Das Ende einer Illusion
Israelis und Palästinenser brauchen einen gemeinsamen
Staat
Synagogen und Moscheen brennen in Israel und Palästina.
Bürger beider Seiten versuchen, sich umzubringen. Ist hier ein Religionskrieg
ausgebrochen? Ist der blutige Konflikt die Folge dessen, daß in Israel Religion und Staat
nicht getrennt sind? Wartet die Welt auf einen nahöstlichen Westfälischen Frieden? Ein
zweites Kosovo liegt in der Luft.
In der Tat, nicht wenige nehmen an, daß die Probleme im Nahen Osten aus einem
unterstellten Junktim zwischen Staat und Religion resultieren. Und womöglich haben sie ja
auch Recht. Denn wenn politische Konflikte zu religiösen werden, können sie nicht nur
außerordentlich brenzlig werden, sie können explodieren. Über Religion, sagt man,
läßt sich nicht streiten. Deswegen die Bereitschaft, für Jerusalem zu sterben, deswegen
der Streit über die Souveränität des Tempelbergs, der schließlich zur Lunte wurde, die
hier am Ende alles anzünden kann.
Andererseits: vielleicht stimmt diese Sichtweise nicht, vielleicht geht es gar nicht um
die Verknüpfung von Staat und Religion, wie so viele meinen. Vielleicht gehen wir nur
jener westlichen Legende auf den Leim, wonach die vom Staat dominierte Politik seit gut
350 Jahren erfolgreich daran ging, die Religion von der Staatssphäre zu verbannen. Wäre
dem so, müßten sich die jüdischen Israelis und die moslemischen Palästinenser nur
ebenfalls darauf verständigen, und die Region würde im Frieden leben.
Doch kaum ein Mißverständnis über den Nahen Osten dürfte schwerer
wiegen als dieses, das im Moment sogar die Juden in Deutschland in den Konflikt zieht, die
sich plötzlich als vermeintliche Auslandsposten Israels palästinensischen
Angriffen ausgesetzt sehen. Doch sehr viel mehr spricht dafür, daß die Religion gar
nicht das Problem ist, sondern eine enge Auffassung von Ethno-Nationalismus. Hier dürften
die wahren Gründe dafür liegen, daß sich die Region am Rande eines gleichzeitigen
Bürger-, Guerilla- und konventionellen Krieges befindet.
Auf den Müllberg
Die Region ist eins und untrennbar, weil man auch auf der israelischen Linken die
Rechnung ohne den Identitätswandel der israelischen Araber machte. Eine neue Generation
von Arabern ist in Israel aufgewachsen. Eine Generation, die durch Israels Nähe zum
Westen, durch das beste Erziehungssystem im Nahen Osten, durch Israels demokratische
Prinzipien zu einer ethnischen Gruppe heranwuchs, deren Mitglieder nicht mehr bereit sind,
Bürger zweiter Klasse zu sein. Sie stellen den zionistischen Legitimationsanspruch
Israels als jüdischen Staat in Frage und haben damit zur Kosmopolitisierung
Israels beigetragen.
Abgesehen davon haben die harten Reaktionen der israelischen Polizei in der letzten Woche
diesen Prozeß der Abkopplung von der staatstragenden Ideologie nur noch verstärkt.
Umgekehrt diente diese Abkehr den Rechten des Landes als weitere Bestätigung dafür, daß
die Palästinenser Israels nur eine fünfte Kolonne im Land sind. Und für die israelische
Linke ist die Illusion zerbrochen, daß diese Palästinenser sich weiterhin in einem
jüdischen Staat zu Hause fühlen können, wenn sie nur formale Rechte erhalten. Der
Unabhängigkeitskampf der Palästinenser jenseits der Grenzen Israels hat diesen Kampf in
das Landesinnere hineingetragen und wird so schnell nicht mehr von dort verjagt werden.
Diese "Exilpalästinenser" werden auf Dauer die Teilung der Region verhindern.
Das Problem ist also nicht die Religion. Religion kann mit und im Exil leben. Jerusalem
wird durch Souveränität nicht heiliger. Das Problem ist die Auffassung einer homogenen
Nation, die auf einem geschlossenen Territorium leben soll. Von diesem Konzept sollten
sich die jüdischen und nicht-jüdischen Israelis verabschieden. Die Lösung kann nur
kosmopolitisch sein, eine utopische Lösung, die über das bisherige Vokabular der Politik
herausgeht. Bis es dazu kommt, wird weiter geschossen werden.
NATAN SZNAIDER
Süddeutsche Zeitung, 12.Oktober 2000. Eingesandt von Gerhard Hanak.
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