Zum 8. Mai 1945 Gedanken des Historikers Hellmut Diwald vor fast 20 Jahren
(1985):
Gedenktage sind Tage der Besinnung, der Erinnerung, der Bilanz. Der 40.
Jahrestag der militärischen Kapitulation Deutschlands beschäftigt die
bundesrepublikanischen Medien seit Monaten. Die Unverfrorenheit des Versuchs, uns den 8.
Mai 1945 als Datum der Befreiung schmackhaft zu machen, wird nur durch die Schamlosigkeit
der Begründungen dafür übertroffen. Der 8. Mai scheint des Schicksals sicher zu sein,
im Öffentlichen ein Tag der Heuchelei zu werden. Am 8. Mai 1945 wurde in Europa der Krieg
beendet. Wer diesen Tag mit Bewußtsein erlebt hat, wer sich an ihn erinnert ohne die
Beschönigungen, Verzerrungen, Beflissenheiten und Lügen, mit denen seit Jahrzehnten
unsere Geschichte und insbesondere unsere jüngere und jüngste Vergangenheit ungenießbar
gemacht wird, der weiß es besser. Daran muß jeder von uns festhalten, ohne Konzessionen
an das, was bequem ist, was gern gehört wird von denjenigen, die den
politisch-offiziellen Beifall spenden. Opportunisten sind die Totengräber der deutschen
Selbstbehauptung.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag des Elends, der Qual, der Trauer. Deutschland, das deutsche
Volk hatten sechs Jahre lang im gewaltigsten Krieg aller Zeiten um die Existenz gekämpft.
Die Tapferkeit und Opferbereitschaft der Soldaten, die Charakterstärke und
Unerschütterlichkeit der Frauen und Männer im Bombenhagel des alliierten Luftterrors,
die Tränen der Mütter, der Waisen, wer die Erinnerung daran zuschanden macht, lähmt
unseren Willen zur Selbstbehauptung. Daran sollten wir am 8. Mai denken.
Die Sieger von 1945 erklären, für die Rettung der Humanität einen Kreuzzug gegen
Deutschland geführt und gewonnen zu haben. Geführt auch mit den Mitteln eines
Bombenkrieges, der das Kind, die Frauen, die Flüchtenden, die Greise genauso als Feind
behandelte wie den regulären Soldaten. Der Tag der militärischen Kapitulation der
deutschen Armee brachte den Alliierten den Frieden. Abermillionen von Deutschen brachte er
die Hölle auf Erden. Haben die Sieger von 1945 keinen Anlaß danach zu fragen, mit
welchen Verbrechen sie dem Triumph ihres Kreuzzuges für die bedrohten Menschheitswerte
das Siegel aufgedrückt haben? In jenen Friedensjahren nach der Kapitulation, in denen von
Ostpreußen bis nach Jugoslawien Deutsche erschlagen, hingemetzelt, vergewaltigt,
gefoltert, vertrieben wurden in jenen Jahren, die man uns jetzt zumutet, als Zeit
der Befreiung und Wiege einer Zukunft zu feiern, die uns zum ersten Mal in unserer
tausendjährigen Geschichte Freiheit, Recht und Menschenwürde gebracht haben
soll? Denken wir daran am 8. Mai.
Wer im 20. Jahrhundert einen Krieg verliert, wird vom Sieger zum Schuldigen und Verbrecher
erklärt. Wie soll man das Wertesystem derjenigen einschätzen, die mit denselben
Urteilskategorien dem deutschen Volk 1945 jede Moral und alle Rechte bestritten und wenige
Jahre später, als deutsche Männer wieder als Soldaten gebraucht wurden, das deutsche
Volk plötzlich als würdig erachteten, westliche und östliche Interessen mit der Waffe
zu verteidigen? Auch daran sollten wir am 8. Mai denken.
Der 8. Mai erinnert uns daran, daß wir besiegt wurden. Ja, wenn es nur die militärische
Niederlage gewesen wäre. Es hätte nicht einmal das uralte Muster jener Kriege sein
müssen, bei denen die Niederlagen kaum weniger ehrenvoll waren als die Siege. Aber Schuld
eines ganzen Volkes für Verbrechen, die es als Volk nicht begangen hat, weil ein Volk
keine Verbrechen begehen kann, sondern immer nur der Einzelne? Wenn von Schuld die Rede
ist, dann auch von jener Schuld, daß wir nicht die Kraft und den Mut besaßen, uns gegen
die generelle Herabsetzung zu wehren und uns nicht die Würde rauben zu lassen.
Standfestigkeit und Unbeirrbarkeit wären um so nötiger gewesen, als uns das Gift der
moralischen Selbstzerstörung Jahr für Jahr eingeträufelt wurde. Und wir wußten davon
denken wir daran.
Wir haben keinen Grund, den 8. Mai zu feiern. Feiern sollen diejenigen, die sich für die
Sieger halten. Wie unsere früheren Gegner, die sich heute als unsere Freunde bezeichnen,
ihre Feiern am 8. Mai mit dieser Freundschaft 1945 in Einklang bringen, ist allerdings
nicht nur ihr eigenes Problem. Für uns ist es eine Gelegenheit, daran zu erinnern, daß
die neue Zukunft, die uns von den Siegern 1945 beschert wurde, für unser Reich das Grab
und für Deutschland und das deutsche Volk die Katastrophe seiner Zerstückelung
bedeutete. Die Siegesparaden der früheren Alliierten werden uns nur zeigen, daß wir noch
immer die Besiegten von 1945 sind, daß unser Land besetztes Land ist und unsere regionale
Souveränität eine von Gnaden der Sieger mit Vorbehalten gewährte Souveränität. Daran
müssen wir denken.
Die 40. Wiederkehr des 8. Mai 1945 ist das Fest der Sieger. Es ist nicht unser Fest. Uns
dagegen steht die Erinnerung an Wahrheiten zu, deren Gehalt von keinem Datum abhängt. Zur
Lebensgeschichte des Einzelnen wie zur Geschichte eines Volkes gehören die Niederlagen
genauso wie die Triumphe. Nur dann, wenn sich der Einzelne, wenn sich ein Volk selbst
aufgibt und sklavisch unterwirft, geht alles verloren in der Variante einer
Feststellung des römischen Kaisers Mark Aurel: »Laß dir die Vergangenheit, laß dir die
Zukunft nicht verfälschen. Du wirst, wenn es nötig ist, schon hinkommen, mit Hilfe
derselben Geisteskraft, die dich das Gegenwärtige ertragen läßt.«