7.3.2001   Karl Feldmeyer  Frankfurter Allgemeine Zeitung 

Wie der Staat mit aller Rechtsmacht den Rechtsstaat niedermäht:
Axel von dem Bussches Forst wird verkauft

Wieviel Unrecht verträgt ein Rechtsstaat? Lassen sich Selbstverständnis und Anspruch eines Staates, Rechtsstaat zu sein, mit der Hinnahme von Unrechtstatbeständen, ja ihrer Schaffung überhaupt vereinbaren?
Das ist nicht nur eine rechtsphilosophische Frage, sondern eine, die sich im wiedervereinten Deutschland konkret und drängend stellt. Die Regierung Kohl hat diese Frage in ihrem Regierungshandeln bejaht und offensichtlich bewußt gegen das Grundgesetz verstoßen.

In diesen Wochen stellt sich diese Frage in exemplarischer Zuspitzung wie in einer Parabel. Der Mann, an den sie sich vor allen anderen richtet, ist nicht mehr Kohl, sondern sein Nachfolger, Bundeskanzler Schröder.
Vor einigen Tagen ging im Bundeskanzleramt ein Brief ein. Er wies auf einen Vorgang hin, den man – so hat es das Berliner Kammergericht entschieden – als einen Akt staatlicher Hehlerei bezeichnen darf. Die BVVG – die Bundes-Verwaltungs- und Verwertungs-Gesellschaft –, also jene Behörde des Bundesfinanzministeriums, die das in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 enteignete Eigentum zu verkaufen hat, ist derzeit damit beschäftigt, die 420 Hektar Wald der Georgshöhe bei Thale im Ostharz zu verkaufen. Was diesen Wald zu einem ganz besonderen macht, ist nicht seine forstliche Qualität. Es ist die Person seines letzten rechtmäßigen Eigentümers: Axel von dem Bussche.

Bussche, der 1993 starb, wurde nach der Gründung der Bundesrepublik so etwas wie eine Ikone des jungen Staates. Das alljährlich wiederholte Bekenntnis zu ihm und seinen Mitverschworenen war die Personifizierung des Anspruchs, ein Rechtsstaat zu sein. Er repräsentierte das, wovon die Bundesrepublik ihren moralischen Existenzanspruch herleitete: das „Andere Deutschland“, jenes, das den kriminellen Charakter des NS-Regimes nicht nur erkannt, sondern auch den Mut aufgebracht hatte, daraus die Konsequenz des Widerstandes zu ziehen. Axel von dem Bussche war einer der wenigen, die bereit waren, sich selbst zu töten, um Deutschland und die Welt von Adolf Hitler zu befreien.

Im Oktober 1942 wurde Bussche Augenzeuge der Erschießung von etwa fünftausend Juden auf dem Flugplatz Dubno in der Ukraine. Seither war er entschlossen, Hitler zu töten. Ende 1943 war alles vorbereitet. Bussche sollte Hitler bei der Vorführung verbesserter Kampfuniformen für Sekunden an sich drücken und sich zusammen mit ihm durch eine am eigenen Körper befestigte Sprengladung töten. Ein Bombenangriff, der die Ausrüstung zerstörte, vereitelte alles. Bussche fuhr zurück an die Front. Den Sprengstoff hatte er noch in seinem Tornister, als er schwer verwundet in das Zentrallazarett der Waffen-SS nach Hohenlychen in der Uckermark gebracht wurde – eine medizinische Vorzugsbehandlung für den Ritterkreuzträger des Heeres. Amputiert und schwerstverletzt überlebte er, weil ihn die Häscher des Führers nach dem 20. Juli nicht entdeckten.

So konnte er der jungen Bundesrepublik hilfreich werden: Anfang der fünfziger Jahre beim Aufbau der Botschaft in Washington, dann auch andernorts. Die Achtung der Majestät des Rechts, die Ächtung der Willkür und der Rechtsmanipulation, das war das Fundament. Es schien stabil – bis zur Wiedervereinigung.
Daß dieser Schein trog, erwies die Entscheidung der Bundesregierung, den Vermögensraub (getarnt als „Boden- und Industriereform“) – eine Terrormaßnahme, bei der Enteignung, Vertreibung, Verhaftung und Tötung der Opfer in vielen Fällen zusammenfielen – beizubehalten und damit ein Ausnahmerecht zu schaffen, das den Anspruch der Betroffenen auf Gleichheit vor dem Gesetz leugnete. Die Schutzbehauptung der Regierung Kohl, die Beibehaltung der Bodenreform sei von Moskau 1990 zur Bedingung für die Zustimmung zur Wiedervereinigung gemacht worden, hat sich längst als frei erfunden und als vorsätzliche Irreführung des Parlaments zur Erschleichung seiner Zustimmung zu dieser Ungeheuerlichkeit erwiesen. All das ist seit langem ebenso bekannt wie die Weigerung der großen Mehrheit der Deutschen, sich darüber zu empören.

