Wolfgang Lazarek. 2001-09-26
Referat in privatem Kreis zur Einführung in das Thema
„Tschechoslowakei“

Die Gründung eines tschechoslowakischen Staates, bestehend aus Tschechen, Slowaken, Deutschen und Ukrainern, war von Anfang an ein historischer Fehlgriff. Es gibt kein Volk der Tschechoslowaken, sondern nur ein Volk der Tschechen und ein Volk der Slowaken, somit hätte es auch keine tschechoslowakischen Staatsbürger geben können.
Beide Völker sind zwar slawischen Ursprungs, jedoch in Ihrer Kultur und Geschichte sehr verschieden. So waren die Slowaken auf Jahrhunderte hinaus nach Ungarn gerichtet. Das Gebiet um Kaschau wurde von Ungarn besiedelt sowie auch der Raum um Nitra und Leutschau. In Leutschau lebte auch eine bedeutende deutsche, jahrhundertealte Minderheit in der Zips.

Der tschechoslowakische Staat entstand aufgrund des eigenen Nationalstrebens aus der Konkursmasse des alten österreichischen Kaiserreiches, dazu noch nach einem verlorenen Krieg. Damals sind auch in Europa noch weitere Staaten, insbesondere in Südeuropa, entstanden. Das Unglück war es, daß die Tschechoslowakei nicht das Selbstbestimmungsrecht, das sie für sich selber forderte, den anderen Völkern   zugestand, sondern von der Theorie der Unteilbarkeit der böhmischen Länder ausging, bzw. von der Idee, daß der neue Staat ohne die deutschen Gebiete nicht lebensfähig sei. Mit heutigen Augen muß man auch davon ausgehen, daß die Alliierten nach dem verlorenen 1. Weltkrieg niemals Deutsch-Böhmen einen Anschluß an das Deutsche Reich oder Österreich gestattet hätten, mit der einfachen Begründung, nachdem man Österreich besiegt hatte, möchte man dies nicht wieder strategisch stärken.
Man wollte auch nicht einen sudetendeutschen Staat schaffen, der sich wie eine Wurst um Böhmen erstreckte. Dazu hatten die tschechischen Truppen, meistens ehemalige „Legionäre“, von November 1918 an bis Mai 1919 durch den Einmarsch in die sudetendeutschen Gebiete Tatsachen geschaffen. Auch hier wurde die militärische Niederlage ausgenutzt – wie bei der Vertreibung im Jahre 1945.

Es wurden auch mehrfach, was gerade in Deutschland wenig bekannt ist, der sudetendeutschen Bevölkerungsgruppe Angebote zur Mitarbeit in dem neuen Staat unterbreitet, obwohl der tschechische Finanzminister Rasin die unglückliche Äußerung machte: "Mit Rebellen verhandeln wir nicht".
Wenn man in tschechischen Geschichtsbüchern nachschlägt, so kommt man auf damals vorherrschende Ideen wie die Schaffung eines allslawischen Reiches. Ideen, die insbesondere um den Kreis des Ministerpräsidenten Kramar verbreitet wurden. Man wollte dann z. B. alle Westslawen in einen Staat zusammenfassen, sogar unter Einbezug der Lausitzer Sorben.
Die erste tschechisch-slowakische Republik war im streng genommenen Sinne tatsächlich eine Demokratie. Es bestanden mehrere Parteien, u. a. waren auch deutsche Parteien und deutsche Minister an der Regierung in Prag beteiligt. Was jedoch fehlte, war ein sog. Minderheitenstatut, wie es jetzt in der italienischen Verfassung gegeben ist mit dem Südtirolstatut. Soweit war aber in den 20iger Jahren die Entwicklung im Völkerrecht noch nicht vorangeschritten.
Eine Demokratie kann von Anfang an entarten, wenn diese nach dem Mehrheitsprinzip verfährt und die Mehrheit der Tschechen und Slowaken die deutsche Minderheit überstimmt. Hier liegt eine Tragik der Sudetendeutschen, daß der neue Staat ihnen keine Minderheitsrechte zugestand und sie von der Mehrheit der tschechoslowakischen Abgeordneten im Parlament jederzeit überstimmt werden konnten.

Gerade die Entwicklung der Rechte von Minderheiten war ein ungelöstes Problem der 20iger Jahre. So lebten z. B. in dem neugeschaffenen polnischen Staat erhebliche deutsche Minderheiten in Oberschlesien, Pommern und Posen. Auch diesen wurden Minderheitsrechte vorenthalten, daher sind zwischen den Kriegen etwa 1,5 Millionen Volksdeutsche nach Deutschland ausgewandert bzw. geflohen.

