UNRECHT BLEIBT UNRECHT
DIE VERTREIBUNG DER DEUTSCHEN:
EIN UNBEWÄLTIGTES MENSCHENRECHTLICHES PROBLEM

Bonn, 8. Mai 1995
von Prof. Alfred de Zayas

Sehr verehrte Damen und Herren!

Lieber Herr Parplies, liebe Frau Parplies, lieber Herr Professor Oberländer!

Ich halte es für eine besondere Ehre, heute vor Ihnen zu sprechen. Der 8. Mai ist in der Tat ein wichtiger Tag – ein Tag der Besinnung, der Freude über das Ende eines mörderischen Krieges, der Trauer für die Millionen Opfer, ein Tag der Solidarität. Es sollte auch ein Tag der offener Rede sein. Als Amerikaner empfinde ich ihn so, und ich möchte Ihnen Herrn Oberländer und allen hier anwesenden gestehen, daß ich heute erkenne, was ich vor über zwanzig Jahren nicht wußte, als ich als Fulbright-Stipendiat nach Deutschland kam: nämlich daß auch Ihnen viel Unrecht angetan worden ist, und daß es ein moralisches Gebot ist, dieses Unrecht wiedergutzumachen.

Am 8. Mai ist es angebracht, über die Menschenrechte zu sprechen, über die dignitas humana, die Würde und Gleichheit des Menschen – im Leben und auch im Tod.

Wir wollen über alle Opfer des Krieges nachdenken – nicht nur die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Denn das Morden geht weiter in Jugoslawien, Tschetschenien, Ruanda, Somalia usw. Die Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde nahmen mit dem 8. Mai 1945 leider kein Ende.

Wir gedenken aller Opfer, einfach weil sie Menschen wie wir waren, die gelitten haben. Wir gedenken der Toten, aber auch der Überlebenden, die in Trauer weiter gelebt haben.

Wir erinnern uns heute an alle, die Fürchterliches gelitten haben – Helden und einfache Menschen. Wir trauern um alle, die im 30jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts ihre Jugend oder ihr Leben verloren haben, in diesem Europäischen Bürgerkrieg, in welchem über 50 Millionen Brüder starben. Ja, es war ein Bruderkrieg – und als er zu Ende ging, waren nicht nur Böse, sondern auch Gute und Schuldlose zugrundegegangen.

Unter den 50 Millionen Opfern befanden sich Polen, Russen, Rumänen, Jugoslawen, Tschechen, Italiener, Engländer und Franzosen – aber auch Deutsche – viele brave Menschen, deren Frauen und Kinder

Alle waren gleich: Equal in Death.

in gleicher Würde – da lagen die Opfer des Rassenwahns, die Juden und Zigeuner, neben den Opfern unmenschlichster Politik – die Toten von Katyn, die schuldlose Zivilbevölkerung, die Opfer des Luftkrieges geworden waren – ob in Rotterdam, London, oder die über 600 000 deutschen Opfer des alliierten Luftterrors, Opfer der Tausend-Bomber-Schwärme, die Bevölkerungszentren vernichtet haben, Städte wie Lübeck 1942, Hamburg 1943, Köln 1944 und Dresden 1945.

Equal in Death: in gleicher Würde lagen die Millionen Opfer von Buchenwald und Auschwitz – neben den Millionen Opfer der Vertreibung der deutschen Bevölkerung Ostpreußens, Westpreußens, Pommerns, Ostbrandenburgs, Schlesiens, des Sudetenlands usw.

Hier geht es um keine Aufrechnung, keine Relativierung. Mit den Menschenrechten wird nicht aufgerechnet. Es geht um Menschen – um ihre Rechte und ihre Würde, um die Gleichheit dieser Opfer. Denn es gibt halt kein Monopol des Leidens.

Sie, die heute Abend zugegen sind, wissen dies. Sie brauchen es nicht von einem Amerikaner zu hören.

15 Millionen wurden vertrieben. Über zwei Millionen starben. Vielleicht mehr – denn, ich selber habe unlängst amerikanische Unterlagen in Archiven gefunden, die Grund geben zu glauben, daß die Opferzahl mindestens 3 Millionen betrug. Es gibt auch andere zeitgeschichtliche Forscher, die es für möglich halten, daß sogar 5 Millionen Deutsche nach dem Kriege aufgrund der Vertreibung, an Hunger und an Verzweiflung starben. Einer dieser Forscher ist der Kanadier James Bacque, der vor kurzen ein Manuskript unter den Titel „Crimes and Mercies“ beendet hat – ein Manuskript, das demnächst in deutscher Sprache als Buch im Ullstein-Verlag erscheinen wird. Ich habe das Vorwort dazu geliefert.