Was diesem Sachverhalt nun doch noch peinliche Beachtung verschafft, ist der Fall Bussche. Er war eigentlich nicht vorgesehen, denn für die Opfer der braunen Diktatur waren von Anfang andere Regelungen vorgesehen. Wer unter Hitler – als Jude oder als Beteiligter an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 – um sein Hab und Gut gebracht worden war, dessen rechtsstaatlich begründeter Anspruch auf Rückgabe wurde durch die Wiedervereinigung nicht berührt. Die Rückgabe setzte für die Verschwörer gegen Hitler freilich voraus, daß sie damals entdeckt und enteignet worden waren – wie die Hardenbergs beispielsweise. An diejenigen aber, die damals unerkannt geblieben waren, dachte der Gesetzgeber nach 1990 nicht. Lag ihr Besitz nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und wurde er im Rahmen der „Bodenreform“ enteignet – so wie im Fall Bussche – so ging er 1990 in der Regel in den Besitz der Bundesregierung über. Die aber beschloß, ihn meistbietend zu verkaufen, statt ihn ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben.

Insofern ist der Verkauf von Bussches Eigentum nichts Besonderes, sondern nur ganz normales Unrecht, so wie es nach 1990 in Deutschland wieder gang und gäbe geworden ist. Zu ihm gehört auch die Indifferenz, wenn nicht Zustimmung der großen Mehrheit – alles Phänomene, die in der deutschen Zeitgeschichte nicht neu sind. Was sie zur Besonderheit macht, ist das Ausmaß des Widerspruchs zwischen dem, was geschieht, und dem, was Rechtsstaatlichkeit zwingend erfordert: die Rückgabe dessen, was Bussche geraubt wurde. Wenn andere Staaten Persönlichkeiten, denen sie sich besonders verpflichtet wissen, Dotationen zukommen lassen, dann kann es darüber, daß die Rückgabe des Eigentums das mindeste ist, wozu der Rechtsstaat verpflichtet ist, keine Meinungsunterschiede geben.

Das, was die Bundesregierung im Fall Bussche versucht, darf nach einem Urteil des Berliner Kammergerichts vom Dezember als Hehlerei bezeichnet werden. Das entspricht offenkundig der Bewertung derjenigen, denen die BVVG den Wald zum Kauf angeboten hat. Zwei Interessenten – einer aus den alten und einer aus den neuen Bundesländern – traten von ihrer Kaufabsicht zurück, als sie erfuhren, wer der rechtmäßige Eigentümer des Waldes ist, und entsprechend verhielten sich als Gutachter verpflichtete Forstleute: Sie lehnten es ab, zum Zustandekommen dieses Geschäfts durch ein Wertgutachten beizutragen.

Der Beachtung wert ist aber auch die Person dessen, der Kanzler und Ministerpräsident auf den Fall aufmerksam gemacht hat: Albrecht von Maltzan. Sein Schwiegervater, der frühere preußische Oberlandforstmeister Achim Freiherr von Willisen, kam wie Bussche aus dem Infanterieregiment 9. Wie er gehörte er zu den Verschwörern des 20. Juli, wie Bussche entging Willisen der Entdeckung durch SD und Gestapo, und wie Bussches so wird auch seiner in der Gedenkstätte des Deutschen Widerstandes im Bendlerblock namentlich gedacht. Mit Bussche teilt er auch die Enteignung durch DDR und Bundesregierung, denn er erhielt seinen Wald ebensowenig zurück wie sein einstiger Regimentskamerad.

Aber es ist nicht der Eigentumsaspekt, der Maltzan dazu veranlaßt hat, den Bundeskanzler selbst auf den Fall Bussche hinzuweisen, dessen eigentlicher Kern die Gefährdung des Rechtsstaats ist. Sollte der Kanzler – was man kaum erwarten darf – den Brief selbst lesen, dann müßte ihm jene Passage ins Auge stechen, die auf das Ereignis eingeht, das 1934 den Verlust des Rechtsstaats in Deutschland für alle sichtbar machte – auch, wenn sie es nicht sehen wollten; also auch damals die Mehrheit. „Nach den Morden des 30. Juni 1934, dem Röhmputsch, bemühte sich ein kleiner Kreis deutscher Staatsbürger, auch mein Vater, um ein ordentliches Strafrechtsverfahren gegen den Reichskanzler Hitler und den Reichsinnenminister Göring. Einige hohe Richter verhinderten es unter Berufung auf die Interessen und die Sicherheit des Staates mit einer Intervention beim Reichsgerichtspräsidenten Bumke, der dieser mit seinem unglückseligen Zeichen ,in Ordnung Bumke‘ die Zustimmung erteilte. Die Begründung der Antragsteller, ,so hoch der Himmel über der Erde, so hoch steht das Recht über allen Nützlichkeitsüberlegungen‘, wurde damals öffentlich vielfach verlacht“, schreibt Maltzan dem Kanzler.

Damals, vor nunmehr siebenundsechzig Jahren, sorgte sich der Vater um den Rechtsstaat. Wie recht er hatte, wissen wir heute besser, als er es wissen konnte. Wie begründet die Sorge des Sohnes heute ist, muß die Zukunft erweisen. Erschrecken aber macht schon jetzt die Erkenntnis, wie gering die Bereitschaft ist, aus der Erfahrung zu lernen, sobald die Konsequenzen als politisch unbequem empfunden werden.