"Drehscheibe Brünn". Eine Ausstellung im Tschechischen Zentrum in Berlin.

Das Tschechische Zentrum in Berlin zeigt bis 20. Oktober 2000 in seinen Räumen in der Leipziger Straße 60 die beiden Ausstellungen "Drehscheibe Brünn. Deutsche und Österreichische Emigranten 1933 – 1939", zusammengestellt von der unseren Lesern wohlbekannten Journalistin Dora Müller, Brünn, und "Jaroslav Kucera: Das Sudetengebiet in den neunziger Jahren" mit Fotografien aus einer Welt am Rande der Gesellschaft mit ökologischen Problemen, Prostituierten, der schwierigen sozialen Situation der Roma, zerstörten Dörfern und vereinsamten Menschen.

entnommen aus der Kulturpolitischen Korrespondenz 1129, Seite 2, von 2000-10-10

Brünn in Berlin  Tschechen und Slowaken in Europa
Im September dieses Jahres stand das Tschechische Zentrum Berlin ganz im Zeichen des zehnten Bohemicum-Slovacicums, eines Gemeinschaftsprojektes der Humboldt-Universität Berlin, der Karls-Universität Prag, des slowakischen Instituts Berlin und des gastgebenden Schwesterinstituts sowie der diplomatischen Vertretungen der beiden Länder. Das Programm hatte als Motto: "Tschechen und Slowaken in Europa. Wege zur Demokratie".
Neben Hochschul-Intensivkursen tschechischer und slowakischer Sprache wurde eine reiche Auswahl an Vorträgen, Lesungen, Filmvorführungen und Ausstellungen geboten.

Volker Zimmermann, Projektmitarbeiter am Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Universität Düsseldorf, sprach über den "Reichsgau Sudetenland". Anhand von Themen wie Gleichschaltung, Krieg und Widerstand wurde ein Überblick über die Geschichte der Sudetendeutschen im NS-Staat geboten und die Frage erhoben, ob der Jubel der Menschen mit der Zeit einer differenzierteren Sichtweise gewichen sei, und wie Juden, Tschechen und NS-Gegner die Herrschaft der Nationalsozialisten im "Reichsgau" erfahren haben. Detlef Brandes, ebenfalls von der Düsseldorfer Universität, befaßte sich mit dem "Protektorat Böhmen und Mähren", Sárka Nepalová von der Karls-Universität Prag sprach über die Situation der tschechischen Juden 1938 – 1948. Sie informierte über die zunehmend antisemitische Stimmung im Land nach dem Münchner Abkommen, über die "Arisierung" jüdischen Besitzes bis hin zur Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern, aber auch über die Unregelmäßigkeiten bei der Rückgabe jüdischen Eigentums und die antisemitischen Ausfälle, die nach 1950 in den offiziellen "Kampf gegen den Zionismus" mündeten und viele der überlebenden Juden zur Emigration nach Westeuropa, in die USA und nach Israel zwangen.

Großes Interesse fand die im Foyer des Zentrums installierte Fotoausstellung "Das Sudetengebiet in den neunziger Jahren" des 1946 geborenen Prager Fotografen Jaroslav Kucera. Seine Bilder zeigen Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zu menschenleeren Landschaften wurden und heute, neu besiedelt*), ganz anderen Problemen gegenüberstehen. Eine Welt mit ökologischen Wundstellen, zerstörten Dörfern, vereinsamten Menschen, nicht zuletzt Prostituierten, wird hier in brillantem Schwarzweiß dokumentiert.

