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Wilhelm Pleyer

Das Kind und die Kuh

Als die Abenteuer der Trecke aus dem Osten noch stärker in Erinnerung waren, wurde von einem Mädchen erzählt, einem Kinde und seiner treuen Liebe zu einer Kuh, und es klang schon damals wie ein holdes Volkslied durch das große Dröhnen und Stöhnen. Nun ist der Name des Kindes verschollen, auch der Name des Ortes, aus dem der Treck stammte, und es ist nicht einmal zu erfragen, aus welcher Landschaft des Ostens er kam; aber das Lied tönt weiter.

Der Treck war unter ein hartes Gesetz gestellt. Niemandes Eigenwille und Eigensucht durfte das Ganze gefährden. Was Menschen und Tiere zum Leben brauchten, ging vor. Tiere, das bedeutete Zugtiere. Und Rosse allein kamen in Frage. Die Rinder mußten zurückbleiben; sie wurden gegen Dinge getauscht, die sich leichter fortbringen ließen.

Nun war da ein Mädchen, das war innig mit einer Kuh befreundet, und es hatte soeben auch das Melken an ihr gelernt. Das Kind mochte die Kuh, und die Kuh mochte das Kind, und wir brauchen uns über die Gründe nicht den Kopf zu zerbrechen; Gott, von dem alle Liebe herkommt, kennt auch sie. Als nun das Mädchen hörte, es müsse sich von seiner Kuh trennen, legte es sich zuerst seinen Eltern mit herzlichem Jammer in die Ohren, und weil die Eltern nicht helfen konnten, dem Bürgermeister, dem alle Verantwortung aufgelastet war. Der hatte ganz andere Sachen zu ordnen, der Kopf rauchte ihm, und davon war er nicht freundlicher. Aber weil er das gutartige Kind wohl kannte, und weil ihn das bittere Schluchzen, das er vernahm, für alles bittere Schluchzen ergriff, das er nicht vernahm, von dem er jedoch genugsam wußte, so ließ sich der Mann, der sich hart gemacht hatte, das harte Gesetz durchzuführen, für diesen einen Fall erweichen. Er wolle und dürfe von der ganzen Sache nichts wissen, seien aber die Eltern einverstanden, so solle sie es halten, wie sie dargetan: Immer drei Stunden vor dem allgemeinen Aufbruch auf den Weg, die Kuh grasen zu lassen und sie zu melken, und immer dem Treck nach, ihn vorm Nachten wieder zu erreichen.

So zog denn das Kind in der dunklen Frühe mit der Kuh aus, der tönte an jeder Schulter ein blechernes Eimerchen, zum Trinken und zum Melken. So manches Fenster des Dorfes war erleuchtet, und das Kind schaute durch Tränen zuriick. Dann tätschelte es jedesmal seine Mutsch, denn es war tröstlich, die gute Freundin bei sich zu haben. Nach ein paar Wegstunden ließ das Kind die Kuh weiden, holte Wasser zum Tränken, melkte die Kuh, brockte von seinem Brot ein und ließ sich das kuhwarme Süpplein munden. Es dauerte nicht lange, so erspähten die scharfen jungen Augen den Treck in der Ferne. Er kam rasch näher, wie nie eine Rinderherde vorangekommen wäre, und war auf einmal da. Das Kind hörte freundliche Zurufe und rauhe Schimpfworte, gar der Bürgermeister und Treckführer schalt, wie er es seinem Ohnwissen von der Sache schuldig war, und auch die Eltcrn des Kindes taten zweckmäßig. Das Mädchen aber hob sein Eimerchen mit der frischen Milch den Kindern entgegen, und man fand, diese Quelle am Weg sei so übel nicht.

Der Treck war schon lange fort, da war noch immer zu weiden und auch nochmals zu melken, bevor Kind und Kuh der sinkenden Sonne nachziehen durften. Nun war das eine Eimerchen mit Milch gefüllt und mußte getragen werden, was lag näher, als dafür Brot oder Früchte einzutauschen, da der Weg durch einen Flecken führte. Spät in der Nacht, das Kind brauchte seine Tapferkeit, erreichten sie den Rastort des Trecks. Aber schon lange vor dem Aufbruch der anderen mußte das Mädchen wieder aufstehen, melken und mit seiner Mutsch auf den Weg.

