Dora Müller, Brünn
Eine Winterreise durch die Brünner Sprachinsel (1975).
Dora Müller lebt in hohem Alter in Brünn, wo sie auch das Begegnungszentrum leitet.
1974/75 besuchte sie alle Dörfer der früheren deutschen Sprachinsel Brünn und schrieb ihre Beobachtungen und Erinnerungen an die Vergangenheit dieser Dörfer auf.
Sie leitet das 76 Seiten starke Büchlein ein mit einem kurzen Abriß der Geschichte des Deutschtums im Böhmisch-Mährischen Raume, der hier in vollem Text wiedergegeben sei:
ZUR SIEDLUNGSGESCHICHTE MÄHRENS
Oberhalb des Zusammenflusses von Zwitta und Schwarza, im Zentrum der mährischen Metropole
Brünn, erheben sich zwei Hügel. Den niedrigeren schmückt der imposante Bau des
Petersdoms. Der höhere ist der bekannte Spielberg mit der in späteren Jahren in ein
berüchtigtes Gefängnis umgewandelten markgräflichen Burg. Durch das an diesen beiden
Erhebungen vorbeiführende Tal verlief bereits in ältesten Zeiten ein Handelsweg. Er
verband die Donauländer mit dem baltischen Meer. Auf ihr wurde der von den Römern
geschätzte Bernstein transportiert. Zahllose Funde längs dieser Straße weisen auf eine
kontinuierliche Besiedlung der hiesigen Gegend durch alle Perioden, von der Steinzeit bis
zur Bronze- und Eisenzeit, bis zu den Kelten und Germanen hin.
In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten war Mähren von dem germanischen Stamm der Quaden bewohnt, die hier eine große Anzahl von Gemeinwesen hatten, darunter auch das von Ptolemaios im zweiten Jahrhundert nach Christus erwähnte Eborudunum. Es wird vermutet, daß sich dieser Ort in der Gegend der heutigen Stadt Brünn befand. Der durch die geographischen Verhältnisse Mährens gegebene Naturkorridor die sogenannte Bernsteinstraße bedingte, daß wir aus jener Zeit weitaus mehr Angaben über Mähren als über die benachbarten Gebiete, wie etwa über Böhmen, haben. Tacitus stellte in seiner Germania fest, daß hier der Herzynische Wald verlaufe. Bei Plinius finden wir die Erwähnung des Flusses Marus (March) sowie den Vermerk über einen römischen Ritter, der während der Regierungszeit Kaiser Neros eine Reise von Carnuntum zu den Gestaden der Bernsteinküste unternahm. Vor allem jedoch gibt uns der berühmteste Geograph des Altertumas, Claudius Ptolemaios, in seiner Geographiké hyphegesis, einer Anleitung zur Erdbeschreibung aus dem Jahre 137 n. Chr., ein Bild Mährens. Er kennt bereits die Sudeten, Sudeta oré, den Fluß Suebos, die Oder, aber nicht den Marus. Als Bewohner zwischen Herzynischem Wald und Donau nennt Ptolemaios die Baimen und die Quaden, deren Land an das der sarmatischen Jazygen grenzte.
Im 5. Jahrhundert wurden die Quaden von den Hunnen überwältigt und gezwungen, diese auf dem Kriegzug gegen die Römer zu begleiten. Nach der blutigen Schlacht auf den Catalaunischen Feldern im Jahre 451, wo die Hunnen von Aetius geschlagen wurden, kehrten die Quaden nicht mehr nach Mähren zurück. Hier hatten inzwischen andere germanische Stämme wie Langobarden und Rugier auf ein Jahrhundert Heimstätten gefunden, wonach von Nordosten die Zuwanderung slawischer Stämme einsetzte.
Die Geschichte weiß nichts von Kämpfen zwischen slawischen Einwanderern und Resten
germanischer Stämme zu berichten. Alles spricht dafür, daß die Slawen bis zum 10.
Jahrhundert die ausschließliche Bevölkerung bildeten. Sollten dennoch Überreste
germanischer Einwohner im Lande verblieben sein, so haben sie, wie Biermann über die
älteste Bevölkerung von Teschen schrieb, keine erkennbaren Spuren ihrer Existenz
zurückgelassen und keinen nachweisbaren Einfluß auf die späteren Geschicke des Landes
ausgeübt.
