Brünner Heimatbote 1975 Seite 111.

Reinhard Pozorny
Der mährische Ausgleich
Die innerpolitische Entwicklung Österreich-Ungarns war vielfach erfüllt von schweren Auseinandersetzungen, die zu blutigen Ausschreitungen führten, und von – oft jahrzehntelang dauernden – Streitfällen, die das Ordnungsgefüge des Staates erschütterten und die Völker nicht zur Ruhe kommen ließen. So unterschiedlich auch die Versuche in den einzelnen Kronländern waren, hier Wandel zu schaffen, zeigte es sich bald, daß das zunehmende Eigenbewußtsein der Völker und das nationale Erwachen derselben nach neuen Formen drängte. Insbesondere die Ausgleichsbemühungen mit Ungarn und die damit verbundene Problematik zwangen, neue Formen des Nebeneinanderlebens zu finden.

Der mährische Ausgleich von 1905 war ein solcher Versuch, bei dem zwei verschiedene Völker in gemischtsprachigen Gebieten die Voraussetzungen erhielten, in guter Nachbarschaft nebeneinander auskommen zu können. Im erwähnten Jahr beschloß der Mährische Landtag, in dem die Deutschen noch die: Mehrheit besaßen, eine Reihe von Gesetzen, die eine autonome Landesverwaltung herbeiführten und die Gleichberechtigung der Deutschen schufen. Diese – und man kann es heute sagen – sehr weise Verwaltungsänderung wirkte sich nicht nur sehr entspannend aus und bewirkte, daß die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Völkern in Mähren. in der Folge viel ruhiger verliefen als in Böhmen. Der Schutz der Minderheit vor ihrer Majorität aber kam wenige Jahre später den Deutschen Mährens weitgehend zugute, als sich neue Mehrheitsverhältnisse anbahnten.

Der mährische Ausgleich ist sicher nicht eine endgültige Lösung des Nationalitätenproblems gewesen, aber er war der weitestgehende Versuch, der jemals vor dem Ersten Weltkrieg in Mitteleuropa angestellt wurde, das Gegeneinander zweier Völker zu einer Partnerschaft zu verwandeln. Hätte man die Grundgedanken dieses Ausgleichs auf andere Gebiete ausgeweitet, wäre manches erspart geblieben. Leider aber war die Zeit schon zu weit fortgeschritten, die Kräfte des Zerfalls und des Kampfes auf Tod und Leben waren stärker geworden. Seit 1848 spielte in der mährischen Geschichte der nationale Gegensatz keine besondere Rolle. Im Gegenteil, beide Völker versuchten, die Selbständigkeit des Landes weitgehend zu wahren, die mährischen Stände leisteten heftigen Widerstand gegen alle Prager Versuche, die Länder der Wenzelskrone, wie diese bezeichnet wurden, zusammenzufassen, und betonten immer wieder die Selbständigkeit im Rahmen der Monarchie. Sogar die Tschechen aus Mähren setzten sich dafür ein, in der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt vertreten zu sein, wo bekanntlich 26 Abgeordnete aus Mähren anwesend waren. Der mährische Landtag sprach sich gegen eine staatsrechtliche Verbindung mit Böhmen aus, und wiederholt wurden die vorgesetzten Stellen vom Selbständigkeitswillen Mährens und seiner beiden Völker in Kenntnis gesetzt. Es ist nicht uninteressant, daß noch 1867 die verfassungstreuen slawischen Mährer sich als „Nemci“ bezeichneten. Auch das böhmische Staatsrecht wurde von Mähren, das damals ausschließlich unter deutscher Führung stand, abgelehnt.

In der Zeit des Ministerpräsidenten Taaffe entflammte der nationale Gegensatz in Österreich auf der ganzen Linie und verschonte auch Mähren nicht, wo sich in zunehmendem Maße Auseinandersetzungen anbahnten. Über diese Auseinandersetzungen im einzelnen zu berichten, ist hier weder der Platz noch die Gelegenheit.

Im „Tagesboten aus Mähren und Schlesien“ und der Schrift von Skene „Der nationale Ausgleich“ wird geschildert, unter welchen Voraussetzungen am 15. und 16. November 1905 die entscheidenden Verhandlungen geführt wurden. Die Straßen und Plätze um das Landhaus in Brünn waren von starken Militärabteilungen umstellt, die nur Personen mit Passierscheinen in das Gebäude ließen. Am Nachmittag boten sie das Bild einer Stadt, die sich im Belagerungszustand befand. „Auf dem Großen Platze“ standen Abteilungen des 93. Infanterieregiments aus Olmütz, des Brünner 14. Landwehrinfanterieregiments und Abteilungen der Zehner- und Fünfzehnerdragoner. Gendarmeriepatrouillen und Polizei versahen den Sicherheitsdienst in der Stadt, weil ein Großteil der tschechischen und sozialistischen Presse Massendemonstrationen angedroht hatte. Obwohl also die Wogen der Leidenschaft sehr hoch gingen und es in Mähren durchaus nicht so friedlich war, wie man annehmen konnte, wurde bei den Beschlüssen mit großer Mehrheit erreicht, daß „ein Friedensschluß erzielt wurde, der es ermöglicht, daß beide Nationalitäten ruhig und gesichert nebeneinander leben, wirtschaftlich arbeiten, was einen dauernden Fortschritt für unser Vaterland nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung bedeuten würde“.

