Ihren Zweck haben sie erfüllt
Die Benes-Dekrete gültig und doch nicht mehr wirksam
Von Karl-Peter Schwarz
BRÜNN, im März. Ein Sammellager für Deutsche, in einem Vorort von Brünn, kurz nach Kriegsende. Ein alter Mann wird gezwungen, einen Zaun zu bauen, aber er ist zu schwach, um die schweren Pfähle aufzuheben. Ein tschechischer Aufseher stürzt sich auf ihn, um ihn zu verprügeln; ein fünfzehnjähriger Junge hindert ihn daran. Der Junge wird sofort festgenommen und zum Lagerleiter geführt. "Ich bin damals nur davongekommen, weil ich noch minderjährig war", erzählt Vladimír Cermák im Gespräch mit dieser Zeitung, und fügt hinzu: "Ich hatte auch damals keinen Haß gegen Deutsche." Der Aufseher sei ihm als Kommunist bekannt gewesen. Cermák, der einer Familie entstammt, die der volkssozialistischen Partei des Nachkriegspräsidenten Edvard Benes nahestand, wurde unter den Kommunisten politisch verfolgt. "In gewisser Hinsicht", sagt er, "war der Kommunismus sogar noch schlimmer als der Nationalsozialismus." Seit 1992 gehört Cermák dem tschechischen Verfassungsgerichtshof an, der seinen Sitz in Brünn hat, in einem Gebäude, das einst für den Mährischen Landtag errichtet worden war. Von Vladimír Cermák stammt die Begründung des sogenannten Dreithaler-Urteils des Brünner Verfassungsgerichtes vom 8. März 1995 (US 14/94), mit der die Klage des Beschwerdeführers Rudolf Dreithaler aus Reichenberg (Liberec) gegen das Enteignungsdekret Nr. 108/1945, erlassen vom Präsidenten Benes, abgewiesen wurde.
Dieses Urteil, das die von Benes verfügte Enteignung "physischer Personen deutscher oder magyarischer Nationalität" als "nicht nur legalen, sondern auch legitimen Akt" verteidigt, wurde von Sprechern der Vertriebenenverbände als "Schandurteil" bezeichnet. Der deutsche Völkerrechtler Dieter Blumenwitz nannte es "skandalös", einen "bedauernswerten Rückschlag in der europäischen Menschenrechtsentwicklung". Das Europäische Parlament hat die tschechische Regierung bereits in zwei Resolutionen aufgefordert, die gegen einzelne Volksgruppen gerichteten Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 auf ihre Vereinbarkeit mit der europäischen Rechtsordnung zu überprüfen. Diese Dekrete und Gesetze waren Grundlage für die kollektive Entrechtung, Enteignung und Vertreibung von rund drei Millionen tschechoslowakischer Staatsbürger deutscher und ungarischer Nationalität. In Österreich fordern Regierung, Parlament und Landesparlamente die Annullierung dieser Rechtsnormen.
Auch in der Tschechischen Republik gab es mehrere gegen die Dekrete gerichtete Initiativen. Zuletzt haben die Historiker Jan Mlynarik und Emanuel Mandler am 11. März in Prag eine neue Vereinigung vorgestellt, die die Benes-Dekrete als "kriminell" bezeichnet und deren Beseitigung fordert.
Tschechische Politiker hingegen, unter ihnen Präsident Havel und Ministerpräsident Zeman, sprechen im Zusammenhang mit diesen Dekreten von "erloschenem" oder "totem Recht", die Forderung nach ihrer Aufhebung halten sie daher für gegenstandslos.
