„Die Welt“ 2007-06-14

Andrei Plesu:
Deutsche, bekennt Euch zu Eurer Sprache!

Für die Eröffnungsrede des Festivals „Die Macht der Sprache“ haben sich die Organisatoren Andrei Plesu ausgesucht. Der frühere rumänische Kultur- und Außenminister erklärt, warum die Welt erwartet, daß Deutsche deutsch reden.

Der rumänische Kunsthistoriker und Religionsphilosoph Andrei Plesu fordert die Deutschen zu neuem linguistischen Selbstbewußtsein auf.
 
Die folgende Rede, die WELT ONLINE in Auszügen veröffentlicht, hielt Andrei Plesu am Donnerstag im Deutschen Bundestag. Das Goethe-Institut, der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und andere Institutionen wollen mit der zweitägigen Veranstaltung „Die Macht der Sprache“ die Bedeutung der Sprache in einer globalisierten Welt erörtern und ein breites Publikum anregen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen:

Friedrich II. von Hohenstaufen soll – von dem Wunsch beseelt, die „Ursprache“ der Menschheit auf experimentelle Weise wiederzufinden – befohlen haben, zwei Neugeborene von jeglichem sprachlichen Stimulus und von jedem Kontakt zum menschlichen Sprachbereich zu isolieren. Die beiden Kinder wurden folglich zwar ausgezeichnet gepflegt, doch niemand richtete ein Wort an sie und niemand sprach in ihrer Umgebung. Die beiden „Subjekte“, so hoffte der Kaiser, würden – angetrieben durch das angeborene Bedürfnis nach Kommunikation und ohne jedes äußere linguistische Modell – spontan beginnen, sich in der Ursprache der Zeit vor dem Turm zu Babel zu unterhalten.

Doch trotz genauestens überprüfter guter körperlicher Verfassung und einer echt prinzenhaften physiologischen Versorgung verstarben die beiden Kinder nach nur wenigen Jahren, verloren in einem Abgrund der Stummheit. Friedrich II. hat folglich nichts über die Ursprache in Erfahrung bringen können. Doch er erfuhr – zu einem Preis, den nur Kaiser zahlen können – etwas viel Wichtigeres: Daß das Sprechen kein Anhang des Menschlichen ist, kein nebensächliches Teil in seinem biologischen und sozialen Haushalt. Das Sprechen ist für den Menschen eine Realität desselben Ranges wie Nahrung und Luft – und es ist als solches lebensnotwendig.

Kein „Leben ohne Wort“
Beim Sprechen geht es nicht um eine einfache „Kommunikations“-Übung, wie ein beachtlicher Teil der modernen Linguistik geneigt ist anzunehmen. Sprechen bedeutet, deinen Gesprächspartner aufzubauen oder zu vergiften. Das Wort ist kein Nebenphänomen des Lebens und der Intelligenz. Im Gegenteil – es ist die Quelle der beiden, ihr Lebensrhythmus, kurz, ihr Atem. Zwischen dem Hauch des Geistes, der Beseelung des Lebens und dem Geist des Wortes herrscht folglich eine völlige Übereinstimmung. Lebendig sein und der Sprache mächtig sein, sind zwei simultane Wirkungen derselben Ursache. Auf menschlicher Ebene gibt es kein „Leben ohne Wort“ und kein „Wort ohne Leben“. ...

Die Macht des Wortes ist umfassender als sein linguistischer Wert – sie ist trans-linguistisch. Das Wort ist nicht nur signifikant, sondern auch erbaulich und stärkend. Es kann das Unkommunizierbare kommunizieren, eine Tatsache, die von der Forschung eher selten berücksichtigt wird, aber von den Schriftstellern aller Zeiten als eine Offenkundigkeit. ...

Sprache, ein Schleier vor unseren Gedanken
Die Macht des Wortes stützt sich auf zwei entscheidende Annahmen:

1. Das Wort ist nicht einfach ein Werkzeug des Menschen, sondern es ist Teil seines Wesens, und

2. Es hat ein weitaus umfassenderes Aktionsfeld als das der einfachen Kommunikation. „Wir können die Wörter benützen“, schreibt George Steiner, „um zu beten, zu segnen, zu heilen, zu töten, zu verstümmeln und zu foltern. Der Mensch schafft – und zerstört – durch Vermittlung der Sprache. ... Die autonome Macht des   menschlichen Sprechens hat keinerlei Grenze“.

Wir sprechen demnach nicht nur, um unsere Gedanken auszudrücken. Wir sprechen oft – so wie Talleyrand dies formulierte –, um unsere Gedanken zu verbergen. Kierkegaard ging noch weiter: Wir sprechen oft, um die Tatsache zu verbergen, daß wir nicht denken. Wenn Sprache und Sprechen eine solche Macht haben, dann haben jene, die sie benützen, eine enorme Verantwortung. Kurz vor seinem Tod sagte Sokrates zu seinem Freund Kriton: „Das schlechte Verwenden der Wörter ist nicht bloß ein Sprachfehler, sondern eine Art und Weise, den Seelen Böses anzutun.“ ...