Von Tag zu Tag regelte es sich mit den Zeiten des Marsches und des Verweilens besser, von Tag zu Tag aber auch wurde die Rast für das Kind wichtiger, denn sein Nachtschlaf war viel zu kurz. Da schlief es auf der Weide ein, und dann hütete das Kind nicht mehr die Kuh, sondern die Kuh das Kind, kam brummend auf den Fremden zu, der nach der Schlafenden sehen wollte, und blieb überhaupt nah um das Mädchen, dessen Schwabbeln und Streicheln sie entbehrte. Nie wurde die weite Reise eintönig, schon die fremden Landschaften brachten Abwechslung; schlimmere das Wetter mit Landregen, mit Gewittern und Wolkenbrüchen, denen fröstlige Tage folgten. Da wandelte die Hüterin Fieber an, aber weil sie nicht krank werden durfte, wich die Krankheit wieder zurück. Manchmal, wenn die Umstände gefährlich schienen, ging ein Bruder des Mädchens mit; das war dann ein freundlicher Tag. Es kam auch vor, daß das Kind mit der Kuh den Weg verfehlte und unter großen Anstrengungen wieder zum Treck gelangte. Auch gab es Begegnungen mit verdächtigen Kerlen. Kurz, es ließe sich eine lange, abenteuerliche, bunte Geschichte erzählen bis zu der Stelle, wo der Treck für eine geraume Zeit haltmachen durfte, um abzuwarten, was die Weltgeschichte für die Menschen aus dem Dorf im Osten noch weiter bereit hielt. Da waren Kuh und Kind endlich unter Dach.
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Nachwort
Diese Begebenheit ist nicht erdacht, sie hat sich wirklich zugetragen; nur hat der Dichter, der sie niederschrieb, unter den vielen erregenden Ereignissen jener Zeit einen Teil von ihr vergessen gehabt; dieser aber muß nachgetragen werden, denn er kennzeichnet die große Treue des kleinen Mädchens ganz besonders.

Im Kloster „Zu den barmherzigen Brüdern“ in Brünn waren während des großen Krieges auch viele hundert Verwundete untergebracht. Eines Tages wurde in den weitgewölbten Raum zwischen die vielen, die da in Reihen lagen, noch ein wesentlich älterer Mann aus dem Operationssaal dazwischengelegt. Als er aus der Narkose erwachte und zu sprechen begann, fiel seine ungewöhnlich harte Mundart auf, und später, als er von seinem Schicksal berichtete, hörten seine Bettnachbarn mit großer Aufmerksamkeit zu, denn er war einer jener Deutschen, die weit vor den Reichsgrenzen ohne Hilfe durch das Mutterland, jahrhundertelang umbrandet von fremden Völkern, ihrem deutschen Volkstum die Treue bewahrt hatten. Er war Sohn deutscher Bauern in Bessarabien, zwischen dem Ostkarpatenbogen und dem Schwarzen Meer. Er hatte schon 1917 erlebt, wie die roten Bolschewisten-Horden die Dörfer raubend überfielen. Sein Vater und die ganze Nachbarschaft mit allem Gesinde wehrte die Eindringlinge viele Male todesmutig ab; da sie jedoch ganz auf sich alleine gestellt waren und keinen Nachschub beschaffen konnten, unterlagen sie schließlich doch. Sie wurden rücksichtslos enteignet, die großen Viehherden fortgetrieben und alle Kornvorräte geplündert. In dem vormals so reichen Bauernland entstand bittere Hungersnot mit tausenden Toten. Endlich begriffen die Eindringlinge, die die Macht an sich gerissen hatten, daß nichts weiter geholt werden kann, wenn nicht neue Bauernsaat für neue Ernte sorgt. Sie teilten das Land neu auf, sogar in einer gewissen neuen Gerechtigkeit, denn jeder Bauer bekam eine Fläche, die der Kopfzahl seiner Familie entsprach. Etwa 1921 wurde Bessarabien durch das Königreich Rumänien einverleibt. Die Bolschewisten mußten weichen, und der Fleiß der Deutschen brachte wieder einen neuen Wohlstand. Als sie 1940 das Los der Umsiedlung traf, mußten sie ihre Höfe, Felder und Weiden mit den großen Herden verlassen, und dort in Bessarabien begann der Weg des kleinen Mädchens mit seiner liebsten Kuh.

Man nehme eine Landkarte und messe nach, wie weit die Strecke von Tarotino quer durch das Schwarzerdegebiet bis an die Karpaten ist, und überlege, welcher Anstrengung es bedurfte, zu Fuß über die hohe Karpatenkette hinwegzukommen. Dann folgten die vielen Tagesmärsche durch Siebenbürgen und ganz Ungarn, das Burgenland und Niederösterreich, bis der große Treck endlich die Gegend von Linz an der Donau erreicht hatte. Das Mädchen war damals 11 Jahre alt, und man schaue in die Runde, welches gleichaltrige Geschöpf heutigentags gleiche Liebe, gleichen Mut, gleiche Treue, gleiches Durchhaltevermögen aufbrächte wie dieses Töchterchen der deutschen Siedlerpioniere so weit von der Reichsgrenze.

Diese Begebenheit wurde überliefert und mit Scherenschnitten ausgeschmückt von meinem Vater Ernest Potuczek-Lindenthal aus Brünn.

Der Treck war ein kleiner Teil der 1940/41 durchgeführten Rücksiedlungsmaßnahmen, bei denen durch Verträge zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion die „Heimholung ins Reich“ der deutschen Siedlungen am Schwarzen Meer, in der Ukraine, in Wolhynien und aus Bessarabien in geordneter und humaner Weise durchgeführt wurde. Diese Verträge sowie die Durchführung und Ansiedlung im Wartheland sind dokumentiert und publiziert. Ich werde nach und nach auch in www.Mitteleuropa.de darüber berichten.
ML 2000-12-17