Die erste Frage an Zdenek Kessler, den Vorsitzenden des Brünner Verfassungsgerichtshofs, und an Cermák, den Kessler zu diesem Gespräch beizieht, zielt daher darauf, ob die Dekrete nun gelten oder nicht. Die Antwort der beiden Verfassungsrichter ist negativ. "Seit fünfzig Jahren haben diese Dekrete keine rechtliche Wirksamkeit mehr entfaltet", sagt Cermák. Ihre Bedeutung sei "historisch-politischer Natur" und bestehe unter anderem darin, daß sie die Kontinuität der tschechischen (zuvor tschechoslowakischen) Staatlichkeit und Rechtsordnung verkörperten. Auf dem Feld der tschechischen Rechtsgeschichte stünden sie ähnlich da wie die Pyramiden in Ägypten: Ihr Vorhandensein sei deutlich sichtbar, ihre Bedeutung sei gewaltig gewesen, aber sie hätten keine Funktion mehr. Das, sagt Kessler, ergebe sich bereits aus einer aufmerksamen Lektüre der Begründung des Dreithaler-Urteils von 1995, die als grundlegende Stellungnahme des Verfassungsgerichts zu diesem Problemkreis zu werten sei. Diese Begründung ging davon aus, daß eine Revision des angefochtenen Dekretes schon allein deshalb nicht möglich sei, "weil ihm kein konstitutiver Charakter mehr eignet". Aufgehoben werden können nur geltende Gesetze, und der normative Akt des Enteignungsdekrets, heißt es in der Begründung, "hat seinen Zweck bereits erfüllt". In anderen Worten: Das Verfassungsgericht hält die auf der Basis des Dekrets 108/1945 erfolgten Enteignungen für legal und legitim; die Rechtsfolgen des Dekrets bleiben daher bestehen, aber es können keine weiteren Enteignungen auf dieser Rechtsgrundlage erfolgen. In der Urteilsbegründung heißt es: "Die präsidentiellen Dekrete wurden verfassungskonform erlassen, sie wurden verfassungskonform ratifiziert und sind ein gültiger Bestandteil unserer Rechtsordnung." Ihrer Ex-tunc-Aufhebung hat der Verfassungsgerichtshof also einen Riegel vorgeschoben, und eine Ex-nunc-Aufhebung sei ebenfalls nicht möglich, weil ihre normative Funktion erloschen sei.
Wie Cermák hat auch Gerichtspräsident Kessler seine politischen und kulturellen Wurzeln in der von Masaryk begründeten und von Benes weitergeführten politischen Tradition. Als Aktivist der volkssozialistischen Partei wurde er von den Kommunisten zu sieben Jahren Zwangsarbeit in einem Uranbergwerk verurteilt. Beide Verfassungsrichter geben ohne weiteres zu, daß die Benes-Dekrete von den Kommunisten zur Vorbereitung ihrer totalitären Wende genützt sie sagen: "mißbraucht" wurden. "Legal" und "legitim" seien zwar die Dekrete gewesen, aber nicht immer die Praxis, die sich auf diese Dekrete berufen hat. Die Begründung des Dreithaler-Urteils liest sich wie eine Synthese des in der Masaryk-Benes-Tradition geformten tschechischen Geschichtsbildes.
"Verantwortlichkeit für den Ursprung des Nazismus".
Zwar wird die Vorstellung einer kollektiven "Schuld" der "Personen deutscher Nationalität" zurückgewiesen, aber dafür wird die wesentlich breitere Kategorie der "Verantwortlichkeit" für "den Ursprung und die Entwicklung des Nazismus" herangezogen, die "die deutsche Nation" selbst treffe. Der deutsch-tschechische Konflikt sei in diesen Jahren nicht nationaler Art gewesen, sondern habe in einem "Zusammenstoß zwischen einem demokratischen und einem totalitären politischen System" bestanden, wobei "des Deutschen Pflicht, den Zielen des totalitären Staates zu dienen, allein aus seiner Staatsbürgerschaft" erwachsen sei (tschechoslowakische Bürger deutscher Nationalität erhielten nach dem Münchner Abkommen von 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit). Wenn nun aber einmal "ehemalige tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Nationalität zur Zerstörung der Rechte und Freiheiten anderer Bürger der Tschechoslowakischen Republik" beigetragen hätten, dann sei "die natürliche Konsequenz daraus, daß ihre Rechte und Freiheiten in diesem Konflikt nicht zur Gänze gewährleistet werden konnten". Diese "natürliche Konsequenz" betrifft sie aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit: "Wenn bestimmte soziale Gruppen in der Ausübung ihrer menschlichen Rechte und Freiheiten sich selbst keine Grenzen auferlegen und dabei die Rechte und Freiheiten anderer zerstören, dann bleibt keine andere Option, als ein solches Verhalten legal und sozial zu sanktionieren."