Diese Vertreibungsopfer, meine Damen und Herren, waren Menschen wie wir. Sie wurden ihrer Menschenrechte und Menschenwürde beraubt. Auch sie hätten gerne weitergelebt. Heute werden sie zu leicht vergessen.

Darum wollen wir heute über sie mit Respekt und Ehrfurcht sprechen. Wir, die hier in Bonn sind, denn es scheint, daß heutzutage nur über andere Opfer gesprochen wird, über sog. Konsensus-Opfer, als ob es tatsächlich ein Monopol des Leidens gäbe.

Als Amerikaner sage ich dies und frage mich, warum zeigen die Deutschen so wenig Respekt vor sich selbst? Sie sagen überall „mea culpa, mea culpa“, respektieren aber nicht die eigenen Opfer. Sie bitten überall um Verzeihung – als wäre Deutschland eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. Als nicht-Deutscher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das sich nur selbst bezichtigt. Diese anormale Haltung wirkt auf viele Ausländer, nicht nur auf mich, als ein Ritual, eine Pflichtübung, unecht, überflüssig, schließlich sogar als respektlos. Um glaubwürdig zu sein, muß man auch bereit sein, ähnliche Verbrechen zu verurteilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind.

Vielleicht wird es eine neue Aufgabe der Vertriebenen sein, die Erinnerung wachzuhalten, denn Unrecht bleibt Unrecht. Auch wenn eine konformistische Presse die deutschen Opfer bewußt ignoriert.

50 Jahre nach der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen wird dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der Presse und manchmal von der „Wissenschaft“ relativiert, bagatellisiert und ignoriert.

Objektiv betrachtet, stellt eine Massenzwangsumsiedlung von 15 Millionen Menschen – durch die über 2 Millionen ihr Leben verloren haben – zweifelsohne eine einzigartige Barbarei dar, einen Genozid. Juristisch gesehen entspricht dies einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts des Nürnberger Internationalen Militärtribunals und des Nürnberger Urteils von 1946. Menschlich betrachtet, offenbart die Vertreibung der Deutschen das allgemeine Versagen der Anti-Hitler-Koalition, die eigenen Friedensziele von Selbstbestimmung und Demokratie zu achten, die sie in der Atlantik-Charta und später in der Charta der Vereinten Nationen ausgesprochen haben. Ferner bedeutet die Vertreibung eine Abkehr von fundamentalen religiösen und ethischen Werten des Abendlandes.

Lange Zeit wurde dieses Verbrechen tabuisiert. Außerhalb Deutschlands war die Vertreibung der Deutschen nie ein Thema. Das gewaltige Phänomen wurde gar nicht registriert, als ob es nicht geschehen wäre. Nur wenige außerordentliche Persönlichkeiten wie Robert Murphy, Bertrand Russell und Victor Gollancz regten sich darüber auf. Gollancz, der britische Sozialist jüdischen Glaubens, verurteilte sie bereits im Jahre 1946 ohne jegliche Beschönigung:

„Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlaßt oder sich damit abgefunden haben. ... Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität.“

Am 19. Oktober 1945 protestierte Bertrand Russel in The Times:

„In Osteuropa werden jetzt von unseren Verbündeten Massendeportationen in einem unerhörten Ausmaß durchgeführt, und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, daß man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als Teil einer bewußten ‚Friedens‘-Politik.“

Robert Murphy, der politischer Berater Eisenhowers, äußerte seine Sorge über das Massensterben der Vertriebenen und über die moralischen Implikationen der Vertreibung in einem Bericht an das U.S. State Department vom 12. Oktober 1945:

„Unser Wissen, daß sie Opfer harter politischer Beschlüsse sind, die mit äußerster Rücksichtslosigkeit und Mißachtung der Menschlichkeit durchgeführt werden, mildert die Wirkung nicht. Die Erinnerung an andere Massendeportationen stellt sich ein, von denen die Welt entsetzt war und die den Nazis den Haß eintrugen, den sie verdienten. Die Massendeportationen, die von den Nazis inszeniert wurden, haben zu unserer moralischen Empörung beigetragen, in der wir den Krieg wagten und die unserer Sache Kraft verlieh.
Nun ist die Sache umgekehrt. Wir finden uns in der scheußlichen Lage, Partner in diesem Unternehmen zu sein, und als Partner unweigerlich die Verantwortung mitzutragen. Die Vereinigten Staaten kontrollieren allerdings nicht unmittelbar die Ostgebiete Deutschlands, durch welche diese hilflosen und ausgeraubten Menschen ziehen, nachdem man sie aus ihrem Heim gewiesen hat. Die unmittelbare Verantwortung liegt bei der polnischen provisorischen Regierung und in geringerem Maß bei der tschechischen. ... Wenn die Vereinigten Staaten auch vielleicht keine Mittel haben, einen grausamen, unmenschlichen und immer noch fortgesetzten Prozeß aufzuhalten, so scheint es doch, daß unsere Regierung unsere in Potsdam klar dargelegte Einstellung unmißverständlich wiederholen könnte und müßte. Es wäre sehr bedauerlich, wenn es einmal heißen sollte, daß wir an Methoden beteiligt gewesen seien, die wir bei anderen Gelegenheiten oft verdammt haben.“

