Neue Zürcher Zeitung
Ungeliebter Verräter
Schatten über Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“
Unlängst – und beinahe unbemerkt – ist im Europa-Verlag eine Neuauflage von Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ erschienen. Der Roman, 1940 zunächst in London unter dem eingängigen Titel „Darkness at Noon“ gedruckt, hat eine eigenartige, aber keineswegs unauffällige Biographie. Dazu gehört auch, daß dieses Paradebeispiel eines politischen Gleichnisses – das einer damals noch weitgehend ahnungslosen Öffentlichkeit die erste stalinistische Säuberungswelle von 1936 bis 1938 in einer Eindringlichkeit vor Augen führte, die Anklänge an Kafkas „Prozeß“ eröffnete – in England zunächst nur schwer ein Publikum fand. Die erste Auflage, ganze tausend Exemplare, ging harzig; der Autor sitzt, durchaus eine kafkaeske Situation, in Frankreich als „Politischer“ im Gefängnis.
Der Erfolg des Buches kommt erst nach Kriegsende, und zwar in der französischen Übersetzung. „Le Zéro et l'Infini“, so Koestler an einer Stelle des viel später verfaßten Nachwortes, habe innerhalb kurzer Zeit eine Auflagenhöhe erreicht, die schließlich über 400 000 ging. Daß damit alle Verkaufsrekorde des französischen Vorkriegsbuchhandels übertroffen worden waren, erklärt Koestler freilich mit politischen, nicht mit literarischen Gründen. Das mag für 1946 zugetroffen haben: In den Wochen zwischen dem Zerfall der deutschen Besatzungsmacht und der Errichtung einer gesetzesmäßigen Regierung wird fast jeder Landstrich Frankreichs zum Schauplatz summarischer Hinrichtungen; Willkür steht auf der Tagesordnung. Die Kommunisten, so der Ex-Kommunist Koestler, hätten diese chaotischen Wochen zur systematischen Abrechnung mit ihren Gegnern benutzt, unliebsame Konkurrenten als „Kollaborateure“ liquidiert, den Gewerkschaften, den Medien und den Gerichten weitgehend ihren Willen aufgezwungen. In dieser drückenden Atmosphäre, das ist leicht nachvollziehbar, erhält ein Roman über die stalinistischen Säuberungen, auch wenn es sich um zurückliegende Ereignisse handelt, Symbolwert.

Buchbesprechung aus: »Das Buch der 1000 Bücher« (Harenberg Verlag)
Sonnenfinsternis
Originaltielt Darkness at Noon Erscheinungsjahr 1940, deutsch 1946
Arthur Koestler, der 1938 mit der Kommunistischen Partei gebrochen hatte, sucht in seinem berühmtesten Roman Sonnenfinsternis eine Antwort auf die Frage, warum in den Moskauer Schauprozessen (1936-38) die Angeklagten entwürdigende Geständnisse über nicht begangene Verbrechen ablegten.
Inhalt: Der Bolschewik Nicolai Salmonowitsch Rubaschow wird von seinen Genossen verhaftet und konterrevolutionärer Umtriebe bezichtigt. Durch Verhöre wird er so weit zermürbt, bis er an die Verbrechen, deren er bezichtigt wird, zu glauben beginnt. Zugleich beginnt er das System von „Nummer Eins“ (der Name Josef Stalin bleibt unerwähnt) zu durchschauen und seinen politischen Glauben zu verlieren. Die meisten seiner früheren Mitstreiter sind bereits liquidiert. Schließlich unterschreibt er ein falsches Geständnis, überzeugt, der Partei damit einen letzten Dienst zu erweisen.
Rubaschow wird zwischen den Verhören mit anderen, nicht kommunistischen Gefangenen konfrontiert, vor allem aber mit seiner eigenen Vergangenheit. Ein Prozeß des Zweifelns und der Irritation beginnt, er erkennt die eigene Schuldverstrickung. So hat er früher die Geliebte verraten, als sie in die Fänge der GPU geraten war. Sein früherer Mitkämpfer Iwanow, der anfangs die Verhöre leitet, wird selbst verhaftet und abgelöst von dem jungen Genossen Gledkin, der den Typus des skrupellosen neuen Revolutionärs verkörpert.
Rubaschow gesteht sich ein, daß er den Begriff der Menschheit über den des Menschen gestellt hat. Am Ende verliert er auch den Glauben daran, er sei in der Rolle von Moses, dem man nicht mehr erlaube, das Land der Verheißung zu betreten: „Er sah nichts als die Wüste und die Finsternis der Nacht.“ Der Roman endet mit Rubaschows Exekution.
Aufbau: Zwar würden die Gestalten des Romans auf Erfindung beruhen, erklärt Koestler, doch „die Umstände, die ihre Handlung bedingen“, würden auf Geschichte basieren. Das macht schon die Figur des Rubaschow deutlich, die mit ihrem Autor verwandt ist, aber auch Züge von Karl Radek (1885-1939?), Nikolai Bucharin (1888-1938) und Leo Trotzki (1879 bis 1940) trägt. Mit der morgendlichen Verhaftung zu Beginn wie mit der demütigenden Exekution zu Ende verweist „Die Sonnenfinsternis“ auf den Roman „Der Prozeß“ (entstanden 1914/15, erschienen 1925) von Franz R. Kafka. Ein doppelter, scheinbar widersprüchlicher Prozeß wird geschildert: zum einen die wachsenden Zweifel des Angeklagten und zum anderen dessen Instrumentalisierung als Opfer des Systems. Anschaulich gemacht wird diese Spannung von Faszination und Abscheu in den Verhören, die den Charakter geschichtsphilosophischer Debatten gewinnen. Durch die Parallelisierung mit der Französischen Revolution wird dem stalinistischen System ein philosophischer Glanz verliehen – gleichzeitig beschwört der Titel die Vergänglichkeit des Systems: Die Sonne der Vernunft soll wieder erstrahlen.
Wirkung: Neben den Romanen von George R. Orwell und dem späteren Werk von Alexander R. Solschenizyn ist Die Sonnenfinsternis zu einem der berühmtesten Romane über den Stalinismus geworden und zu einer „ideologischen Waffe“ im Kalten Krieg. Vermutlich haben nur wenige andere Werke des 20. Jahrhunderts eine größere politische Wirkung entfaltet. Das Buch wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
Zu dieser Wirkung trug das fortgesetzte publizistische Engagement des Autors bei, aber auch die heftigen Reaktionen im kommunistischen Lager – so versuchte die französische KP vergeblich das Erscheinen des Buchs zu verhindern. Mit Humanismus und Terror (1947) unternahm der französische Philosoph und Kommunist Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) den Versuch einer geschichtsphilosophischen Widerlegung von Koestlers Roman.
M. Ro.

zitiert nach einem Beitrag von Lutz Szemkus in [gut-quednau] 2003-06-09 ML