Die nun slawisch gewordenen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien traten in der Folgezeit
mit ihren deutschen Nachbarn immer wieder in nähere Beziehungen. Als die Mährer unter
Mojmír I. um das Jahr 864 das Christentum annahmen, wurde auf dem Brünner Petersberg
eine Kirche errichtet, aller Wahrscheinlichkeit nach von Missionaren aus dem Erzbistum
Salzburg. Jene Kirchensiedlung kann demnach als erste Ansiedlung von Deutschen in Mähren
angesehen werden. Durch die aus dem Osten herbeigerufenen Slawenapostel Cyrill und Method
verlor jedoch die deutsche Geistlichkeit wieder ihren Einfluß.
Erst in die Regierungszeit des Böhmenherzogs Bretislaw, der mit der bayrischen Prinzessin
Judith vermählt war, fällt ein für die kulturelle Entwicklung der Deutschen in Mähren
wichtiges Ereignis: Die Gründung des Benediktinerklosters in Raigern im Jahre 1048. Dies
hatte eine Zuwanderung von deutschen Mönchen zur Folge. Nach Bretislaws Tod fiel Mähren
an dessen Sohn Konrad, der mit einer Prinzessin aus dem bayrischen Geschlecht Tenglion
verheiratet war. In deren Gefolge kamen abermals Deutsche ins Land. Ein weiterer Zuzug von
Deutschen und Niederländern setzte unter Markgraf Vladislav ein, der im Jahre 1203 den
deutschen Namen Heinrich annahm, während sich sein in Böhmen regierender Bruder, König
Premysl I., den Namen Ottokar zulegte. Beide unterstützten auf alle mögliche Weise die
Zuwanderung von Deutschen. Einerseits um das Land zu bevölkern und um die eigenen
Einnahmen zu vergrößern, andererseits um Unterstützungen gegen den immer mächtiger
werdenden einheimischen Adel zu bekommen. Vladislav Heinrich gründete das
Zisterzienserkloster Welehrad. Bereits im Jahre 1204 werden in Mähren nach deutschem
Recht, vocati iure teutonicorum angesiedelte Einwohner verzeichnet. Es folgten
Klostergründungen der Prämonstratenser, Dominikaner, Minoriten, in deren Gefolge
weiterhin deutsche Handwerker, Bauleute, Künstler ins Land kamen. König Wenzel I.
erteilte im Jahre 1243 Brünn ein besonderes, ganz auf deutschen Rechtsgrundsätzen
beruhendes Stadtrecht, jura originalia.
Es war ein friedlicher Eroberungszug, den die Deutschen im 12. und 13. Jahrhundert nach
Osten unternahmen. Lassen wir einmal den tschechischen Geschichtsschreiber Franticek
Palacký darüber zu Wort kommen:
Die Deutschen waren von den Königen Böhmens vorzüglich wegen ihrer Betriebsamkeit
ins Land aufgenommen worden. Auch entsprachen sie dem in sie gesetzten Vertrauen und
erwiesen sich dem Lande höchst nützlich. Insbesondere im Bergbau und im Roden und
Urbarmachen der vielen Wälder an den Grenzen des Landes. Ihnen zunächst verdankte man
die hohe Blüte der Silberbergwerke von Kuttenberg und Deutsch-Brod, die auf die
Vermehrung des Wohlstandes im Lande und somit auf die Macht des Staates so großen
Einfluß hatten. Für sie und größtenteils auch durch sie wurde der böhmische
Bürgerstand geschaffen, folglich auch die Gewerbetätigkeit im Lande neu belebt und
gehoben, ihre Ansiedlungen gaben auch mittelbar Anlaß zu der seit Ottokar Il. so eifrig
betriebenen Emanzipation der Bauern.
Viele Premysliden in Böhmen wie in Mähren teilten ihre Herrschaft mit Gemahlinnen aus
deutschen Fürstenhäusern. So z. B. Premysl Ottokar I. mit Adelheid von Meißen, Wenzel
I. mit der Staufin Kunigunde, Premysl Ottokar II. mit Margarethe von Babenberg, Wenzel II.
mit der Habsburgerin Jutta ... Als der aus Westfalen stammende Bruno von Schaumburg
Bischof von Olmütz wurde, kam ein besonderer Förderer des Deutschtums nach Mähren.
Mehrere Orte der Brünner Sprachinsel verdanken ihm persönlich ihre Gründung
beziehungsweise Entfaltung.
