Gedenkfeier der Sudetendeutschen Landsmannschaft
am 3. März 2001

Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident, verehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren, liebe Angehörige der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

Diese alljährlich wiederkehrende Gedenkfeier wurde heuer unter das Generalthema "Selbstbestimmung im Jahre 2001, im dritten Jahrtausend" gestellt. Diese Frage ist mehr als berechtigt. Denn die Geschichte lehrt uns, daß all die Verwerfungen und tragischen Ereignisse, die Europa im 20. Jahrhundert erfaßt hat, nicht davon Kunde geben, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch eine umfassende Wirksamkeit erlangte.

Wir sind heute zusammengekommen, um in einem würdigen Gedenken der Opfer zu erinnern, die erbracht wurden, um dieses Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen. Es ist dies eine Begegnung, die wir auch am Beginn des dritten Jahrtausends mit der tragischen Geschichte eines Volkes durchführen.

Die Tragik der Sudetendeutschen hat nicht nur das 20. Jahrhundert bestimmt. Sie wird uns auch sicherlich noch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Es ist die Geschichte eines Teils des alten Österreichs, der in den Umbruchzeiten des Jahres 1918 den Versuch gemacht hat, sich seinen Stellenwert in einem neuen politischen Gemeinwesen, in der Republik Österreich, zu sichern. Wenn nun in der sogenannten modernen Geschichtsschreibung der Versuch unternommen wird, die Dinge so darzustellen, als sei die Vertreibung als Folge der Ereignisse nichts anderes gewesen, als daß lästige politische Söldner oder eine Kolonialmacht, die eine geraume Zeit ein bestimmtes Gebiet beherrschte, weggeschickt wurden, so ist das schlichtweg falsch.

Wir wissen, daß die Sudetendeutschen mehr als 700 Jahre Geschichte, Kultur und Wirtschaft in ihrer Heimat nachhaltig geprägt haben. Wir wissen aber auch, daß sie nicht zuletzt deshalb aus ihrer Heimat verdrängt worden sind, weil das jene Gebiete waren, die zu den blühendsten, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, in der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gezählt haben. So waren 76 % des industriellen Kapitals und der industriellen Wertschöpfung in diesem relativ kleinen Raum der Monarchie konzentriert gewesen. Vielleicht ist das Sudetenland gerade deswegen so umstritten und umgekämpft gewesen. Es ist daher positiv, wenn die neue österreichische Bundesregierung erstmals nach vielen Jahrzehnten eine ist, die sich auch dieser geschichtlichen Frage der Altösterreicher stellt und die Entschlossenheit aufbringt, auch im Interesse der geschichtlichen Wahrheit für diese Altösterreicher entsprechende Weichen zu stellen.

Sehr geehrte Damen und Herren, es kann nicht sein, daß Geschichte ungleichgewichtig aufgearbeitet wird. Wenn man mit großem Elan daran geht, einen Teil der österreichischen Geschichte zu bewältigen, wie jenen der Restitution von Vermögen der emigrierten Juden, und damit auch mit diesem Kapitel der Geschichte nach vielen Jahrzehnten ins Reine kommt, dann ist es unverständlich, wenn über die Frage der Vertreibung und des Schicksals der Heimatvertriebenen der Mantel des Schweigens gebreitet werden soll.

Die alte Heimat fest im Herzen tragen, die neue lieben lernen
Die Begegnung mit der tragischen Geschichte der Sudetendeutschen ist für mich als Kärntner Landeshauptmann aber auch eine Begegnung mit vielen Mitbürgern meines Bundeslandes, die zum Kreis der Heimatvertriebenen zählen. Die Altösterreicher deutscher Muttersprache gehören zu den besten und haben ganz wesentlich dazu beigetragen, daß unser Land nach 1945 so hervorragend aus den Trümmern wiederaufgebaut wurde und unserer Jugend damit eine gute und gesicherte Zukunft in einem blühenden Land ermöglicht werden kann.