In den damals beschlossenen neuen Wahlgesetzen. befand sich die für diese Zeit revolutionäre Neuerung der Anlage von zwei getrennten nationalen Wahlkörpern. In diesen Bestimmungen heißt es: „Die Vertretungen der Gemeinden werden aufgefordert, nach Maßgabe der ihnen bekannten persönlichen Verhältnisse die Wähler nach deren Zugehörigkeit zum böhmischen oder zum deutschen Volksstamm in zwei getrennte Listen einzutragen“. Die Eintragung durfte nur durch ein Selbstbekenntnis des Einzelnen zu einer der beiden Nationen erfolgen, wobei es Berufungsinstanzen gab. Das Reichsgericht konnte als letzte Instanz die Nationalität des einzelnen bindend feststellen. Diese sogenannten nationalen Kataster berechtigten den Einzelnen zur Inanspruchnahme aller in der Verfassung zugestandenen Möglichkeiten, zu der auch die Selbstbestimmung gehörte, welche Schule die Kinder der betreffenden Familie zu besuchen hatten. Die beiden Landessprachen sollten als Geschäftssprachen des Landes gleichberechtigt sein. Die Zweidrittelmehrheit der 121 Abgeordneten war notwendig, um alle Änderungen kommender Zeit herbeizuführen. Dabei ging es in erster Linie um die Landtagswahlordnung, die Gesetze über die nationale Trennung der Schulbehörden, den Landeskulturrat, den Sprachengebrauch bei den Kommunen und die Beschlüsse über Auflassung und Gründung von Schulen und Erhaltungskosten der staatlichen Einrichtungen.

Die kaiserliche Sanktion dieses Gesetzes erfolgte am 27. November 1905, wodurch es Rechtskraft erlangte. Bei der Wahlreform brachte der nationale Kataster, der nun überall angelegt wurde, einen völlig neuen Gesichtspunkt zur Lösung des nationalen Problems. Die Wählerschaft war fortan national geschieden, und der Wahlkampf hörte damit auf, ein Wahlkampf zwischen beiden Völkern zu werden, sondern beschränkte sich auf Angelegenheiten, die beiden Nationen gemeinsam wichtig erscheinen mochten. Von den Schwierigkeiten, die sich vor allern in kleineren Gemeinden ergaben, den nationalen Kataster anzulegen, wollen wir schweigen, höchstens auf die Tatsache verweisen, daß in der Folge in einzelnen Teilen Mährens ein großer Bevölkerungsschwund des deutschen Anteils festzustellen war, wobei wir an Städte wie Kremsier, Göding oder Teltsch denken. Es fehlte auch nicht an Stimmen auf deutscher Seite, die auf diese Tatsache verwiesen.

Auch von tschechischer Seite sind damals Bedenken erhoben worden, die aber den allgemeinen Erfolg und Fortschritt, der mit dem mährisehen Ausgleich erzielt wurde, nicht beeinträchtigen konnten. Im Gegenteil, die Nationalkataster begannen sich auch in anderen Ländern Österreichs durchzusetzen. So erfolgte 1910 die Einführung des Katasters in der Bukowina, 1912 in Bosnien und der Herzegowina und 1914 in Galizien. Es wäre ohne weiteres, möglich gewesen, auf Grund der nunmehr gemachten Erfahrungen gewisse Anfangsschwierigkeiten und Formfehler, die sich im Laufe der Zeit ergeben hatten, durch neue Gesetze und Gesetzesnovellen zu beseitigen, denn der Ausgangspunkt und die Grundidee war ausgezeichnet. Sie trugen wesentlich zur Entgiftung der Atmosphäre bei, sie waren der mutige Anfang in einer problemgezeichneten Entwicklung und hätten auch unserer Generation manches erspart, wenn sie konsequent weiterverfolgt worden  wären.

Nach 1918 sind so gut wie alle Einzelheiten des Mährischen Ausgleichs außer Kraft gesetzt worden. Der Nationalkataster wurde beseitigt und es blieb lediglich auf dem Sektor der Schulverwaltung eine Zweigleisigkeit, die an die Entwicklung erinnerte. Daß sich manches in Mähren weniger geräuschvoll und schmerzhaft vollzog als in Böhmen, hatte seine Ursache darin, daß noch bestimmte Vorstellungen des „Ausgleichs“ in der noch lebenden Generation weiterlebten und daß die Folgen dieser großen Versöhnungstat trotz aller Reformen und deutschfeindlichen Maßnahmen nicht ganz aus der menschlichen Bewußtseinsbildung getilgt werden konnten.