In Anwesenheit des tschechischen Botschafters Frantisek Cerny eröffnete der Direktor des Tschechischen Zentrums, Jan Bondy, im großen Saal des Erdgeschosses die vom Deutschen Kulturverband der Region Brünn initiierte Ausstellung "Drehscheibe Brünn. Deutsche und österreichische Emigranten 1933 –1939". Das schöne Tschechische Zentrum in der Leipziger Straße ist bereits die achte Station dieser Ausstellung. Sie stellt das Schicksal von Schriftstellern, Künstlern und Politikern dar, die auf der Flucht vor den Nazis in Brünn Aufnahme fanden, hier unter dürftigsten Bedingungen zum Teil hervorragende Werke schufen und das geistige Leben der Stadt wesentlich beeinflußten, ehe sie der nahende Terror weitertrieb. Ziel der Ausstellung ist es auch, vor allem jüngere Besucher mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich bekannt zu machen und gleichzeitig zu zeigen, daß es im damaligen Deutschland auch entschiedene Hitlergegner gab, daß gerade Österreich das Land war, wo 1934 der erste bewaffnete Aufstand gegen den Nationalsozialismus auf europäischem Boden stattfand, und daß es in den Sudetenländern neben dem berüchtigten Sudetendeutschen Freikorps auch eine Republikanische Wehr gab, die unter der Führung von Ernst Paul bereit war, die Demokratie bis zum letzten zu verteidigen. Schließlich weist die Ausstellung auf die damalige tschechisch-deutsche Solidarität und auf die Hilfe hin, die tschechische Intellektuelle deutschen Kollegen zukommen ließen.

Das alles und die zahlreichen schmückenden Beiwörter, mit denen Brünn versehen wird (Vorort Wiens, Mekka der funktionalistischen Architektur, Stadt des Masaryk-Rings, mährisches Manchester), gab zur Eröffnung auch Viera Koleková, Leiterin des Ressorts für Auslandsbeziehungen beim Brünner Magistrat, zum besten und zu bedenken, wobei sie vor allem auf das lange Zeit so ersprießliche Zusammenleben der tschechischen, deutschen und jüdischen Kommunität hinwies. Was diese Symbiose auf dem Gebiet der Kultur gebracht hat, stellte als zweite Vertreterin Brünns Jana Vránová dar, die sich der Thematik mit besonderer Intensität angenommen hat. Sie ist nämlich Kuratorin der Ausstellung zum 90. Gründungsjubiläum des den alten Brünnern als "Künstlerhaus" geläufigen "Hauses der Kunst".

Dieses 1910 fertiggestellte und 1911 als "Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Künstlerhaus" festlich eröffnete, mit dem Brünner Stadtbild unzertrennlich verbundene Haus entstand auf Betreiben des Mährischen Kunstvereins und machte alle Phasen der bewegten Stadtgeschichte durch. Zuerst war es Ausstellungshalle der deutschsprachigen Bürger der Stadt, zu denen mehrheitlich auch die jüdischen Bewohner zählten, dann Zentrum des Nationalsozialismus, nach 1948 wurde es zum "Kulturhaus" der Kommunisten umgewidmet. Das letzte Jahrzehnt galt dem Bestreben, die ursprüngliche Funktion einer Kunsthalle und eines Kunstvereins wiederzubeleben und die Brünner Institution in das Netz wichtiger europäischer Ausstellungshäuser einzubinden. 

Die am 19. Oktober eröffnete Retrospektive stellt eine Auswahl von Werken dar, die im Lauf der Zeit im Haus der Kunst gezeigt worden sind. Sie wird von einem umfangreichen Katalog begleitet, in dem sowohl eine ganze Reihe Erstveröffentlichungen und unbekannte Dokumente als auch Untersuchungen zur Ausstellungs- und Veranstaltungstätigkeit sowie zur Architektur zu finden sind. Zum ersten Mal wird das komplette Verzeichnis aller Ausstellungen und Kataloge des Hauses der Kunst publiziert.

Von Brünn nach Berlin und zurück – der Weg wird nicht kürzer, aber immer größer die Selbstverständlichkeit, mit der man ihn geht.
                                                                                        Dora Müller

Aus der Kulturpolitischen Korrespondenz 1121, Seite 8 ff. 2000-10-30

Anmerkungen ML 2000-11-11:
*) Dies ist sicherlich nicht so zu verstehen, als seien alle entvölkerten sudetendeutschen Gebiete wieder besiedelt worden. Der Wiederaufbau der mehr als 1000 dem Erdboden gleichgemachten deutschen Dörfer wird dem tschechischen Volk auch in 100 Jahren wohl kaum gelingen.