Ich sage das vor allem im Bewußtsein als Landeshauptmann, der sehr viel mit seinen heimatvertriebenen Mitbürgern zu tun hat, und der sie menschlich sehr gut kennen und auch schätzen gelernt hat. Denn ich weiß, daß diese Menschen zwar ihre alte Heimat fest im Herzen tragen, aber die neue Heimat lieben gelernt haben. Das ist eine ganz entscheidende Grundlage, um ein Gemeinwesen nicht nur materiell, sondern auch ideell zu gestalten.

Zur gleichen Zeit, als das Schicksal der Sudetendeutschen seinen Lauf nahm, galt es auch im südlichen Teil Österreichs harte Entscheidungen zu treffen. Der Kärntner Freiheitskampf des Jahres 1918/19 ist vielen bekannt. Auch uns drohte ein ähnliches Schicksal wie das der Sudetendeutschen zu treffen. Das Gebiet südlich der Drau hätte eigentlich dem SHS-Staat zugeschlagen werden sollen. Unsere Sache in Kärnten ist besser gelaufen, als jene der Sudetendeutschen. Die Kärntner Bevölkerung hat durch die Gunst der historischen Ereignisse die Chance bekommen, vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen, und hat eine klare Entscheidung für ein freies und ungeteiltes Kärnten bei der nahen Republik Österreich getroffen. Diese Chance hat man den Sudetendeutschen in jenen Zeiten nicht geboten. Es war ein Strohhalm, an den sich die Sudetendeutschen geklammert hatten. Denn das Selbstbestimmungsrecht hatte damals noch keine Tradition. Der amerikanische Präsident Wilson hat es verkündet, aber es war damals für viele eigentlich mehr eine plakative, politische Position, denn ein reales Instrument zur Durchsetzung. Trotzdem: Die Sudetendeutschen nahmen diese Botschaften vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch jenen in der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie nunmehr aufzuteilenden Völkern zuteil werden sollte, dankend an. Es ging immerhin um 3,5 Millionen Menschen in einem geschlossenen Siedlungsraum, den sie über die Jahrhunderte kulturell und wirtschaftlich geprägt hatten.

4. März 1919 – Der Beginn eines Kreuzweges
Dieses Selbstbestimmungsrecht sollte allerdings durch eine Politik der vollendeten Tatsachen, wie sie das tschechische Militär gemacht hat, verhindert werden. Die Annexion des Sudetenlandes, wie sie schon in den letzten Monaten und Wochen des Jahres 1918 stattfand, war nicht ein ungedeckter Übergriff des tschechischen Militärs, ehe das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es die Friedensverhandlungen in Paris vorsahen, durchgesetzt werden konnte. Die Annexion des Sudetenlandes durch das tschechische Militär war vielmehr erst – das wissen wir heute – durch die Billigung Frankreichs möglich geworden.

Am 4. November 1918 sagte Minister Rašin bereits in einer Rede: "Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase, aber jetzt, wo die Entente gesiegt hat, entscheidet nur mehr die Gewalt." Und im Februar 1919 hat Präsident Masaryk in einem Interview mit der französischen Tagezeitung "Le Monde" gemeint: "Ich bin aber überzeugt, daß auch im Sudetenland eine rasche Entgermanisierung stattfinden wird."

Der Beginn dessen war am 4. März 1919 unübersehbar: Unschuldige Frauen, Kinder, Erwachsene fielen der Willkür der tschechischen Soldateska zum Opfer. Trotz der immer wieder erfolgten Eingaben eines politischen Gesandten, der dieses wahllose Niederschießen von schuldlosen Menschen anprangerte, bedarf es keiner Veränderung der Position. Der 4. März 1919 ist der Beginn des Kreuzweges, den die Sudetendeutschen über Jahrzehnte gehen mußten und der das beschwerliche und blutige Schicksal dieser Volksgruppe zeichnet. Es ist ein Kreuzweg im Kampf um die eigene Heimat, der in der Vertreibung nach dem Ende des 2. Weltkrieges im Jahre 1945 gipfelte, bei der mehr als 241.000 unschuldige Menschen zu Tode gekommen sind.

