150 WIDERWORTE
Die Sperrmauer
LOTHAR ORZECHOWSKI ÜBER DAS GEDENKEN

Kollektive Erinnerung funktioniert ebenso wie individuelle Erinnerung. Sie ist lückenhaft und läßt sich nur bedingt steuern. Das ist gut so. Das Gedächtnis ist kein geordnetes Archiv. Es ähnelt eher einem Dachboden mit allerlei abgestelltem Krempel. Nein, nicht Krempel. Das Vergangene ist nie ganz vergangen. Es wirkt in der Gegenwart nach und in sie hinein, manchmal konturenscharf und manchmal nur als ein schwaches Aroma.
Diese schöne Unordnung unbedingt ins Reine bringen zu wollen, halte ich für vermessen und falsch.
Richtig – die überpersönliche, die nationale Geschichte ist etwas anderes.
Sie bedarf der Vermittlung, auch der Steuerung durch Schule, Universität, Medien und Kunst.
Ein erinnerungsloses Volk kennt sich selber nicht.
Eine Nation kann aber auch erinnerungslos werden in der Fixierung auf einen einzigen historischen Moment. Das Jahr 1933 mit allem, was danach kam, wirkt wie eine Sperrmauer für das kollektive Gedächtnis. Es gibt jedoch auch jenseits dieser kultisch überhöhten Klagemauer Erinnerungswürdiges und Erinnerungsbedürftiges.

LOTHAR ORZECHOWSKI ist in Berlin und Kassel lebender Kommentator und Kolumnist unserer Zeitung.
sonntagszeit@hna.de
Sonntagszeit (HNA) 2001-11-18 Seite 4.