Charta Gentium et Regionum
Europäische Charta der Völker und Regionen
Präambel
Die Parlamente und Regierungen der Staaten Europas sind aufgerufen, zur Zielsetzung eines
neuen Zeitalters der Demokratie, des Friedens und der Einheit (Charta von
Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990) mit einer auch den individuellen
Menschenrechten dienenden Ergänzung durch Gruppenrechte in Form eines zusätzlichen
Rahmens beizutragen.
Ein Minimum an Gruppenrechten ist allein schon notwendig, weil sonst die individuelle
Gleichheit für Angehörige ethnischer Minderheiten nur eine formale, keine faktische ist
und weil die einer faktischen individuellen Gleichheit dienende Gruppenidentität
geschützt werden muß.
Eine dauerhafte demokratische Friedensordnung auch als stabile Grundlage der
Vereinigung Europas setzt voraus, daß über ein Mindestmaß an Gruppenrechten
hinaus ethnische und regionale Identitäten, angestammte Mehrheiten und Minderheiten
größtmögliche Autonomie und sogar föderalistische und Selbstbestimmungsstrukturen
erhalten, um so Konflikte und potentielle Konfliktherde zu vermeiden. Konflikte
sollten nicht erst ein gewisses Ausmaß erreichen oder gar zu blutigen Konflikten, bis hin
zur Vertreibung und zum Genozid, werden müssen, bevor das gleiche Recht auf Identität
durch Gruppenrechte akzeptiert und Autonomie, Föderalismus und Selbstbestimmung zu einem
europäischen Thema werden.
Mindestmaßnahmen
Artikel 1
Die Einräumung von Kultur- und Bildungsautonomie, der Schutz durch Zwei- bzw.
Mehrsprachigkeit im öffentlichen Leben, ein eigenes Erziehungswesen und
muttersprachlicher Unterricht in öffentlichen Schulen, eigene Kultureinrichtungen samt
Finanzierung, der Zugang zu Kommunikationsmedien, der Schutz der ökonomischen und
ökologischen Lebensbedingungen sowie das Recht vertriebener Völker und Volksgruppen sind
für alle Ethnien, ethnische Mehrheiten und Minderheiten in ihrem Siedlungsgebiet, als
sofortige Mindestmaßnahme unerläßlich.
Artikel 2
Die Mitwirkung am öffentlichen Leben durch eine gesicherte Vertretung in den politischen
Institutionen, insbesondere im Wege eines die substantielle Gleichstellung der
Volksgruppen ermöglichenden Wahlsystems, der Zugang zum öffentlichen Dienst und zu den
diesen betreffenden Entscheidungsprozessen, die angemessene Beteiligung an den
wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen ihres Siedlungsgebietes sowie ungehinderte
Kontakte zu ihren Muttervölkern und zu anderen Volksgruppen müssen hinzukommen.
Artikel 3
Den Freiraum einschränkende Grenzen sollten überdies möglichst weitgehend überwunden
werden: durch Einrichtungen wie grenzüberschreitende Regionen,
Doppelstaatsbürgerschaften oder regionale Landesbürgerschaften, soweit sie gewünscht
werden und geeignet sind, Konflikte und Identitätsprobleme zu lösen, und vor allem durch
die Weiterentwicklung der Europabürgerschaft besonders für ethnische Gemeinschaften.
Autonomie
Artikel 4
Ethnischen Gemeinschaften, die in ihren regionalen bzw. lokalen Siedlungsgebieten
Mehrheiten sind, ist Autonomie als Territorialautonomie, ethnische Minderheiten
(Streuminderheiten) Personalautonomie im gewünschten Ausmaß und in der gewünschten Form
zu eröffnen.
Artikel 5
Personalautonomie sollte sich im wesentlichen als Sprach-, Kultur- und Bildungsautonomie
(samt notwendiger Finanzautonomie), Territorialautonomie darüber hinaus als ebenfalls dem
Subsidiaritätsprinzip entsprechende Gesetzgebung und Vollziehung darstellen.
Artikel 6
Autonomen Regionen und vor allem ethnischen Gemeinschaften sollte eine Mitbestimmung durch
weisungsgebunden Vertreter in den Zweiten Kammern der nationalen Parlamente eröffnet
werden, die auch durch eine Zweite Kammer im Europäischen Parlament (zusammen mit den
Vertretungen der Ersten Kammern der nationalen Parlamente) an europäischer Willensbildung
zu beteiligen sind.
Artikel 7
Eine originäre Staatlichkeit vermittelnde Verfassungsautonomie der Ethnien und der
Regionen (Föderalismus) kann darüber hinaus ein hohes Maß an Identität, Selbst- und
Mitbestimmung, Demokratie, die die Stabilität und Kontrolle vermehrende Machtteilung und
damit Konfliktvermeidung und Konfliktregelung erreichen und sollte daher als autonome
Regionalstaaten auch dann Verwirklichung finden, wenn nicht das ganze Staatsgebiet
föderalistisch gegliedert ist.
Selbstbestimmung
Artikel 8
Unabhängig von der Frage, wie weit das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht, muß
Selbstbestimmung zum durchgängigen Organisationsprinzip zum Zwecke der Vermeidung von
Fremdbestimmung für große und kleine Völker, Volksgruppen und Regionen werden.
Artikel 9
Hierbei kann die Vermeidung des Entstehens neuer Nationalstaaten und die Erhaltung von
Einheiten zumindest im Ausmaß der wünschenswerten europäischen Einheit auf der
Grundlage der Gleichordnung der europäischen Integration dienen.
Wenn die Integration auf föderalistischen Strukturen aufbaut, bringt sie allen
Beteiligten mehr Selbstbestimmung und Stabilität als eine Aufsplitterung in
Nationalstaaten.
Artikel 10
In diesem Rahmen dient die Selbstabgrenzung einem echten Föderalismus, während nicht
selbstbestimmte Gliederungen und Grenzen in einem sogenannten Föderalismus
Fremdbestimmung bedeuten.
Brünn im Oktober 1994
Die Unterzeichner:
Prof. Dr. Fried Esterbauer,
Dr. Rudolf Hilf,
Prof. Dr. Josef Stingl (Internationales Institut für Nationalitätenrechte und
Regionalismus, München),
Prof. Dr. Ferdinand Kinsky (Centre International de Formation Europeenne, Nice-Paris),
Romedi Arquint ( Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen, Flensburg),
Tilman Zülch (Gesellschaft für bedrohte Völker, Hamburg),
Prof. Dr. Silvo Devetak (ISOOMET, Maribor),
Prof. Dr. Peter Pernthaler (Institut für Föderalismusforschung, Innsbruck),
Dott. Melita Richter Malabotta, MA (Centro die Ricerche Etnico Politiche
Internazionale, Roma-Trieste).
Der Vorschlag wurde in einer ersten Fassung anläßlich einer Tagung des Internationalen Institutes für Nationalitätenrecht und Regionalismus in Brünn vorgelegt und anschließend in 28 Sprachen an die Parlamente und Regierungen Europas übermittelt.
Quelle : Zeitschrift GENIUS 1994
dankenswerterweise vermittelt von Herrn Reiner Elsinger
ML 2006-07-19