Nicht Rache, sondern ungeteilte Durchsetzung von Menschenrechten
Überall auf der Welt wird heute auf die Einhaltung des Völkerrechtes größter Wert gelegt. Ethnische Säuberungen werden nicht nur öffentlich angeprangert, es werden internationale Tribunale eingerichtet, die die Verantwortlichen mit Sanktionen eindecken und die Täter verurteilen sollen. Ob im Kosovo, ob in Uganda, ob Äthiopien, überall wird ethnische Säuberung und Vertreibung bekämpft. Das Weltgewissen ist wach, wenn es um die Durchsetzung von derartigen Maßnahmen des Völkermordes geht. Umso mehr ist es verwunderlich, daß im Kerne Europas das Unrecht, das den Sudetendeutschen zugefügt wurde, eigentlich mit Schweigen durch das sogenannte Weltgewissen quittiert wird. Es kann keinen Unterschied machen, ob es sich dabei um Opfer handelt, die auf der Seite der Sieger oder der Besiegten stehen. Völkerrecht muß umfassend gelten und kann nicht mit der Frage der Stärke von Sieg und Niederlage zusammenhängen.

Wenn dieses Europa ein Europa der Menschenrechte sein soll, dann muß es sich als sogenannte Wertegemeinschaft auch der Frage dieser Vertreibung endlich stellen und eine klare Antwort darauf geben. Dabei geht es nicht um Rache, auch nicht um billigen Triumph über andere, sondern einfach um die ungeschmälerte und ungeteilte Durchsetzung und Geltung der Menschenrechte für Altösterreicher deutscher Muttersprache.

"Minderwertige Untertanen eines slawischen Staates"
Es geht auch nicht darum, die Völker anzuklagen, sondern jene Verbrecher namhaft zu machen, die diese Völker angestiftet haben. Denn die Völkergemeinschaft wurde in den Jahren 1918/19 durch das Verhalten der tschechischen Politik gehörig in die Irre geführt. Erinnern wir uns an das schriftliche Bekenntnis von Eduard Beneš, der der Völkergemeinschaft in Paris versprochen hatte, daß es so etwas wie ein Schweizer Gemeinwesen im neuen tschechischen Staat geben würde, das auch der Sudetendeutschen Volksgruppe volle Rechte und Autonomie einräumen würde. Davon war später nicht mehr die Rede. Erinnern wir uns daran, daß diese schönen Versprechen letztlich auch dazu geführt haben, daß alle Petitionen, die in der Folge im Laufe der Jahre an den Völkerbund gerichtet worden waren, ohne Erfolg abgeschmettert wurden. Der britische Botschafter, Sir Henderson, hat 1938 sehr eindrucksvoll seiner Regierung eine Mitteilung gemacht. Als es um die Frage des Anschlusses des Sudetenlandes an das damalige Deutsche Reich gegangen ist, meinte er: "Ein Krieg, um die Welt vor einer deutschen Politik des Gebrauchs nackter Gewalt zu retten, hat meiner Ansicht nach alle moralischen Gründe für sich. Ich kann es jedoch nicht einsehen, daß wir uns in diesem 20. Jahrhundert mit seinen Grundsätzen der Nationalität und des Selbstbestimmungsrechtes auf moralischem Boden befinden würden, wenn wir Kriege führen, um 3,25 Millionen Sudetendeutschen zu zwingen, minderwertige Untertanen eines slawischen Staates zu bleiben." Henderson hatte erkannt, welche Gefahr von dieser Strategie ausgegangen wäre. Um weitere Konflikte im Herzen von Europa zu verhindern, führte dies in der Folge denn auch zum klaren Auftrag der Alliierten, daß 100 % des Territoriums des Sudetenlandes an Deutschland geschlagen werden sollte. Beneš versuchte abermals eine andere Lösung, indem er vorschlug, etwa 1,5 bis 2 Millionen Sudetendeutsche mit ihrem Siedlungsgebiet an Deutschland abzutreten. Jedoch vor dem Hintergrund, daß Tschechien im verbleibenden Restsudetengebiet sodann nicht nur eine ruhige industrielle Kompetenz hätte, sondern auch erstmals bevölkerungsmäßig über eine klare Mehrheit verfügen würde.