Wenig Aufmerksamkeit für ein anderes Urteil.
Historisch und politisch unterschiedliche Interpretationen sind eine Sache, rechtliche Gegebenheiten aber eine andere. Nicht minder wichtig als das Urteil im Falle der Klage Dreithalers gegen das Enteignungsdekret ist ein Urteil, das der Verfassungsgerichtshof am 20. November 1997 gefällt hat (US 205/97). Wieder war Richard Dreithaler der Beschwerdeführer und Cermák der Richter. Diesmal aber gab das Gericht dem Kläger recht. Es ging um die Hinterlassenschaft einer Anfang Oktober 1945 drei Wochen vor dem Inkrafttreten des Enteignungsdekrets gestorbenen Person, die ohne die gerichtliche Eröffnung eines Erbschaftsverfahrens konfisziert worden war.
Das Gericht stellte fest, daß der Erbberechtigte "den Rechtsakt nicht vollzog und auch nicht vollziehen konnte, den er in einem Rechtsstaat sonst ohne Zweifel getätigt hätte". Nach Auffassung des Gerichtes handelte es sich um eine "Diskriminierung" des Erbberechtigten, und zwar "nur deswegen, weil er deutscher Abstammung war". Cermák, der sichtlich stolz auf dieses Urteil ist, hebt hervor, daß sich der Kläger bei ihm mit einem persönlichen Schreiben bedankt habe. Das Urteil Dreithaler II wird von Anwälten, die sich mit Restitutionen in der Tschechischen Republik befassen, als eine Art "Durchbruch" gewertet. An den Enteignungen, die unter den Voraussetzungen der damals geltenden Dekrete und unter der Zustellung rechtskräftiger Bescheide vollzogen wurden, lasse sich nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zwar nicht rütteln; das gelte aber nicht für jene zahlreichen Fälle, in denen unter Mißachtung der rechtlichen Bestimmungen "flächig" enteignet worden sei. Jeder Versuch, einer damals nicht rechtswirksam erfolgten Konfiskation durch die Nachreichung eines Bescheides nunmehr Gültigkeit zu verleihen, käme einer "ethnischen Nach-Säuberung" gleich, wie es ein Anwalt dieser Zeitung gegenüber formulierte. Der Brünner Verfassungsrichter Antonín Procházka hatte bereits 1999 in einem Interview mit der Tageszeitung "Lidové noviny" zur Klage geraten, falls eine "nicht ordnungsgemäße Konfiskationsentscheidung" vermutet wird. "Ich schätze", sagte Procházka damals, "daß ein Dekret in bis zu vierzig Prozent jener Fälle mißbraucht worden ist, in denen Eigentum (. . .) konfisziert wurde."
Die historisch-politische Bedeutung der Benes-Dekrete steht außer Frage, für die
Vertriebenen ebenso wie für die Tschechische Republik, wenn auch aus entgegengesetzten
Gründen. Die Tschechen sind parteiübergreifend nicht dazu bereit, der Forderung nach der
Aufhebung der Dekrete oder nach einer offiziellen Distanzierung von ihnen nachzukommen.
Aber könnte es nicht auch sein, daß diese "Pyramiden" den Blick auf rechtliche
Möglichkeiten verstellen, die Klägern heute bereits offenstehen? Juristisch betrachtet
verwundert es, daß zwar gegen das Dekret 108/1945 ein
Musterprozeß angestrengt wurde, aber dem Restitutionsgesetz von 1992 nur wenig
Aufmerksamkeit geschenkt wird, das die tschechische Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung
der Rückgabe geraubten Eigentums erklärte und damit alle Ausländer diskriminiert, auch
jene tschechischer Abstammung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2001, Nr. 68 / Seite 1 und 2