Der neue tschechische Staat, der sich immer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen hatte und sich aus dem angeblichen „Völkerkerker Österreich“ gelöst hatte, war nicht bereit, die für sich selber  geforderten Rechte anderen Minderheiten zuzugestehen. Die Slowaken wurden niemals gefragt, ob sie freiwillig einer neuen Tschechoslowakei angehören wollten.
Man muß auch davon ausgehen, daß der Anschluß Deutsch-Böhmens 1919 an Österreich niemals von den Alliierten geduldet worden wäre. Einen Anschluß Deutsch-Böhmens ans Deutsche Reich wollten die Sudetendeutschen selber nicht. Ein Anschluß an Deutschland hätte man sich nur vorstellen können, wenn Deutschland und Österreich ein gemeinsamer Staat werden, gerade dies wurde jedoch durch den Versailler Vertrag ausdrücklich verboten. Hier hätte sich die Lösung eines autonomen sudetendeutschen Staates empfohlen, was jedoch, wie bereits erwähnt, durch tschechisches Militär verhindert wurde.

Selbst bei einer Abtretung der deutsch-böhmischen Gebiete wäre die Minderheitsfrage nicht gelöst gewesen, denn es gab ja noch bedeutende deutsche Minderheiten in den Sprachinseln um Iglau, Wischau. Brünn, Olmütz  und in der ZIPS – und auch in Prag. Man hätte also mit einem eigenen sudetendeutschen Staat im Jahre 1919 die Probleme der deutschen Minderheit im Innertschechischen nicht gelöst. Diese Problematik kannte man bereits 1918. Die Lösung war kein Minderheitenstatut und kein Selbstbestimmungsrecht, sondern die sog. Mehrheitsdemokratie. Das führende Staatsvolk der „Tschechoslowaken“ war dann immer in der Mehrheit und konnte die arithmetische Minderheit der Deutschen überstimmen.

Aber es sollte nicht verkannt werden, daß in der ersten tschechischen Republik eine kulturelle Vielfalt bestand. Viele Emigranten fanden ihre zweite Heimat in Prag. Die Deutschen Universität in Prag und die Deutsche Technische Hochschule in Brünn existierten weiter.

Aber was nützt es uns heute, darüber zu diskutieren, ob und inwieweit die Entstehung der Tschechoslowakei ein Unrecht war oder nicht.
Die Tschechen sehen in der Begründung ihres Staates, der nach der „Schlacht am weißen Berg“ 1618 nicht untergegangen ist, die Verwirklichung der eigenen unabhängigen Staatsidee. In der Geschichte fast jeden Volkes gibt es Epochen des Unrechtes, die jedoch durch die normative Faktizität Recht werden können. Waren nicht die amerikanischen Freiheitskämpfer auch Rebellen gegen die Engländer? Wir müssen uns heute damit abfinden, daß dieser Staat existiert und wir mit diesem Nachbarn zusammenleben müssen. Nachbarn kann man sich bekanntlich, wie Geschwister, nicht aussuchen.
Auch die Tschechen müssen ihren Palatzky überwinden, nämlich die Idee, daß sie die Speerspitze des Westslawentums seien und jahrhundertelang sich gegen eine Zwangsgermanisierung zur Wehr setzen mußten, wobei das Tschechentum an den Rand gedrückt wurde.

Nur in gegenseitigen Gesprächen und Treffen kann ein Verständnis für den Standpunkt des anderen entstehen, indem wir uns gegenseitig näher kommen. Die deutsche und tschechische Geschichte besteht nicht allein aus den Jahren von 1918 bis 1945. Hier waren dunkle Punkte, andererseits gab es in den früheren Jahrhunderten, als man noch keinen Nationalismus kannte, blühende Zeiten im 16. und 17. Jahrhundert. Auch unter tschechischen Geschichtswissenschaftlern wird das alte Österreich-Ungarn nicht mehr verteufelt oder als Tomo (Zeit der Finsternis) angesehen.

Konnte man nicht vor 1918, wenn man aus Prag, Preßburg oder Karlsbad stammte, in Deutschland oder Österreich herumreisen, seinen Wohnsitz begründen oder eine Arbeitsstelle antreten? Von einer solchen Lösung sind wir heute noch weit entfernt. Vielleicht schaffen wir es hundert Jahre nach dem Untergang des alten Österreich, dort neu anzufangen, wobei wir den Bürgern erst einmal die Rechte geben sollten, die sie vor 1918 hatten. Auch aus tschechischer Sicht fängt dieser neue seit 1993 bestehende Staat dort an, wo der Beginn 1918 hätte sein sollen.

Die Slowaken haben ihren eigenen Staat, es liegt nun ein homogener Staat der Tschechen vor. Unter tschechischen Historikern und manchen mir persönlich bekannten Abgeordneten wird offen eingeräumt, daß Böhmen und Mähren der gemeinsame Siedlungsraum für Deutsche, Tschechen und früher noch für Juden gewesen ist. Gleichzeitig haben diese verehrten Herren mir jedoch zu verstehen gegeben, daß sie diese Auffassung noch nicht offen in Prag äußern können. Hoffen wir also auf mehr Verständnis in der Zukunft.