Der grausame letzte Akt
Das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 besiegelte die Entscheidung der Alliierten. Wer aber glaubt, daß damit eigentlich die Durchsetzung des Willens des damaligen Führers des Deutschen Reiches erfolgte, der befindet sich im Irrtum. In Wirklichkeit hatten die Alliierten sein Konzept ordentlich durcheinander gebracht, was auch durch seinen Ausspruch, daß Chamberlain seinen Einzug in Prag verdorben hätte, ganz nachhaltig unterstrichen wird. Beneš gab aber nicht auf. Bereits im Mai 1941 sprach er von der Notwendigkeit eines sogenannten Bevölkerungstransfers. Die Ereignisse der einsetzenden Vertreibung ab Mai 1945 kennen wir. Angesichts der heute bekannten historischen Fakten können wir sagen, daß dies kein spontaner Racheakt der tschechischen Bevölkerung gegenüber den Sudetendeutschen gewesen ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine langgeplante Vertreibung, die spätestens im Jahre 1918 als Idee begann und 1945 als Ausbruch des Nationalismus und Panslawismus ihren Höhepunkt fand.

Das sind die historischen Fakten, meine sehr geehrten Damen und Herren. Der 5. und 6. Mai 1945 sind zum Symbol für den Beginn des grausamen letzten Aktes in der Geschichte der Sudetendeutschen-Vertreibung geworden. Ganz Prag war erleuchtet von menschlichen Fackeln. Sudetendeutsche wurden mit Benzin übergossen und angezündet, ob Alte, ob Junge, ob Frauen, ob Männer. Und Beneš redete seinen Leuten ins Gewissen: "Es ist ihnen," sagte er, "und allen von uns wohl klar, daß die Liquidierung der Deutschen hundertprozentig sein muß." Das war es nahezu, denn immerhin wurden über seinen Erlaß 1.215 Konzentrationslager, über 800 Straflager und 215 Spezialgefängnisse errichtet, in denen Sudetendeutsche interniert wurden, um sich das Problem vom Hals zu schaffen. Manche dieser Lager wurden erst 1950 aufgelassen. Besonders bemerkenswert ist die Rede von Beneš am 3. Juli 1945 in Kabor, wo er sagte: "Ich erteile allen Narodnj vibor, also den Nationalausschüssen, strengen Befehl, unseren Leuten im Grenzgebiet Platz zu verschaffen. Werft die Deutschen aus ihren Wohnungen und macht für die unsrigen Platz. Alle Deutschen müssen verschwinden. Was wir im Jahre 1918 durchführen wollten, erledigen wir jetzt. Damals schon wollten wir alle Deutschen abschieben, Deutschland war aber noch nicht vernichtet und England hielt uns die Hände. Jetzt aber muß alles erledigt werden. Kein Deutscher Bauer darf auch nur einen Quadratmeter Boden unter den Füßen haben, kein deutscher Gewerbe- oder Geschäftsmann darf sein Unternehmen weiterführen. Wir wollten es eigentlich auf eine etwas feinere Weise zur Durchführung bringen, aber dann kam uns das Jahr 1938 dazwischen. All dessen muß sich jeder Narodnj bewußt sein und rasch handeln."

Die Beneš-Dekrete – Dokument eines menschenverachtenden Ungeistes
Ein klarer Auftrag, der auch in der Folge entsprechend umgesetzt worden ist. Geplanter Völkermord, der – vorausbedacht und beabsichtigt – seinen Ausgang in den Ereignissen des 4. März 1919 genommen hat. Alles war klar geplant. Und auch die tschechische Verfassung vom 9. Mai 1945 erklärte die Deutschen dieses Gebietes zu Feinden. Es folgten die Beneš-Dekrete. Sie machten die Menschen vogelfrei und waren die formale Grundlage für die blutige Orgie gegen Schuldlose. Die Beneš-Dekrete sind ein Dokument des Ungeistes, der – wie in vielen anderen Fällen auch – Europa immer wieder in die Katastrophe gestürzt und tiefe Abgründe geschaffen hat.