In diesem Sinne telegraphierte auch General Eisenhower aus Berlin am 18. Oktober 1945:

In Schlesien verursachen die polnische Verwaltung und ihre Methoden eine große Flucht der deutschen Bevölkerung nach dem Westen ... Viele, die nicht wegkönnen, werden in Lager interniert, wo unzureichende Rationen und schlechte Hygiene herrschen. Tod und Krankheit in diesen Lagern sind extrem hoch ... Die von den Polen angewandten Methoden entsprechen ganz gewiß nicht der Potsdamer Vereinbarung ... Die Todesrate in Breslau hat sich verzehnfacht, und es wird von einer Säuglingssterblichkeit von 75 Prozent berichtet. Typhus, Fleckfieber, Ruhr und Diphtherie verbreiten sich.

 

Wie ist es möglich? Es sind 50 Jahre vergangen, und anstatt eine angemessene Würdigung des Geschehens zu geben, schweigt die Presse wie noch nie, als ob diese gewaltige Tragödie nicht geschehen wäre. Nicht nur die amerikanische, die britische, die französische, die polnische, die tschechische, die russische Presse schweigen –auch die deutsche schweigt, oder spricht zu leise und zu ängstlich. Im Februar dieses Jahres wurde die Auslieferung des Buches „Auge um Auge“ des amerikanischen Journalisten und Historikers John Sack gestoppt – von seinem eigenen deutschen Verleger, dem Piper-Verlag. Warum? Weil Sacks Buch angeblich „Zustimmung von der falschen Seite“ bekommen habe. Nun, welche ist „die falsche Seite“? Und welcher Oberzensor bestimmt das? Man hätte gedacht, daß in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, in einer Republik von mündigen Bürgern, die Presse- und Informationsfreiheit gewährleistet sein sollte. Nun schreibt John Sack, selber Jude, daß am Ende des Krieges sich manche polnische Juden an den zu vertreibenden Deutschen rächten, etwa in den Lagern in Swientochlowice und Lamsdorf in Oberschlesien.

 

Ich kenne Sack seit 25 Jahren, als ich Student in Harvard war und er gerade ein Buch über den Vietnam Krieg und über den Prozeß gegen Lt. William Calley wegen der My-Lai-Massaker publizierte. Ich habe Sack bei diesem Buche geholfen und das Manuskript gelesen. Es ist skandalös, dem deutschen Leser dieses Buch vorzuenthalten. Inzwischen höre ich von John Sack, der mich vor drei Wochen anrief, daß der Kabel Verlag in Hamburg das Buch tatsächlich angenommen hat. Abwarten.

Heute werden die sog. ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien allgemein verurteilt – im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in der Generalversammlung, in der Menschenrechtskommission. Alle sog. zivilisierten Länder lehnen die „ethnischen Säuberungen“ ab, einschließlich der Amerikaner,

Briten und Franzosen. Aber war die Vertreibung der Deutschen eben nicht eine viel größere, brutalere und mörderischere ethnische Säuberung? Millionen deutscher Frauen wurden vergewaltigt. Der Terror von Nemmersdorf und Methgethen zwang Millionen in die Flucht. Und die Bevölkerung, die nicht fliehen konnte, wurde in KZs interniert, vom Hab und Gut „befreit“, ausgeplündert, geschändet, vertrieben. Noch schändlicher ist die Tatsache, daß diese Verbrechen ganz offiziell begangen wurde, gedeckt durch das Mäntelchen der Legalität des Artikels XIII des Potsdamer Protokolls.

Die Idee der Kollektivschuld war 1945 an der Tagesordnung, und „die Deutschen“ hatten keine Rechte, so wie früher unter den Nazis „die Slawen§“, „die Juden“, „die Zigeuner“ keine Rechte hatten. Man kann nur hoffen, daß die Menschen diese absurde, unhistorische Idee der Kollektivschuld endlich ablehnen, daß sie verstehen, daß Schuld, wie Unschuld, persönlich und eben nicht kollektiv ist.

