Der Streit um die Beneš-Dekrete geht weiter

Tschechiens Präsident Klaus auf Staatsbesuch – Unionspolitiker stimmten gegen Prager EU-Beitritt

von Gernot Facius

Berlin/München • Der Meinungskampf um die Beneš-Dekrete geht auch nach der Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Aufnahme Tschechiens in die EU weiter; er verlagert sich zurück auf die deutsche politische Bühne. Fast zeitgleich mit der Straßburger Entscheidung und dem ersten Besuch des neuen tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus in Berlin hat der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL), der bayerische Landtagspräsident Johann Böhm (CSU), eine „feierliche Rechtsverwahrung“ eingelegt. Böhm begründet diesen Schritt damit, daß in der tschechischen Rechtsordnung noch immer Vorschriften verankert seien, die „völker- und menschenrechtswidrige Handlungen und Rechtsakte anordnen oder rechtfertigen“.

Mit diesem Argument hatten am Mittwoch die zehn CSU-Europaabgeordneten geschlossen gegen den Prager EU-Beitritt gestimmt. Auch fünf CDU-Vertreter sagten Nein, neun enthielten sich eines Votums. Die CDU-Vorsitzende Merkel hatte sich nach Informationen aus dem Parteipräsidium zuvor um eine größtmögliche Zustimmung bemüht.

Böhm thematisiert in der „Rechtsverwahrung“ auch die „bis heute reichenden Auswirkungen der Verweigerung des Rechts auf die Heimat und der Entschädigung für konfiszierte Vermögenswerte“. Er kommt zu dem Schluß, daß die Vertreibung den Zweck hatte, die Identität der Sudetendeutschen als Volksgruppe zu zerstören, und deshalb im völkerrechtlichen Sinne von einem „Genozid“ zu sprechen sei. Die „Rechtsverwahrung“ wurde der Bundesregierung in Berlin, der österreichischen Regierung, EU-Parlament, EU-Kommission und der EU-Ratspräsidentschaft übermittelt. Die Sudetendeutschen begrüßten die EU-Erweiterung, hob Böhm hervor. Aber Tschechien dürfe in diese Rechts- und Wertegemeinschaft nicht den „mitgebrachten Unrechtsballast“ tragen. Ähnlich äußerte sich der Bundesvorsitzende der SL, der CSU-Europaparlamentarier Bernd Posselt. Die Aussage von Staatspräsident Klaus, daß die Vertreibung aus heutiger Sicht eine „unannehmbare Tat“ gewesen sei, stellt Vertriebenensprecher nicht zufrieden. Sie drängen, mit Rückendeckung durch die CSU und Ministerpräsident Stoiber, darauf, daß „integrationsfeindliche“ Bestimmungen für ungültig erklärt werden. Klaus hingegen tritt dafür ein, daß dieses Problem „den Historikern überlassen“ werde, ein Standpunkt, den auch die rot-grüne Bundesregierung teilt.

Bei dem gestrigen Antrittsbesuch von Klaus in Berlin kam auch das Thema Irak zur Sprache. Der tschechische Präsident distanzierte sich vorsichtig von der Befürwortung des Kriegs durch seinen Vorgänger Václav Havel. Bei einem Mittagessen auf Einladung von Bundespräsident Johannes Rau betonte Klaus, die Tschechische Republik sei bereit, sich bei der Abwendung einer humanitären Katastrophe im Irak zu beteiligen. Sie sei jedoch kein Mitglied der Kriegskoalition.

DIE WELT 2003-04-11