Kultur als Katalysator einer Gemeinschaft
Ein Bericht aus Brünn

Nicht daß sich bei uns nichts ereignete. Im Gegenteil: Gerade weil sich bei uns so viel ereignet, komme ich so selten zum Schreiben. Ich bin viel unterwegs, habe kaum ein freies Wochenende. Mancher zufällige Besucher, der Zeuge des Trubels in unserem Deutschen Zentrum wird, meint kopfschüttelnd, es grenze an ein Wunder, daß wir überhaupt noch zu einer normalen Tätigkeit kommen.

Jetzt, während man sich allerorts zur übermütigen Millenniumsfeier rüstet, ist es still um mich geworden. Ich halte Rückschau und überlege. Worüber soll ich berichten, was werden die Redaktionen annehmen, was interessiert Leser, die nicht mit in unserem Treiben stecken? Nur das Wichtigste natürlich, aber was ist wem wichtig? Die Antwort darauf ist meine Sache nicht, die überlasse ich anderen.

Nach wie vor ist unsere Tätigkeit gekennzeichnet durch das „Brünner Phänomen“, die dreifache kulturelle Prägung einer Stadt, die von Deutschen, Tschechen und Juden geschaffen wurde und auch heute noch bei allem Schrecklichem, was geschehen ist, den Toleranzgedanken hochzuhalten weiß. Zwar sind heute Deutsche und Juden nahezu völlig aus dem Stadtbild verschwunden, um so mehr jedoch ist unser Augenmerk auf Versöhnung und Verständigung, auf Erhaltung und Pflege des Kulturerbes gerichtet.

Das beginnt bei Sprachkursen, der Sing- und Spielgruppe „Die Spielbergspatzen“   für Kinder im Vor- oder Grundschulalter, die meist aus gemischtsprachigen Familien stammen. Es setzt sich fort in Gruppenreisen wie einer heimatkundlichen Busfahrt durch Südwestmähren unter der Leitung unserer Mitarbeiterin Opletalová und des Kunsthistorikers Dr. Filip. Wir kamen durch kaum bekannte, einst deutsche oder gemischtsprachige Orte, besichtigten Kirchen, Burgen, Schlösser, einstige Gettos sowie das hart an der Grenze gelegene, bereits zum Abriß freigegebene und dann doch noch gerettete Städtchen Fratting (Vratenin) mit seinen jetzt restaurierten 23 denkmalgeschützten Bauwerken.

Nach wie vor finden jeden Mittwoch Zusammenkünfte, Diskussionsrunden, Audio- und Videovorführungen sowie Vorträge statt, beispielsweise über Marie von Ebner-Eschenbach, Rainer Maria Rilke und Robert Musil. Ein besonderes Ereignis dieser Art war der Besuch des heute in Osterreich lebenden Autors Hugo Fritsch. Der gebürtige Brünner las aus seinem jüngst erschienenen Buch „Hugo das Delegationskind“, einer autobiographischen Schilderung von der Flucht und dem Tod seiner Familie. Groß war das Interesse an Veranstaltungen der Münchner Universität, des Goethe-Instituts und des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts wie ein Vortragszyklus von Professor Josef Strelka aus New York über Gustav Meyrink, Franz Kafka und den uns Brünnern besonders vertrauen Ernst Lothar oder ein Vortrag von Dr. Peter Becher aus München über „Sudetendeutsche Literatur unterm Hakenkreuz“, der uns mit unbegreiflichen Akten des moralischen Versagens konfrontierte.

Rege war der Kontakt mit den anderen nationalen Minderheiten Brünns: ein Besuch bei der jüdischen Kultusgemeinde, die Teilnahme an den Festlichkeiten anläßlich des ungarischen Nationalfeiertags und an der Enthüllung einer Gedenktafel am Geburtshaus des deutschjüdischen Malers Ludwig Blum, zu der auch Deborah Shermon, die Tochter des Künstlers, mit ihrer Familie aus Jerusalem angereist war. Als besonderes Brünner Toleranzbeispiel darf im übrigen die Freundschaft des in Jerusalem lebenden Malers mit dem katholischen Monsignore Antonin Bartos gelten, die in Blums monumentalem Panorama „Jerusalem“  ihren Niederschlag gefunden hat. Das Bild mit den ungewöhnlichen Maßen von acht mal zwei Metern schmückt den Kapitelsaal des Brünner Augustinerklosters.

Die einstige deutsch-tschechisch-jüdische Symbiose war auch Thema der Ausstellung „90 Jahre Brünner Künstlerhaus“  im Herbst dieses Jahres, an deren umfangreichem Katalog und Begleitprogramm wir beteiligt waren. Eines der letzten Brünner Kulturereignisse des Jahres war die am 18. Dezember im Beisein zahlreicher prominenter Gäste aus dem In- und Ausland eröffnete Ausstellung über „Das mährische und Brünner Judentum“, die eine Bestätigung auch unseres Programmes darstellt, mit dem wir die vielfachen kulturellen Leistungen des mährischen Judentums in Form von Lesungen, Vorträgen und Publikationen vielleicht als einzige bewußt zu machen suchen.

