Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Niels von Redecker,
Die polnischen Vertreibungsdekrete
und die offenen Vermögensfragen
zwischen Deutschland und Polen

(= Studien des Instituts für Ostrecht München, Band 44),
Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 2002, 129 S., brosch., 24,80 EUR.

Der Autor dieser Veröffentlichung, der einer deutschbaltischen Familie entstammende Rechtsanwalt Niels von Redecker, zeitweise Rechtsberater im estnischen Justizministerium und Anwaltspraktikant in Polen, seit dem Jahre 2000 Referent am Institut für Ostrecht in München, von dem bereits zahlreiche Veröffentlichungen zu Recht und Geschichte Osteuropas, insbesondere Estlands und Polens vorliegen, ist mit Sicherheit einer der besten Kenner der in Frage sehenden Materie. Allerdings wirft bereits der Titel der Veröffentlichung für den Rezensenten eine Frage auf. Deutschland hat durch den Zwei+Vier-Vertrag, dem der Charakter eines Friedensvertrages innewohnt, den gegenwärtigen territorialen Besitzstand Polens anerkannt. So kann es sich demzufolge nach Ansicht des Rezensenten bei offenen Vermögensfragen nur um Vermögensfragen zwischen deutschen Staatsbürgern und dem polnischen Staat, aber nicht um Vermögensfragen zwischen Deutschland und Polen handeln. Ähnlich den tschechoslowakischen Beneš-Dekreten gab es auch in Polen insgesamt 21 Dekrete und Gesetze, die die Vertreibung der Deutschen und die Beschlagnahme ihres Eigentums rechtfertigen sollten. Der Autor untersucht, welche der polnischen Vertreibungsdekrete zwischenzeitlich obsolet sind, welche fortgelten und wie ihre heutige Rechtswirkung ist. Insbesondere wird bei fortdauernder Rechtswirkung geprüft, ob die weiterhin geltenden Dekrete eine diskriminierende Wirkung gegenüber deutschen Staatsbürgern und Angehörigen der deutschen Minderheiten in Polen haben. Damit wird eine wesentliche Lücke im Forschungsstand geschlossen.
Wie notwendig dies war, läßt sich leicht aus einem Beispiel ersehen: Der bayerische Ministerpräsident Stoiber, der sich in der Rolle eines Schutzherrn der Heimatvertriebenen sieht, forderte auf einem Vertriebenentreffen die Aufhebung des polnischen Enteignungsdekretes von 1946. Mit großer Empörung wies die polnische Regierung diese Forderung zurück. Schließlich stellten alle Beteiligten überrascht fest, daß dieses Dekret bereits aufgehoben ist (S. 21).

Der Autor beschränkt sich bei der Behandlung von Vermögensfragen ausdrücklich auf das Eigentum (das umfassendste dingliche Recht an einer Sache) und unter den möglichen Eigentumsgegenständen auf das Grundstückseigentum, weil das Grundstückseigentum zu den wertvollsten Eigentumsgegenständen zählt und weil der Erwerb von Grundstückseigentum in der Regel strengeren Bestimmungen unterliegt als der Kauf oder Tausch beweglicher Güter, insbesondere untersagen die Bestimmungen mancher Länder den Grundstückserwerb durch Ausländer. Immaterielle Schäden, wie Freiheitsentzug oder Schaden an Leib und Leben werden also in dieser Veröffentlichung nicht behandelt. Zwei Fragen werden besonders hervorgehoben, nämlich die Frage des Grundstückserwerbs durch Deutsche in Polen und die Frage nach Rückübertragung oder Entschädigung von Grundstücken, die im Rahmen der Vertreibung in den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches enteignet wurden. Der Autor warnt vor Strohkäufen über polnische Mittelsmänner, die von Deutschen unter der fälschlichen Voraussetzung getätigt werden mit dem Hinweis, daß Grundstückserwerb für Deutsche grundsätzlich nicht möglich sei. Tatsächlich ist der Erwerb von Grundstücken in Polen zwar genehmigungspflichtig, aber die Genehmigungspraxis sehr liberal, und der Autor geht wohl nicht zu Unrecht davon aus, daß diese Praxis mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union noch liberaler werden wird. Sein Fazit lautet: „Und die vertriebenen Deutschen können ihr lange eingefordertes »Recht auf Heimat« im heutigen Polen, wie wir gesehen haben, auch vor dem EU-Beitritt recht problemlos genießen, indem sie sich zum Beispiel dort ein Grundstück kaufen.“

