals „derzeit“ keine Möglichkeit der Zulassung von Ortsschildern „in traditionellen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit in Polen in deutscher Sprache“. Wann, wenn nicht jetzt?

Doch die Berliner Regierung interessiert sich nicht für das Schicksal der Vertriebenen; auch hat sie nicht zur Kenntnis genommen, daß in vielen Städten und Dörfern des Ostens immer noch Deutsche leben.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2004, Nr. 109 / Seite 1

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