Ein seit mehr als einem halben Jahrhundert tabuisiertes Thema wurde in letzter Zeit bei uns aufgerollt: der sogenannte Brünner oder Pohrlitzer Todesmarsch. Anstoß war ein Ende April in der Zeitung „Lidové noviny“   veröffentlichtes Interview mit Rudolf Hawiger, einem heute in Deutschland lebenden Brünner, der den Marsch mitgemacht hat. Durch Hawigers eindringliche, aber in versöhnlichem Ton gesprochenen Worte fühlten sich viele berührt. Junge Studenten, an der Spitze Oldrich Liska, forderten den Magistrat in einem offenen Brief auf, sich zu entschuldigen, und organisierten eine Gedenkfeier im Altbrünner Klostergarten, wo der berüchtigte Marsch einst seinen Anfang genommen hatte. Es war überhaupt die erste von tschechischer Seite initiierte derartige Veranstaltung. Zu einer Entschuldigung ist es bis jetzt noch nicht gekommen, aber vom Primator wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, der auch ich angehöre. Die Recherchen sind abgeschlossen, und eine Stellungnahme ist in nächster Zeit zu erwarten.

Auch die Kirche setzte ein Zeichen. Kurzfristig wurde ich zu Allerheiligen von Monsignore Vojtech Cirkle, dem Bischof von Brünn, eingeladen, nach Pohrlitz mitzukommen, wo er gemeinsam mit der übrigen Geistlichkeit des Domkapitels an der Gedenkstätte für die Opfer des Todesmarsches einen Kranz niederlegte. Pater Otte von der Ackermann-Gemeinde in Prag und zwei BRUNA-Mitglieder aus Wien waren neben zahlreichen Bewohnern der Umgebung dabei. Alle lauschten ergriffen den Worten des Bischofs: „Wir müssen bekennen, daß auch wir Christen die Vertreibung der deutschen Mitbürger aus der Heimat, in der sie über Jahrhunderte gelebt haben und die sie geliebt haben, nicht als Unrechtsakt der Kollektivschuld verurteilt haben, sondern nur in Einzelfällen appelliert haben, den unmenschlichen Verlauf zu lindern, daß wir dort nicht genug geholfen haben, wo Hilfe nötig war. So bekennen wir unsere Schuld und bitten auch stellvertretend für alle anderen, die es noch nicht fertigbringen um Vergebung.“  Während der letzten Worte des Bischofs durchbrach plötzlich die Herbstsonne die tiefhängenden Wolken. Die von der malerischen Kulisse der Pollauer Berge, den burgenbewehrten Kalkfelsen und von rebenbewachsenen Hängen umrahmte Landschaft, einst stille Zeugin tiefsten menschlichen Leids, erstrahlte in fast unwirklichem Glanz.

Nach der Eröffnung meiner Ausstellung „Drehscheibe Brünn“, die bereits in Stuttgart zu sehen gewesen war, in Berlin in Anwesenheit des tschechischen Botschafters Frantisek Cerny und einer aus Brünn angereisten Delegation des Magistrats im Rahmen des X. Festivals Bohemicum-Slovacicum reiste ich gleich zur 4. Konferenz des Deutsch-Tschechischen Frauenforums in Reichenberg (Liberec), wo Brünn durch sechs Teilnehmerinnen vertreten war.

Rahmenthema war diesmal die „Agenda 21“, das Schlußpapier der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro. Die Diskussionsteilnehmerinnen legten einschlägige lokale Projekte vor – wir präsentierten Ergebnisse der „Brünner Gespräche gegen den Rassismus“ –dazu wurden von unserer Landsmännin Marie Kubátová Lieder in armenischer, hebräischer, jiddischer und Zigeunersprache geboten. Wir hatten auch Gelegenheit, den knapp vor der Fertigstellung stehenden „Bau der Versöhnung“  auf dem Platz, wo die einst einer Brandstiftung zum Opfer gefallene Synagoge gestanden hat, zu besichtigen. Hier soll demnächst neben einem jüdischen Bethaus eine große Bibliothek Aufnahme finden.

Die letzten Oktobertage führten uns nach alter Tradition nach Brannenburg zur Bundesversammlung der Seliger-Gemeinde, die diesmal ungewöhnlich harmonisch verlief und zu neuen Hoffnungen für die ersehnte Verständigung Anlaß gab. Tschechischerseits sprachen Senatsvizepräsident Ivan Havlicek, Senator Petr Morävek und Boris Lazar aus dem Außenministerium, dessen Hinweis auf die Benesch-Dekrete aufhorchen ließ. Deutsche Redner waren die Parlamentarier Petra Ernstberger sowie der mit dem Wenzel-Jaksch-Preis ausgezeichnete ehemalige Präsident des europäischen Parlaments Dr. Klaus Haensch. Einen Schlußpunkt unter die deutsch-tschechischen Gespräche des Jahres setzte ein für Ende November von der Bolzano-Stiftung und der Ackermann-Gemeinde einberufenes Seminar zur „Rückkehr in die Geschichte der Regionen Znaim und Brünn“. Historiker, Germanisten und Zeitzeugen kamen zu Wort.

Neben den Geldgebern, vor allem der deutschen Botschaft und dem Brünner Magistrat, ist zahlreichen geistigen Förderern zu danken, nicht minder aber auch jedem einzelnen Mitglied der kulturbeflissenen Gemeinschaft, die, jeder weiß es, nur als solche Bestand hat.

Dora Müller, Brünn
Aus der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ 1126 Seite 3. 2001-02-10