Darum kann ein Prinzip der Kollektivschuld ebensowenig für die Vertreibung wie für den Krieg selbst angewandt werden. Es besteht jedoch eine kollektive Sittlichkeit, die uns alle zu einem humanem Umgang miteinander verpflichtet.

 

Für mich als Amerikaner ist es kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es so schwierig ist, über die Vertreibung zu publizieren oder zu diskutieren, ohne schief angesehen zu werden – aber nicht etwa von Amerikanern oder Briten, sondern von Deutschen. Es sind deutsche Meinungsmacher, Politiker, Professoren, Gymnasiallehrer, die die Vertreibung der Deutschen tabuisieren, weil für sie diese Thematik nicht opportun sei, eben nicht „politisch korrekt“. Dies ist Hohn und Unbarmherzigkeit den Opfern gegenüber.

 

Man hätte gedacht, daß Konsensus darüber bestehe, daß aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft mit Ehrfurcht zu gedenken wäre. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, denn die Opfer der Vertriebenen werden systematisch heruntergespielt. Dies verstößt nicht nur gegen das Ethos der Wissenschaft, sondern auch gegen den fundamentalen Gedanken der Menschenrechte und der Gleichheit der Menschen.

 

Die Vertreibung gehört zu den folgenschwersten Ereignissen der Zeitgeschichte, weil durch sie ein in Jahrhunderten gewachsenes Zusammenleben von Slawen und Deutschen ausgelöscht wurde. Daher kann sie nicht einfach aus der gemeinsamen europäischen Erfahrung ausgeklammert werden.

 

Es ist die wissenschaftliche und moralische Pflicht des Historikers, geschichtliche Vorgänge zu erforschen und darzustellen, indem er die Fakten feststellt und sie in größere Zusammenhänge einordnet. Es ist einer freien Gesellschaft und einer freien Wissenschaft unwürdig, wenn man Zeithistoriker, die sich in seriöser Weise mit politisch heiklen oder gar unerwünschen Themen befassen, unterstellt, ihre Untersuchungen dienten bloß der „Aufrechnung“ oder „Apologie“ von Verbrechen. Das Bild einer Epoche wird unweigerlich verfälscht, wenn man um politischer Wirkungen willen bestimmte Teilbereiche ausblendet.

 

In der neuen Weltordung, die nach dem Ende des Kalten Krieges im Entstehen ist, braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität. Es ist zu hoffen, daß die neue Generation der Politiker, der Journalisten und der Historiker aus Polen, der Tschechischen Republik und der Russischen Föderation die Vertreibung der Deutschen in ihrer geschichtlichen Tragweite – und Tragik – und damit den eigenen Teil an Verantwortung erkennt und anerkennt. Gute Nachbarschaft verlangt gegenseitige Offenheit und die Bereitschaft, die eigenen Fehler zuzugeben. Diese Aufrichtigkeit hat der tschechische Präsident Vaclav Havel bereits in 1989, 1990, 1991 mehrfach bewiesen, als er bei verschiedenen Anlässen die Vertreibung der Sudetendeutschen als Verbrechen verurteilte. Am 17. Februar 1995 hielt Havel eine Rede über die deutsch-tschechischen Beziehungen an der Prager Karlsuniversität, die etwas abrückt von seiner moralischen und mutigen Haltung von 1989. Es ist zwar bedauerlich, daß die Ablehnung der Vertreibung nicht so deutlich ausgesprochen wird. Eine Erklärung dafür liegt vielleicht in der Haltung der deutschen Regierung und der deutschen Presse, die Havels Worte 1989 nicht mit Taten oder Vorschlägen folgten. Im Gegenteil. Die deutsche Regierung hat die Rechte der Sudetendeutschen so gut wie vergessen, und die deutsche Presse hat die Sudetendeutschen und die Vertriebenen überhaupt als Revanchisten und Friedensstörer verleumdet. Ist es also verwunderlich, daß Havel es nicht mehr für nötig oder sinnvoll hält, unter diesen Bedingungen eine Entschuldigung für die Vertreibung auszusprechen? Immerhin sollte man Havels frühes Beispiel nicht vergessen. Es war ein Anfang, und es gilt noch als eine Aufforderung an alle moralisch denkenden Menschen – in Polen, Rußland, in Großbritannien und Amerika, über die eigenen Verbrechen von damals und heute nachzudenken.