Nach dem Ende des Krieges geschaffen und bis heute noch in Kraft werden diese Dekrete nicht zuletzt deshalb gegen besseres Wissen und Gewissen verteidigt, weil jene, die sich damals an den Vertreibungshandlungen beteiligten, nicht nur einer generellen Amnestie unterzogen wurden, sondern auch das Eigentum, das sie sich widerrechtlich angeeignet hatten, in ihren Besitz integrieren durften. Ich glaube daher, daß diese Sicht der Dinge nichts mit Revanchismus zu tun hat, sondern einfach ein Hinweis darauf ist, daß in diesem Europa von Menschenwürde und Menschenrechten erst dann die Rede sein kann, wenn menschenverachtende Dokumente, wie jene von Beneš, endlich der Vergangenheit angehören.

Ein unverdächtiger Zeuge
Wie grausam die geplante und durchdachte Vertreibung von hunderttausenden Menschen gewesen ist, belegt ein beachtenswerter Artikel, den der sicherlich nicht der Konspiration mit den Deutschen verdächtige und spätere Bundeskanzler Willi Brandt als Nachrichtenkorrespondent für Norwegen im Jänner 1946 verfaßt hat. Im Detail wird darin berichtet, welch schreckliche Taten die tschechischen Soldaten an unschuldigen Sudetendeutschen verübten, wie es den Gefangenen ergangen ist, die des Nachts draußen auf dem Felde mit dem Gesicht nach unten lagen und erschossen wurden, wenn sie den Kopf hoben. Es wird daran erinnert, was unschuldige Kinder erdulden mußten, wenn sie ihre Position nur um zwei Schritte veränderten und daraufhin serienweise erschossen wurden, was Frauen erlitten hatten, die halbtot geprügelt wurden, bevor man sie vergewaltigte, und wie Mütter sich das Leben nahmen, nachdem man ihnen die Kinder geraubt hatte. Das alles dokumentiert jemand, der nicht im Verdacht steht, besondere nationale Empfindungen für das Deutschtum gehabt zu haben. Kein geringerer als Willi Brandt.

Bis heute aber gibt es ein Schweigen über diese Dinge. Und es bleibt der Sudetendeutschen Landsmannschaft und dem Zusammenhalt dieser Volksgruppe vorbehalten, von sich aus immer wieder auf dieses Unrecht aufmerksam machen. Die öffentlichen und veröffentlichten Meinungen gehen, wie wir wissen, sehr stark auseinander. In der veröffentlichten Meinung finden wir von diesen Ereignissen sehr wenig. Denn sie könnten der Grund sein, daß in einer Zeit der Erweitung der Europäischen Union über Dinge geredet wird, die notwendigerweise zu erledigen sind, wenn die Europäische Union sich erweitern und eine Friedensgemeinschaft sein will.

Wir tun gut daran, uns nicht zu verschweigen
Dieses Schweigen macht deshalb so betroffen, weil jeder, der nicht dazu schweigt, sofort durch die kollektive Abwehr der veröffentlichten Meinungsmacher beschuldigt wird, einer extremen Gesinnung anzuhängen. Ich hätte mir gewünscht, daß nach Jahrzehnten dieser fürchterlichen Vertreibungen und angesichts der Tatsache, daß es Hunderte Gefängnisse gegeben hat, in denen Tausende Menschen nicht nur massakriert sondern auch zu Tode gekommen sind, es wenigstens einmal ein österreichischer oder deutscher Politiker der Mühe wert gefunden hätte, dort eine Blume niederzulegen.

Aber was soll man sich von einer politischen Elite in unserem Europa erwarten, zu der sich auch jene zählen, die noch vor wenigen Jahren deklarierte Sympathie für demokratiefeindlichen und staatsgefährdenden Terrorismus bekundet haben und heute außenpolitische Lenker eines Staates sind. Was soll man sich von einer politischen Elite erwarten, für die Gewalt gegebenenfalls auch ein Mittel der Politik ist.