Konfuzius: Die Dinge beim Namen nennen
Der Anspruch auf eine gute Verwendung der Sprache richtet sich vor allem an die Menschen und Institutionen, für die das Sprechen ein Beruf ist: an die Presse in allen ihren Varianten, die Schule auf all ihren Ebenen, an die Schriftsteller und Politiker. Aus dieser Ecke werden gültige und taugliche Kriterien für einen Lebensstil und ein menschenwürdiges Zusammenleben erwartet. Der Parlamentarier, der eine Rede hält, übermittelt nicht nur eine politische Botschaft, konterkariert nicht nur die Meinung eines Gegners – er bietet seiner Zuhörerschaft eine „manière d'être“ an, ein gewisses Verhaltens-Design, ein globales Gefühl der öffentlichen Ordnung und Werte.

„Was würdest du als erstes tun, wenn man dich mit den Regierungsgeschäften beauftragen würde?“, wurde einmal Konfuzius gefragt. Die Antwort lautete folgendermaßen: „Das Wesentliche ist, die Dinge korrekt zu benennen. Wenn die Bezeichnungen nicht korrekt sind, passen die Wörter nicht mehr. Wenn die Wörter nicht mehr passen, gehen die Staatsgeschäfte schlecht. Wenn die Staatsgeschäfte schlecht gehen, können auch Rituale und Musik nicht gedeihen. Wenn Rituale und Musik nicht gedeihen können, sind Urteile und Strafen nicht länger gerecht. Wenn Urteile nicht mehr gerecht sind, weiß das Volk nicht mehr, wie es sich verhalten soll. ...

Warum totalitäre Systeme der Sprache schaden
Die Tugenden und die ausstrahlende Macht der Sprache haben jedoch auch eine Kehrseite der Medaille, und diese resultiert aus rhetorischem Mißbrauch, ideologischer Mißbildung, lexikaler Armut, grammatikalischem Primitivismus, schlechtem Geschmack und Falschheit. Es gibt Phänomene der Vergewaltigung der Sprache, der Amputierung ihrer Energie oder der abweichenden, manipulierenden Verwendung ihrer Ressourcen. Mit anderen Worten, der Sprache bleiben manchmal – öfter sogar, als uns lieb ist – Episoden der Machtlosigkeit, der Ohnmacht oder des Deliriums nicht erspart. ...Wir sprechen über brain-washing, Manipulation und psychischen Terror. Für jemand, der wie ich aus dem europäischen Osten kommt, heißt all dies „hölzerne Sprache“. ...Die hölzerne Sprache ist ein Gemisch aus Armut und Redseligkeit.

Eine Statistik belegt, daß die Sprache der sowjetischen Presse, die zur Erziehung des „neuen Menschen“ berufen war, nur 1500 von insgesamt 220.000 im Wörterbuch der russischen Sprache verzeichneten Wörtern verwendete. ...Wir finden äquivalente Mißbildungen im Nazi-Diskurs, im kommunistischen Diskurs und, bis zu einem Punkt, in einer gewissen Demagogie der Französischen Revolution. Es gibt eine Holzsprache des Maoismus, eine der westeuropäischen intellektuellen Linken und eine der rechtsextremen Xenophobien. Mit dem von den beiden großen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts hervorgerufenen linguistischen Desaster läßt sich sicherlich nichts vergleichen. Es schadet aber nicht, besondere Vorsicht walten zu lassen bei den bereits „holzigen“ Komponenten des EU-Diskurses (Integration, Triumphalismus, Anti-Amerikanismus), des „liberalen Fundamentalismus“ – wie John Gray ihn nennt – der Säkularisation, des missionarischen amerikanischen Ethizismus, des Ökologismus, des Macho-Konservatismus und der Homo-Emanzipation.

Eine Inflation der Wörter
Durch die eigennützige Ausbeutung der Sprache kann jede Idee zu einem anämischen Schema, zum voraussehbaren Kunstgriff eines Dogmas reduziert werden. Jeder Sprecher ist ein potenzieller Manipulator seines Gesprächpartners. Jeder Diskurs ist ein Akt der Verführung – mit all den Risiken, die solch ein Akt voraussetzt. Und das vor allem in einer Epoche, in der Gott allem Anschein nach als Einziger das Schweigen gewählt hat. Es gibt mehrere Modalitäten, wie man durch und über die Sprache erkranken kann. So wie es mehrere Wege gibt, sich durch die Sprache zu retten. Für eine umfassende Inventur der klinischen Symptome und heilenden Rezepturen reicht die Zeit nicht aus. Ich beschränke mich auf drei zeitgenössische Disfunktionen. ...