Hier kommt der Rezensent allerdings zu dem Schluß, daß der Verfasser hier einen recht oberflächlichen »Heimat«-Begriff gebraucht. Auf einer Tagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen im März dieses Jahres unter dem Titel „Europa als Wertegemeinschaft“ wurde „Heimat“ definiert „als ein Geflecht sozialer Bezüge, die dem Menschen das Gefühl der Geborgenheit in einer Gemeinschaft vermitteln.“ Der Grundstücksbesitz allein vermittelt sicher nicht ein solches Gefühl, hinzukommen muß zumindest die ungehinderte Wahrnehmung aller Grundrechte, einschließlich des Rechts auf freien Gebrauch der Muttersprache und der Wahrung der eigenen kulturellen Identität sowie ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen zur jeweils anderssprachigen Bevölkerung.

Auch die Möglichkeit der Entschädigung oder Restitution wird angesprochen. Und darauf hingewiesen, dass entsprechende Klagen vor europäischen Institutionen zwar nicht völlig aussichtslos sind, aber einem langwierigen und mitunter auch kostspieligen Instanzenweg unterworfen sind. Einzelne abgeschlossene oder laufende Verfahren werden einer kritischen Betrachtung unterzogen. Darüber hinaus wird angedeutet, daß eine umfassende Entschädigungsregelung für alle im Zuge der Vertreibung Enteigneten seitens der polnischen Regierung in Vorbereitung sei, bei der allerdings angesichts der permanenten Krise des polnischen Staatshaushalts nur mit symbolischen Zahlungen zu rechnen sei. Eine solche Regelung würde nach den dem Autor vorliegenden Informationen auch die Zustimmung der deutschen Vertriebenenverbände finden. Auch nach Meinung des Rezensenten würde dies zu einer wesentlichen, quantitativ neuen Gestaltung des deutsch-polnischen Verhältnisses beitragen, allerdings nur dann, wenn sichergestellt ist, das die Gewährung einer Entschädigung durch den Vertreiberstaat nicht dazu führt, daß die deutschen Vertriebenen den erhaltenen Lastenausgleich zurückzahlen müssen.

Das Büchlein bietet auf den Seiten 12 bis 15 eine tabellarische Aufstellung der polnischen Vertreibungsdekrete mit Fundstellennachweis und Hinweisen auf fortdauernde Rechtswirkungen, der Anhang auf den Seiten 69 bis 129 enthält die Texte der noch gültigen polnischen Vertreibungsdekrete in deutscher Übersetzung. Ein Literaturverzeichnis fehlt leider, die Literatur ist jedoch jeweils auf der betreffenden Seite im Fußnotenteil nachgewiesen. In erster Linie bietet diese Veröffentlichung eine juristische Handreichung für alle, die beabsichtigen, in Polen ein Grundstück zu erwerben oder ihr enteignetes Grundstückseigentum auf dem Rechtsweg über polnische und/oder europäische Gerichte zurückzuerlangen. Allerdings gilt hier das Sprichwort, daß guter Rat teuer ist: 24,80 Euro für eine Broschüre von 129 Seiten ist ein stolzer Preis. Demzufolge wird sich die Verbreitung dieses Werkes auch in Grenzen halten, obwohl ihm eigentlich eine weite Verbreitung zu wünschen wäre, zumal es sich nicht nur mit den Problemen der Vergangenheit beschäftigt, sondern auch Perspektiven für die gemeinsame europäische Zukunft aufzeigt. Auch Politikern und allen mit den Alltagsfragen der deutsch-polnischen Beziehungen Beschäftigten sei diese, auch für den Nicht-Juristen verständlich geschriebene, rechtswissenschaftliche Abhandlung empfohlen.

Johann Frömel, Nürnberg