Ich glaube, wir tun gut daran, uns nicht zu verschweigen. Ein friedliches und freies Europa wird nur dann umfassend sichergestellt werden können, wenn nicht Kollektivschuldurteile getätigt werden, sondern wenn auch in den Köpfen der jüngeren Generation die Gedächtnislast für das, was dieses Europa geteilt, gespalten und erniedrigt hat, wach gehalten wird. Auch die Republik Österreich trägt Verantwortung für unsere Altösterreicher deutscher Muttersprache. Es kann nicht sein, daß ihre Geschichte unter das sogenannte Diktat des Schlußstriches fällt. Der macht erst dann Sinn, wenn auch die Wahrheit zum Durchbruch gekommen ist. Die institutionellen Einrichtungen dafür haben wir im eigenen Land verfügbar! Dank eines Geschenks der Europäischen Union ist in Wien das Zentrum einer Beobachtungsstelle für Rassismus in Europa eingerichtet. Ich denke, dieses Zentrum sollte mit wirklichem Leben erfüllt werden, denn die Beobachtung demokratischer, politischer Bewegungen und Regierungsparteien im eigenen Land macht wohl wenig Auftrag und gibt dem entsprechend wenig Ergebnisse. Ich würde dieser Beobachtungsstelle für Rassismus auf alle Fälle empfehlen, sich mit den nördlichen Nachbarn auseinanderzusetzen und die Frage zu stellen: "Warum diskutieren wir bis heute nicht die Aufhebung der Beneš-Dekrete und verlangen wir nicht endlich eine menschenwürdige gerechte Behandlung auch der Heimatvertriebenen in Europa?"

Wenn es eine Erweiterung der Europäischen Union gibt, dann müssen in einer Wertegemeinschaft auch diese Fragen eine entscheidende Rolle spielen. Ich bin durchaus nicht einer Meinung mit dem, was die offizielle österreichische Außenpolitik dann und wann in den letzten Monaten geäußert hat. Man kann nicht sagen, das ist eine Sache, die nicht auf EU-Ebene diskutiert wird. Es ist eine Sache, die auf EU-Ebene gelöst werden muß, wenn wir innerhalb Europas Wertvorstellungen, Menschenwürde und Menschenrechte ernst nehmen und sie zur Grundlage unserer Freiheitsordnung machen wollen.

Das gilt gleichermaßen für den Beitritt Tschechiens, wie für den Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union, wo es um die Aufhebung der diskriminierenden Avnoj-Beschlüsse geht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Gemeinschaft, die es für sich in Anspruch nimmt eine Wertgemeinschaft zu sein und durch einen demokratischen Regierungswechsel in Österreich sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden ist, nicht erkennt, daß hier die Qualität der Betrachtung durchaus unterschiedlich sein kann. Ein demokratischer Regierungswechsel gefährdet die Wertegemeinschaft nicht! Sehr wohl aber eine Missachtung von Menschenrechten und die Missachtung eines ungesühnten und unverjährten Genozids. Das kann niemals die Grundlage einer Freiheitsgemeinschaft für ganz Europa sein.

Totes Recht, totes Unrecht, oder doch Bestandteil der Rechtsordnung
Es wird jetzt wieder der Versuch unternommen, einer klaren Entscheidung in dieser Sache zu entgehen, indem man davon spricht, "es handle sich ohnehin um ein totes Recht, das nicht mehr diskutiert werden müsse" oder um "totes Unrecht", was an sich ja schon ein qualitativer Fortschritt wäre. Dann wundere ich mich aber, warum Sudentendeutsche Bürger, die bei den tschechischen Behörden um die Wiedereinsetzung in ihren Besitz und ihr Eigentum angesucht haben, bis heute noch Briefe bekommen, wie jener, der mir hier vorliegt, datiert mit 29. Mai 1999, indem das Finanzministerium in Tschechien mitteilt: "Die Tschechische Rechtsordnung ermöglicht nicht die Rückgabe des konfiszierten Eigentums und auch keine finanzielle Entschädigung für das Eigentum, das der Frau N.N. in Tschechien aufgrund des Dekretes des Präsidenten der tschechischen Republik 108/1945 konfisziert wurde. Dieses Dekret ist weiterhin Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung."

Also: Wenn das amtierende Finanzministerium davon spricht, daß es sich hier um aktuelles geltendes Recht handelt, dann sollten wir Österreicher uns im diplomatischen Gespräch oder als Vertreter der Europäischen Union bei den Erweiterungsverhandlungen nicht damit abspeisen lassen, daß es sich hier ohnedies um totes Recht handelt, das eigentlich niemanden mehr interessiert. Dieses Recht wird bis heute angewandt. Und solang es angewandt wird, ist es Unrecht. Und solang es Unrecht ist, kann nichts Rechtes drauf gedeihen. Das muß die Europäische Union allen klar machen, die zukünftig Mitglieder in einer Friedens- und Freiheitsgemeinschaft Europas sein sollen.