Die Einwanderer brachten auch deutsche Poesie ins Land. Am Hofe Wenzel I., der selbst
deutsche Minnelieder gedichtet haben soll, lebte Reinmar von Zwetter; zur Zeit Ottokars
II. wird Ulrich von Türlin genannt; der Gunst Wenzel II. erfreute sich Ulrich von
Eschenbach.
Im Jahre 1310 bestieg ein Herrscher aus deutschem Geblüt den böhmischen Thron: Johann
von Luxemburg. Er vernachlässigte die Verwaltung des Landes, erpreßte von den Städten
ungeheuere Geldsummen und überließ es ihnen dabei, sich allein gegen das zunehmende
Raubrittertum zu wehren. Aber durch die Luxemburger wurde Böhmen zur Geburtsstätte der
neuhochdeutschen Schriftsprache. Die Hofsprache der Luxemburger war aus dem
Bayrisch-österreichischen und der obersächsischen Mundart, die sich hier begegneten,
entstanden. Im 15. Jahrhundert ging sie auf die Habsburger über und wurde schließlich
durch Luthers Bibelübersetzung Gemeingut aller Deutschen.
Eines der hervorragendsten kulturellen Ereignisse des 14. Jahrhunderts war die Gründung
der Prager Universität im Jahre 1348 durch Karl IV. Dadurch kam es zu einem weiteren
Zustrom von Deutschen, Gelehrten wie Studenten, nach Böhmen. Zur Zeit Karl IV. siedelten
sich im Stadtgebiet von Brünn aber auch viele Tschechen an, die mit den Deutschen anfangs
in gutem Einvernehmen lebten. Nationale Streitigkeiten waren so gut wie unbekannt. Der
Stadtrat.korrrespondierte seit Beginn des 15. Jahrhunderts mit den Ständen und
tschechischen Gemeinden in tschechischer Sprache.
Während der Hussitenkriege wurde das gute Einvernehmen zwischen den Volksgruppen getrübt. Im Jahre 1451, zur Zeit des Königs Ladislaus Posthumus, kam der italienische Mönch Johannes Capistranus nach Brünn und predigte mit großer Leidenschaft und sichtlichem Erfolg gegen die Hussiten sowie überhaupt gegen alle Nichtkatholiken. Aber hundert Jahre später fand der Protestantismus, diesmal aus Deutschland kommend, große Verbreitung in Mähren. In Brünn und auch in den umliegenden Dörfern traten viele Katholiken aus ihrer Kirche aus und wurden Akatholiken, wie in Czernowitz und Morbes, oder Wiedertäufer, wie in Ober-Gerspitz und Kumrowitz. Die aus Süddeutsschland hierher gekommenen Wiedertäufer fanden besonders viel Zulauf. Sie lebten gemeinsam in eigenartigen Haushaben und waren als Handwerker und Landwirte sehr geschätzt.
Der Wechsel in der religiösen Anschauung des Volkes wurde anfangs nicht besonders
beachtet und behindert, fand jedoch in den Kaisern Rudolf II., Matthias und Ferdinand II.
heftige Gegner. Man versuchte, die Ketzer mit allen Mitteln zu bekehren. Die
Gegenreformation setzte mit den strengsten Maßregeln ein. Jesuiten wurden ins Land
gerufen, die die Abtrünnigen wiedergewinnen sollten. Wo der Zuspruch der Geistlichkeit
nicht wirkte, führten militärische Aktionen zum Ziel. So wurden die Gerspitzer
Wiedertäufer einmal von Dampierreschen Truppen überfallen und arg mißhandelt, ein
andermal wurde ihr Haushalter von polnischen Hilfstruppen erschossen und der Gärtner zu
Tode gemartert. Schärfstes und letztes Mittel war die Ausweisung. So verließen tausende
Bewohner, darunter angesehene und gelehrte Männer wie der große Erzieher Johann Amos
Comenius die Heimat. Durch derartige Auswanderungen verlor das Land viele brauchbare
Kräfte, deutsche wie tschechische, und man bediente sich deshalb lieber anderer
Zwangsmaßnahmen.