I. Wir leiden auf planetarischer Ebene an einer Inflation der Wörter. Es wird enorm viel geredet. Zu Vorträgen, Konferenzen und über das Fernsehen übertragenen Debatten kommt heute das gesamte Arsenal der neuesten Technologien hinzu: Internet und Mobilfunk in erster Reihe. Weil man von überall mit jedermann sprechen kann, tut man das auch. ....Die verbale Askese, die restaurierende Disziplin des Schweigens, der hygienische.Rückzug aus dem inkontinenten Fluß des alltäglichen Geschwätzes könnte uns möglicherweise helfen, die ursprüngliche Frische des Ausdrucks, den wahren Wert eines jeden gesprochenen Wortes wiederzufinden. ...

Fremde Zungen entzweien die Menschen
II. Eine zweite Bedrohung unserer zeitgenössischen Welt ist – so seltsam es scheinen mag – der Monolinguismus, die provinzielle Einkapselung im eigenen Idiom, die Verweigerung der linguistischen Andersartigkeit. Es ist das, was ich als das Erbe des Turms zu Babel bezeichnen würde. Statt zu vereinen, entzweit die Sprache. ... Eine Stadt – wo sie auch liegen mag –, in der sich der Sprecher von zwei, drei Weltsprachen mit niemand verständigen kann – es sei denn durch Zeichen – ist zu diesem Zeitpunkt der Geschichte eine tote Stadt. Solche Städte gibt es, manche gar im Herzen von Europa. ...

III. Die letzte Gefahr aber, über die ich zu Ihnen sprechen möchte, besteht eben in einer möglichen Fehlentwicklung des Plurilinguismus: die Vernachlässigung und Minimalisierung der eigenen Sprache und – extrem – ihre Verachtung. Bei Punkt zwei hatte ich vor dem Risiko gewarnt, nur in der eigenen Sprache zu sprechen. Jetzt möchte ich das Risiko verdeutlichen, das in der Minimalisierung oder sogar Aufgabe der Sprache liegt, in die man geboren wurde. ... Im Namen ihrer Einzigartigkeit haben wir alle die Pflicht, uns mit größtmöglicher Sorgfalt um unsere eigene Sprache zu kümmern. Wir haben die Pflicht, sie zu erhalten, ohne sie verknöchern zu lassen, sie zu erneuern, ohne sie zu entstellen, und dafür zu sorgen, daß sie bei dem Auftritt vor aller Welt in ihrer optimalen Version erklingt. Auf Ihnen, meine Damen und Herren, lastet die große Verantwortung der Pflege der deutschen Sprache.

Wenn Sprache zum Himmel führt
Ich möchte Sie ermutigen, den Klang der deutschen Sprache ins Rampenlicht zu rücken, so oft das nur möglich ist. Ich weiß, das ist nicht einfach. Ich weiß, daß ein historisch bedingter Komplex Sie Zurückhaltung üben läßt gegenüber jeglicher politischer oder kultureller Verwertung des „nationalen Spezifikums“. ... Ein Kirchenvater wie Origines schrieb die Geburt der Sprachen den Engeln zu. Da jedes Volk einen bestimmten Schutzengel hat, kann angenommen werden, daß eben dieser Engel auch der Schutzpatron seines Sprechens ist, jener also, der den lokalen Sprachen „Form“ verleiht. Eine Sprache sprechen wäre demnach – aus dem Blickwinkel dieser Hypothese – das Gleiche wie das Vermitteln zwischen deiner Welt und der Welt der anderen, so wie der Engel zwischen der Welt der Menschen und der Welt Gottes vermittelt.

Die nationalen Sprachen sind unser Teil des Himmels. Wir haben die Pflicht, sie allen zur Verfügung zu stellen ... Mir bleibt jetzt nichts anderes mehr übrig, als Sie zu warnen, daß jedes Mal, wenn Sie Scheu oder „political correctness“-Skrupel dazu bewegen, nicht Deutsch zu sprechen, Ihr Teil des Himmels unerforscht bleibt und Ihr Engel melancholisch wird.

Der Autor dieses Textes Andrei Gabriel Plesu wurde 1948 in Bukarest geboren. Er studierte Kunstgeschichte und Philosophie, war Lizentiat für Geschichte und Theorie der Kunst, bevor er als Professor an der Universität Bukarest Kunstgeschichte und Religionsphilosophie lehrte. In der Ceausescu-Ära politisch verfolgt, gründete er nach der Wende in Bukarest das „New Europe College“ sowie die Zeitschrift „Dilemma“.
Von 1990 bis 1991 war er der Kultur- und von 1997 bis 1999 der Außenminister Rumäniens
.

Übersetzung: Malte Kessler