Wir sollten daher auch aus Anlaß dieses Gedenkens deutlich machen, daß, wenn es sich auch um eine kleine Gruppe von Heimatvertriebenen handelt, dieses Thema deshalb nicht unbedeutet ist. Denn was den Sudetendeutschen und anderen heimatvertriebenen Altösterreichern deutscher Muttersprache widerfahren ist, kann überall, auch in Europa, wieder Platz greifen. Es muß einen Maßstab und ein Werturteil bei der Entscheidung von Recht und Unrecht geben, das für alle gleichermaßen Gültigkeit hat.

Wir wollen dieses Gedenken zum Anlaß nehmen, um uns dankbar jener zu erinnern, die das Leben gelassen hatten. Dankbar jener zu erinnern, die aus Liebe zur Heimat auch das höchste Gut, das sie besitzen, hingegeben haben. Es wird wichtig sein, daß dieses Vermächtnis auch in den Köpfen und im Denken der jüngeren Generation unseres Staates verankert ist. Die Tätigkeit der Landsmannschaften und der Heimatvertriebenen-Verbände ist unendlich wichtig. Ich freue mich daher, daß es gelungen ist in den Verhandlungen mit dem Finanzminister sicherzustellen, daß es ab diesem Jahr die Möglichkeit gibt, einen Fonds oder eine Stiftung für die Sudetendeutsche Landsmannschaft einzurichten, die vonseiten der Republik Österreich mit 55 Millionen Schilling und - ich hoffe - vonseiten der Länder mit weiteren 45 Millionen Schilling gespeist wird, damit ihre wichtige Arbeit nicht zuletzt für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes in Europa auch in Österreich erfolgreich weitergeführt werden kann.

Die späte Rechtfertigung
Es wird darüber hinaus erstmals auch im Rahmen einer Kooperation von ORF und SAT 3 eine umfassende Dokumentation über das Schicksal der Altösterreicher nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie geben. Eine Produktion, die im Herbst ausgestrahlt werden wird. Auch sie soll ein Beitrag dazu sein, um vor allem jenen, die mit dieser Zeit bisher wenig anfangen konnten, ein bisschen mehr Verständnis für die Position von Heimatvertriebenen zu übermitteln. Denn natürlich ist es so, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Auf die Dauer wird die Geschichte aber nur Bestand haben, wenn die Wahrheit durchsetzbar ist. Die Wahrheit ist nur dann durchsetzbar, wenn wir auch die Bereitschaft haben, sie weiterzutragen, und auch gegen Widerstände durchzusetzen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts beweist es. Die Kunststaaten, die nicht auf der Grundlage eines freien Selbstbestimmungsrechtes der Völker entstanden waren, sind letztlich auseinander gefallen. Die Tschechoslowakei ebenso wie Jugoslawien, das auch nicht mehr exsistiert. Auch die künstliche Teilung der Welt in Einflußsphären durch die Entscheidung von Jalta zeigt, daß all dies nicht von Dauer und Bestand ist. Gott sei Dank.

Das einzige was dauerhaften Bestand hat, ist das Recht auf Heimat, das die Menschen einfordern. Nämlich jenes Recht auf Heimat, das all denen zugesprochen ist, die Wurzeln in einem Lebensraum haben und die nicht willkürlich durch politische Verhältnisse dieses Rechtes beraubt werden können. Wenn allenfalls eine vielschichtige Gemengelage von Volkstümern, Volksgruppen und Kulturen eine freie, gesicherte Zukunft haben will, dann wird es in erster Linie dieses Recht auf Heimat der Menschen respektieren müssen.

Wenn im 3. Jahrtausend schrittweise dieses Recht auf Heimat zum selbstverständlichen Bestand der völkerrechtlichen Einigung wird, dann haben die Opfer des 4. März 1919 auch ihre späte Rechtfertigung gefunden.

Die Rede hielt Landeshauptmann Dr. Jörg Haider.