An dieser Stelle möchte ich das berühmte Tobitschauer Buch nennen, das der
Landeshauptmann Ctibor von Cymburk im Jahre 1483 geschrieben hatte. Dieses Buch, eine
Aufzeichnung des alten mährischen Gewohnheitsrechtes, war Slawen wie Deutschen,
Akatholiken wie Katholiken, Adeligen, Bürgern und Bauern gleichermaßen wert, da es vom
Geiste der Freiheit und Duldung durchdrungen war. Als Ferdinand I. den Versuch machte, den
Mährern in ihre Rechte aus diesem Buch einzugreifen, flammte auf dem Georgi-Landtag des
Jahres 1550 der Zorn unter Landeshauptmann Karl von Zierotin, derart gegen ihn auf, daß
er weichen mußte. Im Jahre 1608 erlangten die Stände neben der Religionsfreiheit, die
Rudolf II. arg gefährdet hatte, auch die Anerkennung ihrer politischen Rechte. Und zwar
durch Erzherzog Matthias, der in der Dominikanerkirche von Brünn als Landesherr auf das
Tobitschauer Buch gelobte. Aber bereits ein Jahrzehnt später besetzte General Buquoy, der
Sieger vom Weißen Berge, die Stadt Brünn. Und Kardinal Dietrichstein, ein glühender
Gegner aller Akatholiken, wurde Statthalter von Mähren.
In das während des Dreißigjährigen Krieges entvölkerte Land strömten Kolonisten. Aber
nicht nur Deutsche. In Tscheitsch und Umgebung siedelte Franz I. im Jahre 1748
französisch sprechende Lothringer aus der Franche Conté an. Hundert Jahre später waren
jene Franzosen, bis auf vier Familien, bereits alle slowakisiert. Im Nikolsburger Gebiet
wurden Kroaten und Ruthenen, im Znaimer Kreis Ungarn angesiedelt. Und dann gab es im
tschechischen wie im deutschen Sprachraum eine große Anzahl von deutschsprachigen
Judengemeinden. Vor allem waren es jedoch wieder Deutsche, die als Handwerker,
Industrielle und Lehrer ins Land kamen.
Aus all dem ersehen wir, daß die Geschichte der Deutschen in den böhmisch-mährischen
Ländern keine gemeinsame war. Sie gehörten nicht ein und demselben Volksstamm an, sie
sind weder als geschlossene Einheit, noch zu gleicher Zeit eingewandert und sie haben sich
in der neuen Heimat nicht unvermischt erhalten. Sie bewohnten kein allseits scharf
abgegrenztes und kein ununterbrochenes Sprachgebiet. Es herrschte bei ihnen, was
Beschäftigung, Lebensweise, Kulturverhältnisse, Dialekt anlangte, größte
Mannigfaltigkeit. Wie unterschied sich doch in diesen Punkten der Riesengebirgler vom
Egerländer, der Nordböhme vom Südmährer! Sie alle berührten sich besonders
mundartlich viel eher mit den Deutschen ihrer Nachbarländer: mit den Sachsen,
Vogtländern, Schlesiern oder den Niederösterreichern. Und doch verband sie viel
Gemeinsames, bedingt durch die jahrhundertelange gleiche Zugehörigkeit zur
österreichischen Monarchie und später noch deutlicher durch das gemeinsame Schicksal im
tschechoslowakischen Staat ... bis zum bitteren Ende.
In den 12 weiteren Kapiteln stellt Frau Müller die Sprachinseldörfer vor mit allen Auffälligkeiten, die sie 30 Jahre nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung wahrnahm. Eine zweisprachige Ortsliste und eine grobe Übersichtskarte beschließen das mit einigen Zeichnungen von Josef Jaschke, Rudolf Jelinek, Erwin MartinTomschik aufgelockerte und von der BRUNA im Jahre 1993 herausgegebene hellblau broschierte Büchlein.
Das Buch verdiente eine verbesserte Neuauflage mit einigen Berichtigungen, aber auch einer ausführlicheren Bebilderung und deutlicherem Kartenmaterial, denn die heutigen Besucher der Dörfer werden kaum mehr das vorfinden, was Frau Müller vor 30 und mehr Jahren dort noch fand: der Wandel vollzieht sich immer schneller und leider nicht immer nur zum Besseren!
Eine Neuauflage und Ausschmückung des Buches mit weiteren Abbildungen und Landkarten ist kaum zu erwarten. Wer sollte die Arbeit leisten, den Druck finanzieren, wer sollte die Bücher kaufen? Gottseidank gibt es noch einige andere gute Bücher über Brünn und die deutsche Sprachinsel.
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