 

Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind andere Prioritäten in Europa entstanden. Um den Frieden zu gewinnen, geht es vor allem darum, die Menschenrechte sämtlicher Minderheiten zu sichern, nicht nur der deutschen Minderheiten in Polen, der Tschechischen Republik, Rumänien usw., sondern aller ethnischen und religiösen Minderheiten wie z.B. denen im ehemaligen Jugoslawien.

50 Jahre nach Kriegsende und nach der Vertreibung der Deutschen brauchen die ehemaligen Kriegsgegner vor allem Wahrheit, denn nur auf dieser Basis kann Vertrauen gebaut werden. Seit Jahren besuchen Politiker in ganz Europa die Gedenkstätten an die Opfer des Nazismus. Ich halte es für moralish und politisch notwendig, auch eine Gedenkstätte für die Opfer der Vertreibung zu bauen, etwa in Berlin, wo Millionen entkräfteter, kranker und halbverhungerter Vertriebener 1945 – 47 eingetroffen sind, nachdem sie ihrer Heimat beraubt worden waren. Das Denkmal an die Heimatvertriebenen sollte die Mahnung tragen: „Never Again“.

Heute am 8. Mai 1995 möchte ich die Worte Bundeskanzler Kohls in Erinnerung bringen, der „Achtung vor jedem Schiksal“ forderte. Er rief zu Toleranz bei der Einordnung dieses Tages auf, und rief zu Respekt für das Leiden von allen Opfern Leiden, das nicht zerredet werden darf.

 

In diesem Sinne lassen sie mich noch einmal auf die dignitas humana zurückkommen. Denn ich meine, daß die bisherige Perspektive, jene Perspektive von Kriegsverbrechen, von möglichen Aufrechnungen und Relativierungen, nichts mehr bringt. In der Tat ist diese legalistische Perspektive von Verbrechen nicht angemessen. Natürlich stellt die Vertreibung ein Megaverbrechen dar – aber sie war viel mehr. Sie war ein moralischer Abgrund, denn sie verneinte alle Traditionen und Bräuche des Abendlandes.

Sie verneinte die Menschenwürde und alle Menschenrechte. Somit sollen Sie die Vertreibung primär als ein menschenrechtsliches Problem ansehen. und diejenigen, die heute die Vertreibung tabuisieren oder bagatellisieren, oder nicht wahrhaben wollen – sie können es mit den Menschenrechten nicht ernst meinen.

 

Zum Schluß möchte ich an ein anderes Datum erinnern, an den 5. August 1950, als die deutschen Heimatvertriebenen ihre Charta verkündeten – ein Dokument der Hoffnung und der Versöhnung. Die Heimatvertriebenen verzichteten auf Rache Gewalt; sie verpflichteten sich zugleich zum Aufbau Europas. Die Vertriebenen haben Wort gehalten. Ihre Forderung nach Verwirklichung ihres Rechtes auf die Heimat ist aber bis heute nicht erfüllt worden. Dennoch kann keiner bestreiten, daß dieses Recht auf die angestammte Heimat ein Wesentliches ist. Darum sollen die Vertriebenen weiterhin darauf bestehen. Nun ist es eine Aufgabe der deutschen und der europäischen Politiker, das Recht auf die Heimat für alle Opfer ethnischer Säuberungen zu fordern – und die menschenverachtende Idee der „Bevölkerungstransfers“ aus dem politischen Wortschatz zu streichen. Begehen wir also den 8. Mai 1995 mit der Hoffnung, daß Politiker und Journalisten allmählich zu dieser Ansicht gelangen, denn es geht ganz einfach um die praktische Anwendung unserer Verpflichtung für die dignitas humana.

Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

1
Professor des Völkerrechts, Chicago.
Autor der Bücher:
Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen (Ullstein, Berlin. Englisch: Nemesis at Potsdam, University of Nebraska Press, $12.95);
Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle (Ullstein, Berlin. Englisch: The Wehrmacht War Crimes Bureau, University of Nebraska Press, $15,95);
Anmerkungen zur Vertreibung (Kohlhammer, Stuttgart. Englisch: A Terrible Revenge. The Ethnic Cleansing of the East European Germans 1944-1950, (St. Martin’s Press, New York, $15.95), The German Expellees (Macmillan, London).

2
Victor Gollancz, Unser bedrohtes Erbe, Zürich, 1947, S. (Englisch: Our Threatened Values, 1946, S. 96)

3
Foreign Relations of the United States, 1945, Vol II, S. 1290-92.

4
National Archives, Record Group 165, Records of the War Department TS OPD Message File, Telegramm No. S 28399 vom 18. Oktober 1945.